Der Kampf um Aleppo tobt mit unverminderter Härte weiter. Doch wie mutierte die Stadt, in der es seit anderthalb Jahren kaum nennenswerte Demonstrationszüge der Zivilbevölkerung gab, zum Zentrum der gewalttätigen Auseinandersetzungen?
Der Kampf um Aleppo unterscheidet sich in vielen Punkten von früheren Schauplätzen gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen der Opposition und dem Regime in Syrien. Er verdeutlicht mehr denn je den Bruch zwischen urbanen und ländlichen oder tribal geprägten Gebieten und offenbart die neue Herangehensweise der bewaffneten Opposition, die unter dem Namen Freie Syrische Armee agiert.
Während sich die Auseinandersetzungen in Homs, Idlib oder Daraa vornehmlich aus einem friedlichen Protest heraus entwickelt haben, um die Bevölkerung vor Ort gegen Übergriffe der Regierungstruppen zu schützen, stellt Aleppo eindeutig ein militärstrategisches Ziel dar. Der Schutz und Wille der Menschen vor Ort ist dabei zweitrangig geworden. So gelten die Bewohner Aleppos zwar keineswegs als ultraloyale Regimeanhänger wie dies etwa in den Küstenregionen der Fall ist, von einer aktiven Unterstützung der Revolution konnte bisher jedoch auch nicht die Rede sein. Trotz massenhafter Facebook- und Twitter-Aufrufe blieben selbst kleinere Proteste in den Randgebieten der Stadt eher eine Ausnahme.
Der Ausbruch der Kämpfe in Aleppo kam daher überraschend und schockiert bis heute viele der Bewohner. Auffallend ist dabei auch, dass selbst nach über einem Monat militärischer Auseinandersetzungen keine nennenswerte Unterstützung der Bevölkerung für die eine oder andere Seite eingesetzt hat. Martin Chulov zitiert dazu in einem Artikel für den Guardian einen Kommandanten der Tawhid-Brigade, der davon ausgeht, dass der Großteil Aleppos auf Seiten des Regimes steht, der Kampf jedoch aus strategischer Sicht geführt werden müsse.
»Die Vorgehensweise der FSA wird von der Bevölkerung in Aleppo abgelehnt«
Hussam aus Aleppo sieht das anders. Doch auch er bestätigt gegenüber alsharq, dass der Einzug der Kämpfer nicht gerade wohlwollend gesehen wird. »Die Anzahl derer, die einen Sturz des Regimes wollen, hat sich seit dem Ausbruch der Kämpfe eher erhöht. Ich glaube, dass inzwischen fast 80 Prozent gegen das Regime sind, zu Anfang der Revolution war es wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte. Allerdings wird die Vorgehensweise der FSA abgelehnt.« Ihm zufolge sind sich die Menschen in Aleppo zwar bewusst, dass die Regimetruppen die Häuser zerstören und für die katastrophale ökonomische Situation verantwortlich sind, gleichzeitig wird den Kämpfern jedoch vorgeworfen, dass ihre Vorgehensweise nicht den Schutz der Zivilbevölkerung zum Ziel hat.
»Die FSA in Aleppo erkämpft Gebiete, kann diese aber nicht vollständig kontrollieren. Sie wissen, dass das Regime zurückschlägt und sie die Zivilbevölkerung nicht ausreichend schützen und versorgen können, machen das aber trotzdem. Natürlich stößt das auf Ablehnung vor Ort. Was bringt es den Menschen, wenn ihre Gebiete ›befreit‹ sind, sie und ihre Familien dort aber nicht mehr sicher leben können«, erklärt Hussam.
Neben den Luftangriffen, denen sich solche Gebiete verstärkt ausgesetzt sehen, bestehen außerdem gravierende Versorgungsengpässe. »Die Preise in ganz Aleppo haben sich seit dem Ausbruch der Kämpfe mindestens verdreifacht. Die umkämpften Gebiete werden jedoch vom Regime dadurch bestraft, dass es gar keine Lieferungen mehr gibt. Die Menschen sind auf sich alleine gestellt und müssen selbst versuchen, irgendwie an lebenswichtige Waren wie Essen oder Gas heranzukommen. Kleinere Verbesserungen, die die FSA durchgesetzt hat, wie zum Beispiel die Normalisierung der Benzinpreise, die von den Tankstellenbesitzern künstlich in die Höhe getrieben wurden fallen dabei kaum auf«, fährt er fort. Die meisten Zivilisten verlassen daher diese Gegenden. Wer Verwandte im Umland hat kommt vorerst bei denen unter, der Rest findet in bislang ruhigen Bezirken Unterschlupf. So werden immer mehr Schulen zu Auffangbecken für Flüchtlinge aus umkämpften Gebieten.
Aktive Unterstützung bekommt die bewaffnete Opposition vor allem aus dem Umland Aleppos
Aber auch in anderen Teilen Aleppos entscheiden sich viele Menschen schon jetzt zur Flucht. »Wer kann, verlässt die Stadt. Der Flughafen war zeitweise total überfüllt – auch mit Menschen, die lediglich darauf hofften, irgendwie noch ein Ticket zu ergattern. Wer Verwandte in anderen Teilen des Landes hat, ist weitergezogen und an der Grenze zur Türkei warten Tausende auf die Fertigstellung eines neuen Flüchtlingslagers. Die Bevölkerung Aleppos hält sich aus dem Konflikt raus und versucht eher, sich und die eigene Familien in Sicherheit zu bringen. Eine aktive Unterstützung erhält die bewaffnete Opposition fast nur von denen, die ursprünglich auch aus dem Umland Aleppos kommen«, sagt Hussam.
Ein baldiges Ende der Auseinandersetzungen in Aleppo sehen dabei wenige. So kontrolliert die FSA zwar weite Gebiete, ist jedoch machtlos gegen die Luftangriffe des Regimes. »Wenn die Kämpfer keine besseren Waffen erhalten, wird es katastrophal weitergehen. Sie werden weitere Gebiete einnehmen, die dann vom Regime beschossen werden. Den Kämpfern ist es egal, ob sie sterben, sie sind gekommen um zu kämpfen«, sagt Hussam und fügt dann noch hinzu: »Die Zivilbevölkerung wurde nicht vor diese Wahl gestellt.«
Aber auch die im Kampf um Aleppo führende Tawhid-Brigade gibt zu, dass bisher kaum Kämpfer oder Unterstützer aus dem Inneren der Stadt gewonnen werden konnten. Sie setzt sich vielmehr aus einem Zusammenschluss bewaffneter Gruppierungen zusammen, die sich im letzten Jahr in den ländlichen Gebieten nördlich von Aleppo gebildet haben und als Freie Syrische Armee dieser Gebiete agieren. Wie auch in vielen anderen Teilen Syriens etablierte sich der bewaffnete Kampf gegen das Regime auch hier aus einer oppositionellen Bevölkerungsstruktur und mit deren Einverständnis heraus.
So bildeten sich mit der Zeit Gruppierungen, deren Ziel es war, eine friedlich demonstrierende Zivilbevölkerung vor Übergriffen des Regimes zu schützen. »Das Regime hat immer wieder nächtliche Razzien durchgeführt und Menschen festgenommen. Dabei handelte es sich meist nicht einmal um Aktivisten oder Demonstranten. Mein Cousin wurde zweimal für jeweils einen Monat ins Gefängnis gesteckt. Dabei war es nicht er, sondern sein Bruder, der gesucht wurde. Das zweite Mal haben sie dann übrigens auch den Vater mitgenommen«, erzählt der aus einem kleinen Städtchen zwischen Aleppo und Idlib stammende Ahmed gegenüber alsharq: »Im Herbst letzten Jahres fingen die Menschen vor Ort dann an, sich zu organisieren und zu bewaffnen, um solch willkürliche Festnahmen zu verhindern.«
»Wo die Polizei fehlt, wird eben die Freie Syrische Armee mit der Schlichtung beauftragt«
Ahmed zufolge haben sich daraus die militärischen Strukturen entwickelt, die inzwischen den Kampf um Aleppo bestimmen. »Zuerst wurden Operationen zur Befreiung meiner Heimatstadt durchgeführt. Danach wurde der Kampf auf nahe gelegene Gebiete ausgeweitet«, erklärt er. Die gezielten Angriffe auf Polizeistationen und Regimestützpunkte sowie ein zunehmender Organisationsgrad der bewaffneten Gruppierungen sollen dann zu der Befreiung eines Großteils der Gebiete geführt haben.
»Im Laufe der Zeit kam es allerdings auch zu Problemen. Manche Gruppierungen haben ihre Waffengewalt genutzt, um den Kampf gegen das Regime auf persönliche Auseinandersetzungen oder zur Profitanreicherung auszuweiten. Um diesen Entwicklungen ein Ende zu setzen, wurde die Tawhid-Brigade gegründet, in der alle kleineren Gruppierungen der Region in einer klar organisierten Struktur zusammengefasst wurden«, sagt Ahmed. Dabei sollen die wichtigsten Führungsrollen weitestgehend mit lokalen, weithin respektierten Persönlichkeiten besetzt worden sein. Die einzelnen Städte oder Dörfer werden dabei von lokalen Kämpfern kontrolliert und nicht von Außenstehenden.
Außerdem bildeten sich auch vermehrt regierungsähnliche Strukturen heraus. So berichtet Ahmed, dass dem Gefängnis in seiner Stadt inzwischen ein rechtssprechendes Komitee vorsteht, dem neben einer religiösen Persönlichkeit auch ein ausgebildeter Jurist angehört. Er geht außerdem davon aus, dass die fehlenden Gehälter für Stadtangestellte, beispielsweise von der Müllabfuhr, den Elektrizitäts- oder Wasserwerken, immer häufiger von der Freien Syrischen Armee bereitgestellt werden, um eine grundlegende Versorgung der Gebiete aufrechtzuerhalten. »In meinem Heimatort waren praktisch alle gegen das Regime, auch die Angestellten der Stadt. Sie haben ihre Arbeit daher auch nach der Befreiung fortgeführt und konnten so zumindest eine grundlegende Versorgung sicherstellen«, erklärt Ahmed.
Aber selbst alltägliche Polizeiaufgaben werden wohl zunehmend übernommen. »In meiner Nachbarschaft kam es zu einem Streit wegen Ruhestörung, bei dem man normalerweise die Polizei gerufen hätte. In diesem Fall wurde eben die Freie Syrische Armee mit der Schlichtung beauftragt«, erzählt er weiter. Wie die Bevölkerung zu den Entwicklungen steht, ist derzeit schwer abzuschätzen. Obwohl sich seiner Meinung nach wohl grundsätzlich ein Großteil immer noch auf Seiten der Opposition positioniert, wird auch vermehrt Unmut über die verschlechterten Lebensbedingungen für Zivilisten laut.
Ein »syrisches Benghazi« in Aleppo ist derzeit mehr als fraglich
Neben tiefgreifenden Preissteigungen und Versorgungsengpässen bei fast allen Gütern haben die Menschen immer noch mit den Angriffen des Regimes zu kämpfen. Selbst in Ahmeds Stadt kommt es inzwischen fast täglich zu einzelnen Raketeneinschlägen, gegen die die Oppositionskräfte machtlos sind. Immer mehr Menschen entscheiden sich daher auch hier für eine Flucht Richtung Türkei.
Gleichzeitig sind aber auch immer mehr junge Männer aus dem Umland Aleppos bereit, sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen. Die Freie Syrische Armee hat inzwischen Trainingslager errichtet, um Ungeübte zu schulen, derzeit fehle es allerdings noch an Waffen. »Es gibt einfach nicht genügend Kalaschnikows. In meiner Stadt warten derzeit knapp 700 Männer darauf, sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen, um in Aleppo mitzuhelfen. Wer schon dort ist, arbeitet in Schichten. Das heißt, die Einheiten in Aleppo wechseln sich ab, kommen immer wieder zu den Stützpunkten in ihren Heimatorten zurück, während andere ihre Posten übernehmen«, berichtet Ahmed.
Insgesamt lassen die Entwicklungen dort jedoch vermuten, dass sich organisatorische Strukturen entwickeln, die auch von der Zivilbevölkerung getragen werden. Ob eine forcierte Übertragung auf Aleppo, wie sie derzeit stattfindet, erfolgreich sein kann, ist jedoch zweifelhaft. So wird die Errichtung eines syrisches Benghazi in Aleppo, das übergeordnete Ziel der Kämpfer, auch davon abhängen, ob die Bevölkerung ihre Stadt als militärischen Ausgangspunkt der Opposition akzeptieren würde. Derzeit ist dies mehr als fraglich.
So haben sich, wie auch in einzelnen Bezirken in Damaskus, zivile Schutzpatrouillen gebildet, die Flüchtlinge zwar aufnehmen und versorgen, grundsätzlich jedoch verhindern wollen, dass Kämpfer in ihre Bezirke kommen. Für Hussam aus Aleppo stellt sich die Frage derzeit gar nicht, da er nicht daran glaubt, dass die Oppositionskämpfer ohne Flugabwehrraketen oder eine Flugverbotszone das Gebiet effektiv sichern können. Und auch Ahmed hofft auf eine entsprechende Unterstützung von Außen, um den Kampf zu einem Abschluss bringen zu können. Für ihn stellt sich der Kampf jedoch eindeutig als richtiger Schritt der Opposition dar, da friedliche Mittel versagt hätten.