24.02.2024
Der Einsatz vermeintlicher Familienwerte gegen „Queerness“
Mit dem weltweiten Erstarken der extremen Rechten verbreiten sich auch queerfeindliche Ideen wie ein Lauffeuer. Grafik: Zaide Kutay.
Mit dem weltweiten Erstarken der extremen Rechten verbreiten sich auch queerfeindliche Ideen wie ein Lauffeuer. Grafik: Zaide Kutay.

Jährliche Pride-Paraden oder internationale Feiertage gegen Homo- Bi, Inter- und Transfeindlichkeit finden weltweit Anklang. Unter dem Deckmantel einer liberalen Gesellschaft existieren queerfeindliche Strukturen weiter, schreibt Musa Shadeedi.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Mit dem weltweiten Erstarken der extremen Rechten verbreiten sich auch queerfeindliche Ideen wie ein Lauffeuer. Zeitgleich müssen wir zusehen, wie Politiker:innen als vermeintliche Verfechter:innen einer gerechteren Gesellschaft den Schutz queerer Menschenals Rechtfertigung für eine einwanderungsfeindliche, rassistische und kriegstreibende Politik nutzen. Im Umkehrschluss lösen sie vor allem eines aus: mehr Queerfeindlichkeit.

Als queerer Autor und Forscher im sogenannten „Nahen Osten“ habe ich 2023 regionale, organisierte Angriffe auf „Queerness“ zum ersten Mal hautnah miterlebt. Ein queerer Blogger wurde in Bagdad ermordet, während das irakische Parlament über ein Gesetz diskutiert, das Homosexualität mit Hinrichtung bestraft. Ein Protest für Freiheit und eine starke Zivilgesellschaft wurde in Beirut von einer Gruppe von Menschen brutal angegriffen, während das libanesische Parlament über die Kriminalisierung von Veranstaltungen zur Unterstützung von queeren Menschen in der Öffentlichkeit diskutierte, und in Amman wurde in den Medien die Verbrennung von queeren Menschen gefordert, während ein Mitglied des jordanischen Parlaments forderte, die Veröffentlichung der Regenbogenflagge im Internet zu kriminalisieren. All dies geschah in weniger als zwei Monaten. All dies passiert großflächiger, weil wir vernetzter sind als zuvor. Wir erleben eine Ländergrenzen überschreitende Anti-Queer-Kampagne, wie es sie in der Region noch nie gegeben hat. Sie alle einen sogenannte Familienwerte.

Was sind Familienwerte?

Im Jahr 2009 nahm Papst Benedikt XVI. an einer Kundgebung zum Thema „Familienwerte“ vor Tausenden von Katholik:innen in Madrid teil und erklärte, dass die Familie „auf der Ehe zwischen einem Mann und einer Frau gegründet ist". In den folgenden Jahren kam es in westlichen Ländern zu zahlreichen Kundgebungen und Protestaktionen mit der Botschaft, Familienwerte zu schützen.

Mehr als 100.000 Menschen protestierten 2014 gegen ein Gesetz zur „Homo-Ehe“ in Frankreich, hielten blaue-und rosafarbene Fahnen in die Höhe als Zeichen der angeblichen Geschlechterbinarität, und warfen der Regierung „Familienphobie“ vor. Protestierende standen mit ihren Kindern in der vorderstern Reihe, einige von ihnen schoben Kleinkinder in Kinderwägen, ohne Angst vor einer gewaltsamen Konfrontation mit der Polizei.

Im Jahr 2016 versammelten sich Zehntausende von Italiener:innen in Rom zu einer Massenkundgebung unter dem Motto „Tag der Familie“, im Protest gegen ein Gesetz, das queeren Paaren die rechtliche Anerkennung und das Adoptionsrecht verspricht.

Im Jahr 2022, nur eine Woche vor der Europride in Belgrad, marschierten tausende von christlich-religiösen und rechtsgerichtete Aktivist:innen für „Ehe und Familie“ und forderten die Behörden auf, die Europride zu verbieten. Sie wurde schließlich abgesagt.

2023 erreichten diese Kundgebungen für „Familienwerte“ auch Westasien und Nordafrika. Im Juni nahmen Hunderte von Israelis an einer Kundgebung zur Förderung traditioneller Familienwerte teil, die in Mitzpe Ramon, einem der LGBTQI* Zentren Israels, im Vorfeld der Pride Parade. Die Veranstaltung startete mit einer Fahrradparade, die von Kindern der Gemeinde angeführt wurde. Anschließend erklärte Rabbiner Zvi Kostiner, Leiter der Hesder-Jeschiwa in Mitzpe Ramon, „dass die Heiligkeit der Familie möglich ist. Sie ist möglich! Die ganze Menschheit bedeutet Familie. Das Volk Israel ist mehr als das: Ehre deinen Vater und deine Mutter“. Gemeint war die heterosexuelle Kernfamilie.

Einen Monat später, im Juli, führte eine libanesische islamistische Organisation Proteste gegen Homosexualität im Libanon an. Junge Schüler:innen hielten anti-queere Transparente in die Höhe, zu lesen war etwa: „Sexuelle Trennung zerstört die Familie“. Wenige Tage später hielt Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der Hisbollah, eine Rede, in der er Queerness mit demselben Argument angriff: „Nicht heterosexuelle Familienkonstellation seien gefährlich;, zwei Männer oder zwei Frauen bildenkeine Familie“, und forderte seine Anhänger:innen auf, „mit allen wirksamen Mitteln dagegen vorzugehen“.

Koranverse werden aus ihrem Kontext gerissen

Im Laufe desselben Monats lösten die Anhänger der jordanischen Muslimbruderschaft unter dem Hashtag „Fitrah“ einen Shitstorm aus: Bilder von Kernfamilien und brennenden Regenbogenflaggen gingen durchs Netz. „Fitrah“ ist ein Begriff, der im Koran erwähnt wird, aber nichts mit Sexualität zu tun hat, sondern den inneren Instinkt meint, dem Islam als Religion zu folgen.

Der „Fitrah“-Begriff wird schon lange von radikalen islamistischen Kräften aus seinem Kontext gerissen und mit einer vermeintlichen Idee von „Natürlichkeit“ besetzt: ein Konzept, das in der Nahda-Ära in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die arabischsprachige Kultur Einzug hielt, zusammen mit zahlreichen westeuropäischen wissenschaftlichen, insbesondere psychologischen Konzepten, von der sich die arabische Elite aus dem Westen inspirieren ließ.

Im September 2023 wurden fast einhundert jordanische Schüler:innen von ihrer Schule zu einer Protestaktion ermutigt, bei der sie vor der Bildungsdirektion „Nein zu sexueller Perversion“ skandierten und forderten, ihren schwulen Mitschüler von der Schule zu verweisen. Einige Tage später meldete sich die Mutter eines Schülers derselben Schule in einer Radiosendung zu Wort und erklärte, der schwule Schüler habe versucht, die Schüler seiner Klasse davon zu überzeugen, mit ihm „Homosexualität zu praktizieren“.

Bei all diesen Protesten werden Argumente der westlichen Familienpolitik angeführt und auch Kinder  instrumentalisiert, um Queerfeindlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Wie kam es zu einem Überschwappen von  Narrativen aus islamfeindlichen rechten Kreisen in Europa und den USA auf konservative islamistische Gruppen und Parteien in WANA?

Ein Blick durch die dekoloniale islamische Brille

Seth Dowland erklärt, dass sogenannte Familienpolitik in den Vereinigten Staaten im Laufe der 1970er-Jahre entstand, als eine kleine Gruppe evangelikaler Geistlicher eine politische Philosophie formulierte, die die Verteidigung der „traditionellen Familie“ mit der Ablehnung von Abtreibung, Feminismus und Homosexuellenrechten verband. Die Anführer der christlichen Rechten definierte traditionelle Familien als solche mit zwei heterosexuellen Elternteilen, in denen der Ehemann das Familienoberhaupt und vorzugsweise der Hauptverdiener ist. Wenn sie „Familie“ sagen, meinen sie das moderne westlich-zentrierte christliche Konzept der „Kernfamilie“, und nicht die vielfältigen Verwandtschaftssysteme, Stammes- oder Großfamilien, die lange vor der Moderne in verschiedenen menschlichen Kulturen und Gesellschaften existierten. Wie hat sich also die Idee der Kernfamilie weltweit verbreiten können?

Als Beispiel nennt sie eine in den USA ansässige evangelikale parakirchliche Organisation namens „Focus on the Family“, die Niederlassungen in 13 weiteren Ländern in Asien, Lateinamerika, Europa,  WANA und Afrika unterhält. Sie betrachten Homosexualität als „die besonders böse Lüge Satans“ und haben „einen unerschütterlichen Verbündeten in Präsident Donald Trump“, wie Vizepräsident Mike Pence 2017 öffentlich bekräftigte.

Der Weltkongress der Familien (World Congress of Families, WCF), ein Projekt des in Illinois ansässigen Howard Centre for Family, Religion and Society, wurde 1997 als Initiative gegründet, um sich gegen Scheidung, Geburtenkontrolle, gleichgeschlechtliche Ehe, Pornografie und Abtreibung auszusprechen und gleichzeitig eine Gesellschaft zu unterstützen, die auf der „freiwilligen Vereinigung eines Mannes und einer Frau in einem lebenslangen Bund der Ehe" aufbaut, und um weltweit Konservative zusammenzubringen, die „Familienwerte“ auf nationaler und internationaler politischer Ebene fördern können.

Muslimische Gemeinschaften hingegen folgten einem Stammessystem, in dem die Zusammensetzung der Familien fließend war, Scheidungen leicht möglich waren und Männer bis zu vier Frauen heiraten konnten. Die weiblichen Anhängerinnen des Propheten, die als „Sahabiat“ bekannt sind, waren in ihren Gepflogenheiten flexibel. Sie ließen sich scheiden und heirateten wieder, ohne verurteilt zu werden. Große Teile der muslimischen Welt teilten nicht die Panik der Aufrechterhaltung der „Kernfamilienwerte“, die islamischen Prinzipien widersprechen.

Trotz ihrer Geschichte greifen die „Fitrah“-Kampagne und die Regierungen Westasiens und Nordafrikas vermeintliche Werte der Idee einer „Kernfamilie“ auf. Sie verwenden das koloniale, nicht-islamische Konzept der „Werte der Kernfamilie“, um Queerness zu unterdrücken.

Es ist nicht das erste Mal, dass muslimische Gesellschaften ein westliches Konzept gegen „Queerness“ verwenden und es mit islamischen Werten in Einklang bringen. Die Gesetze, die Homosexualität in WANA kriminalisieren, stammen nicht aus dem Islam, sondern wurden von den ehemaligen britischen und französischen Kolonialmächten erlassen. Eine interessante Studie zeigt, dass 57 Prozent der Staaten mit einem Gesetz zur Kriminalisierung von Homosexualität einen britischen Kolonialgeschichte haben.  Fast 70 Prozent der Staaten mit britischem Kolonialgeschichte kriminalisieren nach wie vor homosexuelles Verhalten.

Ein Bericht des Institute for Journalism and Social Change (IJSC) ermittelte eine schwindelerregende Zahl von Verbindungen zwischen Anti-LGBTQ+-Organisationen in Uganda und internationalen Hilfsorganisationen, darunter Großbritannien. Mithilfe von Spendengeldern werden queerfeindliche politische Gruppierungen auf der gesamten Welt unterstützt.

Wir erleben eine Globalisierung der traditionellen „Familienwerte“, die ihren Ursprung im christlichen Konzept westlicher Länder hat. Politiker:innen und Kampagnen nutzen diese vermeintlich traditionellen Werte der „natürlichen“ Familie, um gegen queere Menschen zu hetzen. Es handelt sich dabei um gut vernetzte Organisationen, wie Kirchen und Parteien, teilweise untersützt von Regierungen im Westen, die ihre Ideologie einer universellen Familie weltweit propagieren. Wichtig ist den Ursprung dieser Bewegung und Einfluss in der Verbreitung von Hass gegen queere Menschen zu erkennen.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

 

 

 

Musa Shadeedi ist ein irakischer Schriftsteller und Forscher, der einen islamischen, antikolonialen Ansatz bei der Untersuchung des sexuellen Begehrens in der Geschichte und Politik des "Nahen Ostens" verfolgt. Er hat vier Bücher veröffentlicht: „The day we never had a father" (2016), „Non-normativ sexuality in Arabic cinema" (2018), „Oum Kalthoum...
Redigiert von Sophie Romy, Regina Gennrich
Übersetzt von Sophie Romy