27.08.2020
Der Militärstaat und die Jugend
Die Armee hat in Ägypten die politische und ökonomische Macht fest im Griff. Foto: Flickr-S.C. Air National Guard. No Copyright
Die Armee hat in Ägypten die politische und ökonomische Macht fest im Griff. Foto: Flickr-S.C. Air National Guard. No Copyright

Die Armee hat in Ägypten die politische und ökonomische Macht fest im Griff - und sie legt unmittelbar Hand an das Leben insbesondere der männlichen Jugend. Dafür erntet sie vor allem eins: Wut.

Vor rund einem Monat beschloss das ägyptische Parlament die Entsendung von Truppen ins Nachbarland Libyen, womit Kairo nun scheinbar direkt in den Stellvertreterkonflikt im Nachbarland eingreifen will. Diese Entscheidung markiert nicht nur einen Wendepunkt in der ägyptischen Außenpolitik der letzten Jahrzehnte. Sie betrifft vor allem auch Millionen junge Ägypter, die aktuell und in der kommenden Zeit ihren Dienst in der Armee ableisten müssen.

Seit 1952 gilt die Wehrpflicht ausnahmslos für alle volljährigen Männer - Frauen dagegen ist der Weg in die Streitkräfte versperrt. Damals hatten die „Freien Offiziere“ König Faruk aus dem Amt gejagt; bald darauf kam Gamal Abdel Nasser an die Macht. Genoss er neben dem Rückhalt in der Armee vor allem auch in der breiten Bevölkerung hohe Popularität, stützte sich das Regime unter seinen Nachfolgern Anwar as-Sadat und Hosni Mubarak fast nur noch auf das Militär. Das gilt umso mehr für den aktuellen Machthaber Abdel Fattah al-Sisi, der 2014 vor seiner Präsidentschaft pro forma das Amt als Armeechef niedergelegt hatte.

Entsprechend sind Männer in Uniform omnipräsent in Ägypten: Vor nahezu jedem Staats- und Regierungsgebäude und vor jeder Kirche stehen Soldaten, in jeder U-Bahn trifft man junge Männer in Kampfmontur; wer auf die Sinai-Halbinsel will, wird unter einem riesigen Plakat des Militärs, das verkündet, man befinde sich gerade auf dem „Land des Friedens und der Sicherheit“, von Infanteristen gefilzt, während im Wachturm über einem Schützen mit Waffen im Anschlag hocken.

Absolutes Machtmonopol

Ähnlich wie in Syrien und Irak unter der Baath-Partei oder in der kemalistischen Türkei, hält die Armee die politische, ökonomische und natürlich die militärische Macht in den Händen. Abgesehen von dem 2012 gewählten und im folgenden Jahr gestürzten Mohammed Mursi, waren sämtliche Staatschefs seit Republikgründung hochrangige Armeeangehörige.

Die Militärs eigneten sich zudem sowohl während der „sozialistischen“ Verstaatlichungsmaßnahmen unter Nasser, als auch in der Phase der Infitah-Politik unter seinem Nachfolger Sadat Land und Unternehmen an. Die Armee ist heute sowohl in der militärischen als auch in Teilen der Lebensmittel- und Energieproduktion, im Bau- und im Infrastrukturgewerbe führend, nicht zuletzt wegen ihrer Ausbeutungsmöglichkeiten. Schätzungen zufolge arbeiten ständig 100.000 Wehrdienstleistende in den Betrieben des Militärs, womit sie die Mehrheit der Beschäftigen stellen.

Das liegt daran, dass die Armee mit der Wehrpflicht Zugriff auf die gesamte männliche Bevölkerung hat, und das in einem Land, das bald offiziell mehr als 100 Millionen Einwohner*innen hat, das weiter rasant wächst und dessen Altersdurchschnitt bei unter 25 Jahren liegt. Mit um die 920.000 Soldaten - etwa 440.000 Hauptamtlichen und rund einer halben Million Reservisten - hat Ägypten eine der zehn größten Armeen weltweit; hinzu kommen noch paramilitärische Verbände.

Alle Männer müssen den Dienst vor ihrem 30. Geburtstag absolvieren. Ausnahmen gelten beispielsweise für junge Männer, deren Väter verstorben sind und die deshalb als Haupternährer der Familie gelten, ein Recht auf Verweigerung jedoch gibt es nicht. In den letzten Jahren gab es weniger als ein Dutzend Fälle, in denen Betroffene den Dienst an der Waffe aus ethischen Gründen zurückwiesen, die allesamt mit Repressionen beantwortet wurden. Dafür wird viel herumgetrickst, um bei der Musterung durchzufallen.

Vor 1952 konnten sich die Söhne der Reichen und Mächtigen zunächst noch vom Dienst loskaufen. Unter den „Freien Offizieren“ wurde dieses offensichtliche Privileg abgeschafft. Allerdings bestehen solche Ungleichbehandlungen heute in anderer Weise fort. So müssen etwa Hochschulabsolventen meist nur 12 Monate ableisten, während Reservisten mit niedrigem oder ohne Abschluss häufig bis zu drei Jahre eingezogen werden. Darüber hinaus hängt die Länge des Dienstes und der Ort, an den man geschickt wird, als auch die Art der zu leistenden Arbeit stark von Kontakten nach oben ab - wodurch die Sprösslinge der Elite wieder Vorteile genießen.

Kämpfen für wen?

Aktiv ist Ägyptens Armee vor allem innerhalb der eigenen Grenzen, wo sie staatliche Einrichtungen, kritische Infrastruktur, Kirchen und öffentliche Plätze bewacht. Doch erst wenn es um die Machtfrage geht, zeigt sie ihre ganze Stärke. Das stellte sie in der Zeit nach 2011 unter Beweis: Hatte sie sich während des „Arabischen Frühlings“ noch zurückgehalten und Mubarak fallen lassen, nutzte sie 2013 erneute Proteste, um den ersten frei gewählten Präsidenten und Muslimbruder Muhammed Mursi zu stürzen, die Macht wieder ganz an sich zu reißen und die demokratischen Spielereien zu beenden.

Mursis Anhänger*innen wurden damals zu hunderten massakriert, eingesperrt oder in den Untergrund getrieben. Seither haben die Menschenrechtsverletzungen des Regimes ganz neue Dimensionen erreicht und die Armee führt auf dem Sinai einen Krieg gegen die dorthin vertriebenen Islamistin*innen sowie gegen Al-Qaida- und IS-Ableger.

Aber auch im regionalen Ausland mischt Ägyptens Armee mittlerweile wieder mit, nachdem man sich seit dem Oktoberkrieg 1973 in der Außenpolitik militärisch weitgehend zurückgehalten hatte. Während Nasser in den 1960er Jahren im Jemen nationalistische Kräfte gegen die von Saudi Arabien protegierten Monarchist*innen unterstützt hatte, steht Kairo im aktuellen Jemenkrieg auf Seiten Riads und der anderen Golfmonarchien. Nicht bestätigten Meldungen zufolge soll das Regime zu Beginn des Krieges mehrere Hundert Kämpfer entsandt haben. Angesichts des seit 2015 ausbleibenden Sieges jedoch versucht Ägypten mittlerweile, ähnlich wie Marokko und Bahrain, sich teilweise aus dem bewaffneten Konflikt herauszuziehen und beschränkt sich angeblich auf logistische Unterstützung.

Anders sieht es im Falle Libyens aus. Bislang hatte sich Kairo auf die Unterstützung General Haftars beschränkt. Nachdem aber die sogenannte international anerkannte Regierung der Nationalen Einheit (GNA) mit direkter türkischer Militärhilfe den Vormarsch Haftars auf Tripolis gestoppt und ihrerseits eine Gegenoffensive gestartet hatte, zog Ägypten eine rote Linie: Sollten Haftars Kämpfer aus der geostrategisch wichtigen Stadt Sirte südöstlich von Tripolis vertrieben werden, werde man intervenieren.

Angesichts der militärischen Vorbereitungen zur Übernahme der Stadt durch die GNA und die Türkei, hat das Regime Ende Juli schon einmal Rückendeckung durch das Parlament versichert, um jeder Zeit eingreifen zu können. Die aus dieser Drohung entstandene Pattsituation hat nach einem Monat des angespannten Abwartens und Verhandelns nun offenbar zu einem Waffenstillstand geführt. Wie lange dieser hält, wird sich zeigen, eine ägyptische Intervention ist also noch nicht vom Tisch.

Während die Teilnahme Ägyptens am Jemenkrieg unter der ägyptischen Bevölkerung kaum bekannt ist, verstärkt eine drohende direkte Beteiligung am Krieg in Libyen die Wut unter den Jugendlichen. Hassan*, ein junger Mann aus Kairo, der im Oktober zum Dienst antreten muss, sagt: „Wenn ich da oben jemanden kenne, dann werde ich an einen ruhigen Ort verlegt. Wenn aber nicht, dann muss ich auf den Sinai oder nach Libyen.“ Er versuche jetzt noch schnell, „jemanden kennenzulernen“, fügt er ironisch hinzu. Mahmoud, der ebenfalls in Kürze eingezogen wird, sagt: „Ich habe überhaupt keine Ahnung, was da drüben abgeht. Aber wenn die sagen, ich muss hin und kämpfen, bleibt mir keine Wahl.“

Krisen und Wut

Während Kairo außenpolitisch in die Offensive geht, sieht es innenpolitisch alles andere als blendend aus, und auch in diesem Fall sind die jungen Leute wieder besonders betroffen. So ist die Jugendarbeitslosigkeit seit 2015 zwar gesunken, sie lag 2019 aber immer noch bei 31 Prozent. Corona hat die Wirtschaft zudem hart getroffen. So schrammt das Land laut Schätzungen zwar knapp an einer Rezession vorbei, das prognostizierte Wirtschaftswachstum von sechs Prozent sinkt aber auf zwei bis 0,5 Prozent bei einem ungebremsten Bevölkerungswachstum von zwei Prozent.

Aus der prekären Lage vieler junger Männer ergibt sich schon länger eine weitere Art Krise, eine der Familie und der Sexualität. Voreheliche Beziehungen sind sozial geächtet und können auch staatliche Repression nach sich ziehen. Da vom Bräutigam meist erwartet wird, dass er eine Eigentumswohnung mit in die Ehe bringt, und die Preise für Wohnraum in den Metropolen seit Jahren rasant steigen, müssen die jungen Männer oft jahrelang auf eine solche hin sparen. Die Frustration darüber wird noch dadurch verstärkt, dass der Wehrdienst extrem schlecht bezahlt wird: 250 bis 300 Ägyptische Pfund, umgerechnet rund 15 Euro, erhalten die Rekruten pro Monat. Das reicht auch in einem Land wie Ägypten, wo der durchschnittliche Monatslohn bei 200 Euro liegt, bei weitem nicht. „Die klauen mir zwei bis drei Jahre meines Lebens“ ist entsprechend ein viel geäußerter Satz, wenn man junge Ägypter nach ihrer Meinung über die Armee fragt.

Kein Wunder also, dass die Wut der Jugend auf die Herrschenden groß ist. Man spürt sie in vielen Gesprächen, die sich politischen Themen zuwenden - so selten das angesichts der verbreiteten Resignation der Fall ist. Sie richtet sich gegen die als korrupt geltende Polizei, gegen Beamte, gegen die Institution der Armee und gegen Machthaber al-Sisi persönlich. Darum war es zwar unerwartet, aber nicht völlig überraschend, als im Herbst 2019 plötzlich wieder tausende, vor allem junge Menschen ihre Angst überwanden und mehrere Wochen lang gegen das Regime auf die Straße gingen.

Stabilität und Angst

Es kam damals auch zu Demonstrationen für die Regierung. Nicht wenige Leute stehen aus pragmatischeren Gründen hinter dem Regime, das sie als Stabilitätsgaranten angesichts drohender Revolutionen und Bürgerkriege sehen. Dabei handelt es sich häufig um ältere Menschen, was neben den bestehenden tiefen politisch-ökonomischen und ideologischen Gräben in der Gesellschaft auch auf einen gewissen Generationenkonflikt hindeutet. So äußern sich Jugendliche, die auf das Regime schimpfen, oft auch frustriert über ihre eigenen Eltern. Ihnen werfen sie vor, aus Angst in Opportunismus zu verfallen und sich hinter dem Regime zu stellen, selbst wenn sie selbst weder von diesem profitieren, noch den ideologischen Background teilen.

Es gibt jedoch auch eingefleischte Anhänger*innen des Militärs - meist Teile der Staatsklasse und andere Profiteur*innen des Wirtschaftssystems, aber auch säkulare Hardliner*innen und überzeugte Gegner*innen des politischen Islam.

Seit Jahren gibt es zudem Stimmen, die das Recht oder gar die Pflicht für Frauen fordern, in der Armee zu dienen. Hassan, der aus ärmeren Verhältnissen stammt, hält das für ein Luxusproblem: „Wenn sie es sich leisten können, praktisch für umsonst zu schuften und ihr Leben zu riskieren, dann sollen sie es tun. Aber was das mit Gleichberechtigung zu tun haben soll, weiß ich nicht.“ Auch Miriam zeigt wenig Verständnis: „Ich bin einfach froh, dass ich nach der Schule direkt mit meinem Studium anfangen konnte. Jetzt hoffe ich, dass ich nach meinem Abschluss schnell einen guten Job finde“, erklärt sie. Bei dem Gedanken, stattdessen zunächst ein Jahr zur Armee zu gehen, scheint sie dagegen alles andere als begeistert.

* Alle Namen wurden aus Sicherheitsgründen geändert.

 

 

Leon studiert Geschichte und Orientalistik/Islamwissenschaft an der Ruhr-Uni Bochum mit den Schwerpunkten Politik und Neuere und Neueste Geschichte. Bislang besuchte er Ägypten, die Türkei, Iran, Israel, Palästina und Oman.
Redigiert von Henriette Raddatz