Erneut gehen die USA Hinweisen nach, dass im syrischen Bürgerkrieg Chemiewaffen zum Einsatz kamen. Als am 21. August 2013 der Giftgasangriff in der Damaszener Region Ghouta geschah, reagierte die Welt mit Entsetzen. Bis heute ist die genaue Zahl der damaligen Todesopfer nicht bekannt, doch gehen Expert*innen von 1400 bis 1700 getöteten Menschen aus. Noch immer kann niemand mit letzter Sicherheit sagen, ob die Regierungs- oder die Oppositionsseite für den Angriff verantwortlich war. Bekannt ist jedoch die unrühmliche Rolle, die Deutschland bei dem Massaker spielte – eine Rolle, die wohl nicht unerheblich war. Zuher Jazmati resümiert.
Recherchen der Süddeutschen Zeitung und des NDR ergaben, dass deutsche Konzerne in den Jahren 1982 – 1993 sowohl Chemikalien als auch Bauteile, die für den Bau von Chemiewaffenarsenalen relevant sind, nach Syrien geliefert haben. Schon damals regierte in Syrien die autoritäre und diktatorische Ba’ath-Partei unter Aufsicht der Familie Assad, die erst 1982 einen Aufstand gegen ihre Herrschaft in Hama mit äußerster Gewalt niederschlug. Der Bundestagsabgeordnete Jan van Aken (Die Linke) kommentiert die deutschen Lieferungen gegenüber Adopt a Revolution: „Ich finde die Vorstellung unerträglich, dass deutsche Konzerne Chemikalien und Produktionsteile an ein Land geliefert haben, das bekanntermaßen ein heißes Chemiewaffenprogramm betrieben hat.“
Dass Syrien dem Chemiewaffenübereinkommen (CWÜ) nie beigetreten war, wusste selbstverständlich auch die deutsche Bundesregierung. Zudem liegt ihr aktuell die Liste jener deutschen Unternehmen und Einzelpersonen vor, welche die Lieferungen nach Syrien vollzogen haben – sie möchte sie allerdings nicht veröffentlichen. Die Bundesregierung verteidigt die Bauteillieferungen damit, dass sie schon mehrere Jahrzehnte zurücklägen und vor der deutschen Ratifizierung des CWÜ stattfanden. Demnach sollen viele Lieferungen zu einem Zeitpunkt erfolgt sein, als es für diese Güter noch keine Genehmigungspflichten oder sonstige ausfuhrrechtliche Kontrollen gab. Chemische Waffen oder chemische Kampfstoffe seien "zu keinem Zeitpunkt" an Syrien geliefert worden, teilte die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Anfrage der Bundestagsfraktion von Die Linke mit. Sollten diese Lieferungen dennoch nicht rechtmäßig gewesen sein, kann sich die Bundesregierung immer noch auf die Verjährungsfristen im Außenwirtschaftsgesetz berufen und sich derart schützen. Jan van Aken hat daher Strafanzeige wegen Beihilfe zu Kriegsverbrechen und Mord gegen Unbekannt gestellt – diese Straftaten verjähren nämlich nicht.
Bis zuletzt konnte Syrien noch Chemiewaffen produzieren - dank Deutschland
Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), die 2013 den Friedensnobelpreis erhielt, hat kürzlich der Bundesregierung eine Liste mit mehr als 50 deutschen Lieferungen an Syrien im Zeitraum von 1982 – 1993 weitergeleitet. Ermittelt wurden diese Lieferungen im Rahmen der noch laufenden Entsorgung syrischer Chemiewaffenbestände. Die deutschen Lieferungen sollten zum Bau von Vorstoffanlagen dienen, welche für die Herstellung des Nervenkampfstoffes Sarin wichtig sind. Sarin wurde nachweislich 2013 bei dem Massaker in Ghouta verwendet. Bereits seit 1973 arbeitete Syrien am Aufbau einer eigenständigen Chemiewaffenproduktion, um Sarin und Senfgas herzustellen. Durch die Chemieanlagen aus Deutschland konnten bis zuletzt noch chemische Waffen in Syrien produziert werden – auch Sarin. Das syrische Regime selbst gab die deutschen Zulieferungen für das syrische Chemiewaffenprogramm zu, so gelangten die Informationen überhaupt an die OPCW. Dies würde Deutschland tatsächlich zum Mitschuldigen des Anschlages vom 21.08.2013 auf Ghouta machen. Der Bundestagsabgeordnete Omid Nouripour (Bündnis 90/Die Grünen) erklärte im Gespräch mit Adopt a Revolution: „Sollten sich die Vorwürfe der Lieferungen an Syrien bestätigen, ist diese Vorstellung schlicht fürchterlich.“ Das Auswärtige Amt warnte vor voreiligen Schlussfolgerungen. Sprecher Martin Schäfer verwies darauf, dass die Aufklärung schwierig sei, weil die Exporte mehr als zwei Jahrzehnte zurücklägen. Jan van Aken vermutet zudem, dass die Lieferungen von Chemikalien an Syrien nicht mit dem Tode Hafiz al-Assads anno 2000 aufhörten, sondern noch bis in die Ära Bashar al-Assads fortgeführt wurden.
Unternehmen sollen zur Rechenschaft gezogen werden
In den Niederlanden und Frankreich laufen gerade Ermittlungsverfahren gegen Einzelpersonen und Unternehmen, die aufgrund von Lieferungen an das damalige irakische Chemiewaffenprogramm wegen Beihilfe zu Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht werden. Denn Unternehmen, die einen Staat beliefern und diesem helfen, ein letales Chemiewaffenprogramm zu unterhalten, sollten für die Verbrechen auch rechtmäßig bestraft werden. Und Deutschland? „Anscheinend hat Deutschland jedes Mal seine Finger im Spiel, wenn irgendwo auf der Welt Menschen mit Giftgas getötet werden. Das war im Irak so, in Libyen und jetzt in Syrien. Ich finde es beschämend, dass deutsche Firmen offenbar hemmungslos die Giftgasfabriken dieser Welt mitaufgebaut haben“, sagt Jan van Aken. Trotz dieser Machenschaften wurde bisher noch keines der deutschen Unternehmen wegen Beihilfe zu Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen. „Ich finde, dass Unternehmen und Einzelpersonen, die ein Land beliefern, von dem alle wissen, dass es ein Chemiewaffenprogramm unterhält, auch für die Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden müssen, die ebendieses Land mit diesen Massenvernichtungswaffen begeht.“
Nouripour und van Aken fordern daher die Bundesregierung dazu auf, die von der OPCW zusammengestellte Liste deutscher Unternehmen zu veröffentlichen, um so herauszufinden, welche Firmen wann und in welchem Umfang geliefert haben. Doch die Bundesregierung hält diese Informationen weiterhin zurück, zieht sich somit aus der Verantwortung. Zudem fordert Omid Nouripour, dass „die Bundesregierung ihren Beitrag zur Aufklärung leisten und etwa die Frage klären muss, wer die Genehmigungen politisch getragen hat.“
Eine Aufklärung wäre in der Tat dringend notwendig, da nicht nur die Unternehmen im Falle Syriens eine Verantwortung tragen, sondern vor allem auch jene Politiker*innen, die diese Lieferungen einst abgesegnet haben. Daher ist es höchste Zeit für einen Untersuchungsausschuss, der die deutschen Lieferungen an Syrien genau überprüft. Folgende Sachverhalte sollten Gegenstand des Ausschusses sein: Inwiefern und in welchem Ausmaß Deutschland tatsächlich für das Massaker in Ghouta verantwortlich war – und welche Konsequenzen daraus gezogen werden sollten. Es ist das Mindeste, was die Bundesregierung den Menschen in Syrien schuldig ist. Denn schon wieder – muss man konstatieren – kann die syrische Bevölkerung von einem Versagen des Westens sprechen.
Dieser Artikel erschien ursprünglich am 9. April 2014 bei Adopt a Revolution und ist hier nachzulesen.