Von Ruth aus Beer Sheva kam der Vorschlag, sich unabhängig voneinander mit dem Bericht "Hizbollah and the Lebanese Crisis" der International Crisis Group (ICG) zu beschäftigen und anschließend unsere Einschätzungen zu vergleichen. Hier also mein Kommentar:
Um eines gleich vorweg zu nehmen: Der ICG-Report liefert eine lesenswerte und exzellente Analyse der jüngeren Hizbollah-Geschichte und ihrer gegenwärtigen Lage und Strategie im Libanon. Der 34-seitige Bericht basiert auf Interviews mit Wissenschaftlern, sowie zahlreichen Gesprächen mit Teils hochrangigen Libanesen innerhalb und außerhalb der Organisation.
Seit dem Julikrieg habe sich die Unterstützung der Hizbollah unter den libanesischen Schiiten weiter gefestigt, so die Autoren. Auch unter säkularen Schiiten genieße die Hizbollah breite Sympathien, mittlerweile werde jeder Versuch die Hizbollah zu schwächen als Versuch gesehen die Schiiten in ihrer Gesamtheit zu schwächen. Unter vielen linken Schiiten herrsche mittlerweile der Glaube: "Nur die Hizbollah kann uns schützen".
Vor diesem Hintergrund sei auch der Zweite Libanonkrieg im vergangenen Jahr von Vielen als ein Feldzug verstanden worden, der den Südlibanon von den Schiiten "säubern" sollte. Die israelische Kriegsführung, der viele Zivilisten zum Opfer fielen und die christlichen Dörfer des Südens weitgehend verschonte, hat diesen Eindruck möglicherweise verschärft.
Für ihre These, dass sich die Popularität der Hizbollah in der schiitischen Gemeinschaft verstärkt hat, und bis weit in säkular-orientierte Kreise hineinreicht, liefert der ICG-Report zwar keine empirischen Daten, gleichwohl deckt sich diese Behauptung mit den Erkenntnissen, die ich Anfang des Jahres im Libanon gewinnen konnte.
In gleicher Weise wie das Ansehen der Hizbollah unter den Schiiten zugenommen hat, habe die Popularität unter den anderen Konfessionen des Libanon seit dem Krieg gelitten. So sei es Saad Hariri und seiner Mustaqbal-Bewegung gelungen, praktisch alle sunnitischen Gruppierungen hinter sich zu vereinen, auch jene islamistischen Gruppen, wie die Jamaa Islamiyya, die dem Politiker wegen seiner engen Bindung an die USA anfangs sehr skeptisch gegenüberstanden.
Ob diese Einschätzung in diesem Maße wirklich zutreffend ist, vermag ich nicht zu beurteilen, gleichwohl herrscht seit langem eine große Konkurrenz zwischen den sunnitischen Eliten aus Saida um die Familie Hariri und jenen aus Tripoli. Diese mögen momentan eine Allianz eingehen, ob diese von Dauer sein wird ist fraglich, schon bei der aktuellen Kontroverse um die Präsidentenwahl zeichnet sich jedoch ein Ausscheren des "Tripoli-Blocks" aus dem Hariri-Lager ab.
Sehr interessant sind die Erläuterungen zum Bündnis zwischen der Hizbollah und der christlichen Freien Patriotischen Bewegung (FPM) von Michel Aoun. Der ehemalige General floh 1990 vor den syrischen Truppen ins Pariser Exil und kehrte erst nach dem syrischen Abzug 2005 in den Libanon zurück. Umso überraschender kam dann das im Februar 2006 geschlossene Bündnis zwischen Hizbollah und Aoun, in dem die von Syrien unterstützte Hizbollah einige weit reichende Konzessionen machte.
So wird in dem beschlossenen Memorandum Syrien aufgefordert die Souveränität des Libanon zu achten, also die Grenze beider Staaten zu demarkieren, Aufklärung über das Schicksal libanesischer Gefangener in syrischen Gefängnissen zu liefern, sowie diplomatische Beziehungen zwischen beiden Saaten aufzunehmen. Im Gegenzug erkannte Aoun das Recht des bewaffneten Widerstands gegen Israel an, erfüllte damit also eine der Kernforderungen der Hizbollah.
Gleichwohl bleibt fraglich, wie stabil sich dieses Bündnis erweisen wird, sollte Aoun nicht zum neuen Präsidenten gewählt werden. Bislang hat die Allianz der Hizbollah mehr genützt als Aoun.
Sehr ambivalent schätzt die International Crisis Group die militärische Lage der Hizbollah nach dem Juli-Krieg ein. Auf der einen Seite ist es ein offenes Geheimnis, dass die Hizbollah unter Verletzung der UN-Resolution 1701 ihr Raketenarsenal dank iranischer und syrischer Hilfe längst wieder aufgestock hat. Gleichzeitig wurde ihre Bewegungsfreiheit durch die Stationierung der libanesischen Armee und der Aufstockung der UNIFIL-Truppen südlich des Litani deutlich eingeschränkt. Andererseits macht die Präsenz internationaler Truppen gerade aus europäischen Staaten israelische Angriffe unwahrscheinlicher, sicher somit also die Südflanke der Hizbollah.
Innenpolitisch steht nach Einschätzung der ICG der Fortbestand der Hizbollah als bewaffnete Widerstandsbewegung gegen Israel und amerikanischen Einfluss im Nahen Osten im Mittelpunkt. Hinter diesem Ziel stehen alle anderen hinten an, so etwa die Vertretung der Schiiten im politischen System des Libanon. Gegen diese Einschätzung sprechen meiner Ansicht nach jedoch die elaborierten Wahlprogramme der Hizbollah seit 1996, die teilweise deutlich auf soziale Themen abhoben und zum anderen die Investitionen der Organisation in den Bildungssektor der jungen Schiiten Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der Gesellschaft bieten soll
Eingehend befasst sich der Bericht auch mit der islamischen Identität der Hizbollah. Es wird auf das Gründungsmanifest von 1985 verwiesen, indem im die Bewegung einer Herrschaft der Rechtsgelehrten, wilayat al-faqih, für den Libanon anstrebt. Zurecht wird darauf verwiesen, dass dieser Passus bis heute nicht gestrichen wurde. Dem entgegen stehen jedoch Aussagen des Generalsekretärs Hassan Nasrallah, der die Errichtung eines Staates nach iranischem Vorbild für unmöglich erklärte. Zudem sei an dieser Stelle noch einmal auf die Bündnisse mit nicht-schiitischen Parteien verwiesen, die einen derartigen Schritt mit Vehemenz ablehen würden.
Sehr erhellend sind die Ausführungen zum Verhältnis der Hizbollah zu Iran und Syrien. Natürlich ist die Entstehung einer Bewegung wie der Hizbollah ohne die Islamische Revolution im Iran kaum denkbar gewesen, ebenso profitierte sie von der israelischen Besatzung des Südlibanons die ihre Existenz in den Augen ihrer Anhänger Zug um Zug legitimierte.
Gleichwohl widerspricht die ICG-Analyse zurecht weit verbreiteten Annahmen, die in der Hizbollah eine bloßen Erfüllungsgehilfen Irans sehen. Zwar ist die Verbindung zwischen der Führungsriege der Hizbollah und der iranischen Staatsführung nach wie vor eng, doch sind die Zeiten vorbei, in denen sich Teheran in die inneren Angelegenheiten der Hizbollah aktiv einmischte. Auch ist die Hizbollah dank der Spenden von Auslans-Libanesen nicht mehr in dem Maße von Hilfszahlungen abhängig, wie dies vor einigen Jahren noch der Fall gewesen sein mag.
Die Beziehung zu Syrien ist von Pragmatismus geprägt. Die Hizbollah-Führung ist sich bewusst, dass das säkulare regime in Damaskus weite Teile der Hizbollah-Ideologie ablehnt. Das Baath-Regime strebe jedoch ein Scheitern des Hariri-Tribunals um jeden Preis an und unterstützt daher die Hizbollah als Gegengewicht zur Regierung. Die Hizbollah ist ihrerseits auf Waffenlieferungen von jenseits der syrischen Grenze angewiesen. Iran, Syrien und die Hizbollah haben somit zum Teil unterschiedliche Interessen, momentan ist jedoch jede Partei auf die beiden anderen angewiesen.
Leider nicht beleuchtet wird die Rolle Hassan Nasrallahs durch den ICG-Bericht. Zum einen würde mich interessieren, wie der gestiegenen Personenkult um seine Person im Libanon aufgenommen wird, und welcher Zweck damit verfolgt wird, zum anderen wie dieser innerhalb und außerhalb der schiitischen Konfessionsgruppe im Libanon aufgenommen wird..