Der Sudan lehnt sich auf. Viele haben diesen kurzen Satz in den vergangenen Jahren oft gehört. Tatsächlich aber hat der Sudan nie aufgehört sich aufzulehnen – nicht seit dem Coup im Juni 1989, der die regierende Partei National Islamic Front (später National Congress Party, NCP) und den derzeitigen Präsidenten Omar El Bashir an die Macht gebracht hat. Von Amgad Fareid Eltayeb
Der politische Kampf gegen die Diktatur von Bashirs islamischem Regime hat keinen Tag lang geruht. Das Regime nutzt weiterhin seinen tyrannischen Sicherheitsapparat um den Kampf zu ersticken, was den Bürgerkrieg im Süden anheizte und dazu beitrug, dass die einzige Lösung letztendlich in der Abspaltung des Südsudans bestand. Dies wiederum führte zu Krieg im Süden des nord-sudanesischen Landes und einem weiteren Bürgerkrieg in der westlichen Region Darfur.
Diese Bürgerkriege waren Schauplätze erschreckender Gewalt gegen Zivilist*innen, darunter sexuelle Missbrauchsfälle in Darfur, das Abbrennen und die willkührliche Bombardierung einzelner Dörfer, sowie die Vertreibung Millionen sudanesischer Staatsbürger*innen. Eine sehr lange Liste mit Kriegsverbrechen brachte Bashir die Ehre ein, als erster amtierender Präsident per Haftbefehl vom Internationalen Strafgerichtshof gesucht zu werden.
Außer diesen Kriegsverbrechen waren die ländlichen Regionen Sudans einer Bandbreite von Menschenverletzungen ausgesetzt. Der Gestapo-artige National Intelligence and Security Service (NISS) der regierenden National Congress Party (NCP) wurde zu einem furchterregenden politischen Terrorinstrument. Seine großen Behörden mit straffreien Agenten nutzt Bashirs Regime, um politische Gegner*innen zu entführen, sie zu inhaftieren, zu foltern, zu ermorden. Wie zu erwarten war, ging diese völlige Abwesenheit von Rechtstaatlichkeit mit der Ausbreitung von Korruption im Sudan einher.
Heute, im Jahr 2018, haben die Demonstrierenden, die die Straßen verschiedener sudanesischer Städte stürmten eine klare Sicht auf die Dinge. Die Proteste begannen am 19. Dezember in Atbara, einer Stadt, die für die Geschichte ihrer Arbeiterbewegungen bekannt ist. An jenem Tag gab es auch in anderen Städten Proteste: Gedaref, Nuhod und Port Sudan, letzteres erwartete zeitgleich den Besuch von Präsident Bashir. Am folgenden Tag weiteten sich die Demonstrationen auf andere Städte aus: Dongola, Barbar, Sennar, El Obeid und die Hauptstadt Khartum. Am dritten Tag hatten sich die Proteste bereits fast auf alle Regionen Sudans ausgeweitet.
In den meisten Städten marschierten die demonstrierenden Bürger*innen gemeinsam, mit dem Ziel die Gebäude der NCP niederzubrennen. Die Parteizentralen waren nicht nur Symbole der Tyrannei und Diktatur, sondern auch kleptokratische Symbole der großen Korruption, die den Sudan durchtränkt.
Keine wirtschaftlichen Lösungen für eine politische Krise
Die Demonstrierenden eroberten die Straßen getrieben von den schwierigen Lebensbedingungen und der Wirtschaftskrise: Die Inflation erreichte 160%, die lokale Währung kollabierte und die Preise von Basisgütern stiegen rasant, verschärft durch die fehlende Liquidität in Banken und dem Markt. Jedoch war dies in erster Linie Symptom einer politischen Krise.
Die Korruption auf den Korridoren des Staates ist unmittelbar mit den Staatschefs verbunden, ihr Ausmaß und Größe sind direkt proportional mit der Steigung der Machthierarchie. Hinter den zahlreichen Korruptionsfällen, die die sudanesische Wirtschaft signifikant beeinträchtigen, stehen hochranginge Entscheidungsträger, die selbst im gesetzlosen Staat Sudan noch über dem Gesetz stehen.
Die strukturelle Deformierung der sudanesischen Wirtschaft ist das Erbe der Unabhängigkeit. Das zeigt sich darin, dass sie auf Exporten basiert anstatt auf Produktion. Diese wurde durch die Dutch Disease in den Jahren der Ölexporte 1998-2011 verstärkt, der „Abhängigkeit vom Rohstoffexport bei Vernachlässigung anderer Wirtschaftssektoren“. Entsprechend traf die sudanesische Wirtschaft nach der Unabhängigkeit des ölreichen Südsudan ein schwerer Schock.
Die aktuelle Wirtschaftskrise ist jedoch anders. Die bestehenden wirtschaftlichen Unsicherheiten haben geldhungrige Narzissten unter jenen mit eingeschränkter Macht und Autorität im Sudan hervorgebracht, die so viel Vermögen und Geld wie möglich anhäufen wollen, um ihre Privilegien zu erhalten.
Der derzeitige Mangel an Liquidität verschärfte sich auch durch Spekulationen auf Wechselkurse und das Horten von Bargeld durch Entscheidungsträger, was Premierminister Moataz Mousa öffentlich ansprach. Es ist offensichtlich geworden, dass die Krise politischer Natur ist.
Korruption im Banksektor, falsche Kredite und Investitionsdarlehen, leitenden Mitgliedern der regierenden Partei ohne angemessene Sicherheiten und Verzinsung gegeben wurden, sowie andere korrupte Praktiken haben zu einem Vertrauensverlust der Bürger*innen in das Banksystem geführt. Dazu haben auch die kurzsichtigen Entscheidungen der Regierung zum Umgang mit der mangelnden Liquidität beigetragen, so wurde beispielsweise ein sehr niedriges Abhebungslimit für private Bankkonten festgelegt. Die Beträge sind nicht ausreichend für den alltäglichen Bedarf, insbesondere in Anbetracht des rapiden Preisanstiegs. Daher lagern viele Menschen ihr Geld zuhause und nicht bei der Bank, was die Liquidität weiter mindert und korrupte Währungsspekulationen verschärft.
Entscheidungsträger, die Immunität genießen, wie Familienangehörige des Präsidenten (was den Premierminister selbst einschließt, der ein Cousin des Präsidenten ist), führende Mitglieder der regierenden Partei und hochrangige Politiker nutzen diese Praktiken um ihren sozialen Status zu verbessern und sich vor Veränderungen in der sehr volatilen politischen Lage zu schützen. Sie ignorieren die Tatsache, dass sie die Lage verschlechtern und die Wahrscheinlichkeit von Umbrüchen verstärken, da sich durch ihr Handeln das Leid der Bevölkerung verschlimmert – ein typisches narzisstisches Verhalten.
Die Antikorruptions-Maßnahmen und Slogans sind ein Teil des Wettkampfes zwischen den Großen des Regimes geworden und haben sich in keiner Weise positiv auf die sudanesische Wirtschaft ausgewirkt. Die Aussagen und Tweets des neuen Premierministers (Moataz Moussa ist Twitter sehr zugeneigt, in einer Donald-Trump-artigen Weise) sind somit eine absurde Farce, in der er versucht, wirtschaftliche Lösungen für ein Problem vorzuschlagen, von dem jeder weiß, dass es politischer Natur ist.
Keine Lösungen für die Bürgerkriege, viel Geld für den Sicherheitsapparat
Im Übrigen tut sich das Regime nichts Gutes mit seiner Widerspenstigkeit, sich der anderen Aspekte der politischen Krise im Sudan anzunehmen. Die regierende NCP manipuliert und behindert weiterhin alle Gelegenheiten für politische Lösungen zur Beendigung des Bürgerkriegs in den drei volatilen Regionen Sudans (Darfur, South Kordofan, Blue Nile). Zudem erlaubt sie weiterhin ein Minimum an Offenheit, was die politische Polarisierung im Land reduziert.
Letzteres mit Erfolg, dank des neuen Status der Regierung durch die internationalen Mediatoren, die das Regime brauchen um unterschiedliche Interessen in der Region zu bedienen. Zum Erfolg trug auch die Schwäche der Opposition bei, in deren Zerstörung das Regime seit Jahren investiert. Dennoch schaufelt sich die NCP mit dieser Haltung selbst ihr Grab. Die Bürgerkriege, politische Polarisierung und der Mangel an demokratischen Raum machen das Regime zu einer dauerhaften Geisel ausländischer Mächte. Sie benutzen das Regime, um ihre Vorhaben durchzuführen, aber unterstützen es nur so weit, dass es weiterhin eine Geisel bleibt. Tyrannen lesen aus einem Buch, das ihnen eine einfache Lektion verwehrt: der einzige Garant eines jeden Machthabers ist das Volk, nicht ausländische Mächte, ganz egal wie nützlich er für diese ist.
Die NCP und General Bashir regieren seit 30 Jahren und stützen sich auf Stärke der Sicherheitsdienste und ihrer Milizen, um fortzubestehen und die Oppositionsbewegung zu unterdrücken. Sie haben nicht gezögert, die Milizen zu bewaffnen, auszustatten und mehr Milizen aufzubauen, um ihre Macht zu schützen. Budgets für Gesundheit, Bildung und andere sozialen Dienstleistungen wurden umgeleitet und für den sogenannten Souveränitäts- und Sicherheitssektor ausgegeben – absurde Ausgaben, die zwei Drittel des Staatshaushalts übersteigen.
Da öffentliche Gelder nicht in soziale Sektoren investiert werden, trifft die Wirtschaftskrise besonders die ärmsten Bevölkerungsgruppen. Sie sind nun ihrem Schicksal ergeben – einem legendären Kampf ohne ein soziales Auffangnetz und ohne jegliche Unterstützung aus dem öffentlichen Sektor. Diese Menschen erobern nun die Straßen, getrieben von ihrem Lebenswillen. Sie können nichts verlieren, denn die NCP hat ihren nichts gelassen, das sie verlieren könnten - dafür alles, das sie gewinnen könnten: ihre Freiheit, Sicherheit und menschenwürdige Lebensbedingungen.
Zukunftsmusik: beängstigende Szenarien oder umfassender Wandel?
Das Regime erkennt dies immer noch nicht und verlässt sich weiterhin auf Sicherheitsmaßnahmen als Reaktion auf die Krise. Die Todesopfer bewegen sich nach drei Protesttagen im unteren zweistelligen Bereich. Scharfe Munition wird in verschiedenen Städten des Landes eingesetzt. Das Szenario der Proteste von September 2013, als die Sicherheitskräfte über 200 Menschen töteten, die aus ähnlichen Gründen protestierten, ist wahrscheinlich. Die NCP Spitze hatte nichts daraus gelernt und das Massaker als Erfolg im Auflösen von Demonstrationen gefeiert.
Sicherheitslösungen werden nicht funktionieren und haben nie funktioniert. Allerdings könnte angesichts der landesweiten Politikmüdigkeit ein weiteres furchtbares Szenario eintreten, ein interner Coup innerhalb der NCP. NISS-Chef Salah Gosh, der nach seinem erniedrigenden Rauswurf 2012 seit Beginn dieses Jahres wieder im Amt ist, hat das Kabinett öffentlich für die Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht und das Vorgehen gegen die Proteste kritisiert. Goshs Ambitionen, Bashirs Nachfolge anzutreten, sind kein Geheimnis und waren nebst Anschuldigungen, er plane einen Coup, Grund für seinen Rauswurf.
Er ist jedoch nicht der einzige mit solchen Ambitionen. Islamisten der alten Garde schauen ebenfalls nach dem Thron. Die Hardlinergruppe der Islamisten unter der Führung des ehemaligen Präsidentenberater Nafie Ali Nafie, der gegen Bashirs Kandidatur für die NCP bei den Präsidentschaftswahlen 2020 ist, ist bereit für den Kampf. Unruhen innerhalb der Armee zeigen außerdem das Potenzial für einen Coup d’Ètat im Sisi-Stil.
Das Beängstigende an all diesen Szenarien ist, dass sie keine Lösungen bieten und die selbe Kleptokratie herrschen wird – mit oberflächlichen Änderungen in der Hierarchie. Folglich wird das Leid der Bevölkerung fortbestehen und ein alter ermüdeter Diktator durch einen jungen enthusiastischen ersetzt. Nicht zu sprechen von der grausamsten Möglichkeit eines Blutbades in Khartum durch den Zusammenstoß der vielen Milizen der NCP, den Rapid Support Forces, den Sicherheitskräften und der Armee, deren Loyalitäten sich über die verschiedenen Flügel der Islamisten verteilen und die in einem solchen Szenario Partei ergreifen müssten. Die Zivilbevölkerung wäre auch Teil eines solchen Zusammenstoßes. Diejenigen, unter denen zu dieser Stunde Menschen ihre Leben auf der Straße opfern, werden es nicht akzeptieren, stille Beobachter zu sein.
Der einzige friedliche Weg dies zu beenden bestünde darin, dass die NCP versteht, dass ihr Spiel zu Ende ist. Es ist an der Zeit, Macht an eine breite nationale politische Union zu übergeben und Verantwortung für 30 Jahre Korruption und Missmanagement zu übernehmen, anstatt solch gefährliche Wege einzuschlagen. Was gerade im Sudan passiert ist ein mühsamer Kraftakt hinzu einem umfassenden Wandel – eine authentische Revolution geboren aus dem Leid eines geduldigen Volkes. Das einzige Ziel eines jeden gesunden Politikers wäre es, dieses Leid zu beenden.
Dieser Artikel erschien zu erst bei Sudantribune http://www.sudantribune.com/spip.php?article66809 und wurde von Brandie Podlech für Alsharq aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.