Seit zwei Jahren schon befindet sich das Assad-Regime „am Abgrund“ und ebenso lange ist der Konflikt in seine „entscheidende Phase“ getreten. Diese vorgeblich endgültigen Urteile haben sich als ebenso voreilig wie sinnlos erwiesen. Duncan Thomas erklärt in einem Gastbeitrag, welche Faktoren bislang den Zusammenhalt des Regimes von Bashar al-Assad und dem Diktator so das Überleben an der Spitze Syriens gesichert haben.
Syrien ist weder Tunesien, noch Ägypten oder Libyen. Weder sind Soldaten en masse desertiert, noch haben sich die Streitkräfte in rivalisierende Blöcke gespalten. Nur sporadisch und unkoordiniert sind bewaffnete Kräfte desertiert. Sie tragen, wenn überhaupt, nur dazu bei, das Regime langsam zu zerrütten, reißen ihm jedoch nicht den Boden unter den Füßen weg.
Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, wie das syrische Regime in der Lage ist, diesen Grad des Zusammenhalts innerhalb seiner Kampftruppen aufrechtzuerhalten. Die Literatur, die sich mit Desertionen im Falle eines rücksichtslosen Regimes auseinandersetzt, das gewaltlosen Protestierenden gegenübersteht, weist auf drei Faktoren hin: wirtschaftliche Anreize, parallele Militärstrukturen und selektive Rekrutierung von Soldaten. Diese drei Punkte sollen nun im Bezug auf den syrischen Kontext untersucht werden.
Kauft sich das syrische Regime Loyalität?
Wirtschaftliche Anreize entstehen aus der Beziehung zwischen militärischen und zivilen Institutionen, doch die Frage ist, welchen Einfluss diese Anreize auf die Loyalität gegenüber dem Regime haben. In Syrien waren die Vergütungen für die Spitze des Militärs beträchtlich, haben jedoch niemals das ägyptische Niveau erreicht und sind zuletzt sogar gefallen.
Unter Hafez al-Assad erreichte der Anteil des Militärbudgets am Bruttoinlandsprodukt 1991 den Spitzenwert von 9,7 Prozent. 2010 war er auf 4,1 Prozent gesunken. Die einfachen Mannschaftsdienstgrade bekamen kaum einen lukrativen Sold, auch wenn der bloße Wert einer Festanstellung nicht außer Acht gelassen werden sollte. Auch die Mukhabarat, die verschiedenen Geheimdienste, waren weitgehend desillusioniert, weil sie immer mehr Aufgaben der ausgezehrten Baath-Partei übernehmen mussten. Mehr noch fühlten sich viele Offiziere von Bashars mit großem Getöse ausgerufener Anti-Korruptions-Kampagne angegriffen, die jedoch den zivilen Sektor kaum ins Visier nahm. Der Rückzug aus dem Libanon 2005 entriss der Armee zudem ihr Monopol über die Schmuggelrouten.
Auch wenn die syrische Armee beträchtliche Interessen in der zivilen Wirtschaft hatte, waren sie längst nicht so umfangreich wie in Ägypten, wo der Wert der Unternehmen im Militärbesitz laut Schätzungen bis zu einem Drittel des Bruttoinlandsprodukts ausmacht. Die Ressourcen der ägyptischen Armee sowie die Tatsache, dass ihr Budget ziviler Kontrolle entzogen war, gaben ihr ein Ausmaß an Autonomie vom Regime, das einen Bruch zwischen der Armee und Gamal Mubaraks Klub der neoliberalen „Modernisierer“ verursacht hat. Am Anfang des Aufstands in Ägypten übte die Armee diese Autonomie rasch aus, als sie Mubarak fallen ließ, weil sie dadurch ihre wirtschaftlichen Interessen am besten gesichert sah.
Im Gegensatz dazu haben Syriens Armee und Geheimdienste diesen Spielraum nicht. Während Gamal Mubarak in die Wirtschaft ging, haben die Assads ihre familiären Beziehungen mit dem Unterdrückungsapparat aufrechterhalten. So wurde zum Beispiel Maher al-Assad, der jüngste und möglicherweise impulsivste der Assad-Brüder, Kommandeur der republikanischen Garde und der vierten Armee-Division. Durch eine ganze Kette dieser persönlichen Verbindungen lösten sich die Grenzen zwischen den zivilen und militärischen Zweigen der Regierung auf. Konsequenter Weise blieben die wirtschaftlichen Anreize abhängig vom Überleben des Regimes und nicht losgelöst von selbigem. Als Ergebnis ähnelte die syrische Elite einer sich zankenden Familie voller Zwiespalte, Konkurrenz und Verschwörungen, die aber zusammenhält, wenn sie in Gefahr gerät.
Hürden für Desertionen: Mechanismen und Strukturen des Sicherheitsapparats
Wirtschaftliche Verflechtungen können zwar die Loyalität der Elite erklären, aber kaum die der unteren Dienstgrade. Doch wenn man den Geheimdienstapparat nicht als parallele Struktur, sondern als Teil der regulären Ordnung von Befehl und Gehorsam begreift, hilft dies, die strukturellen Hürden für Desertionen zu begreifen.
Mindestens 15 Geheimdienste sind in Syrien bekannt. Diese sollten nicht nur die Zivilbevölkerung überwachen, sondern auch die Armee. Ihre Geheimdienstarbeit untereinander koordinieren sollten die einzelnen Dienste allerdings nicht. Um sicher zu stellen, dass kein Mukhabarat handeln kann, ohne dass mehrere andere davon Kenntnis bekommen, sollten sich die einzelnen Dienste vielmehr gegenseitig beschatten. Jede Armeeeinheit wurde darüber hinaus von einem „Schattenkommandeur“ überwacht, der die Autorität besaß, auch den ranghöchsten Kommandeur hinzurichten, wenn er ihn der Verschwörung verdächtigte.
Neben der Gefahr der sofortigen Exekution war die Hierarchie von Befehl und Gehorsam so strukturiert, dass sie für ein koordiniertes militärisches Vorgehen zwar fast nutzlos war, sich aber als sehr effektiv darin erwies, interne Revolten zu verhindern. Weil jegliche Kommunikation zwischen Einheiten und Bataillonen strikt verboten war, mussten Botschaften ganz nach oben in der Hierarchie weitergegeben werden, bevor sie an einen anderen Zweig der Armee übermittelt wurden. Für ein koordiniertes Vorgehen hätte es also einer Verschwörung mehrerer hochrangiger Offiziere bedurft.
Manaf Tlass, ein Kindheitsfreund von Bashar al-Assad und hochrangiger Kommandeur der republikanischen Garde, der sich im Sommer 2012 in die Türkei absetzte, erklärte deshalb, ein Putsch in Syrien sei nahezu unmöglich. Gleiches gilt für koordinierte Desertionen. Auch wenn deren Zahl zunimmt, erleben wir noch keine Absetzbewegungen wie in Libyen. Einzelne Soldaten und kleinere Gruppen verlassen das sinkende Schiff, doch die Befehlsstruktur ist bislang intakt geblieben.
Der Konfessionalismus des syrischen Regimes – die Minderheiten als Geiseln
Ein offensichtliches und charakteristisches Merkmal Syriens ist die selektive Rekrutierungspolitik. Das Militär verlässt sich überproportional auf eine Minderheit im Militär: etwa 70 Prozent der Berufssoldaten sind Alawiten, in den Elitedivisionen und manchen Geheimdiensten sind fast ausschließlich Alawiten.
Viele Fachbücher legen nahe, dass „soziale Distanz“ – also der Grad bis zu dem sich die Streitkräfte entweder mit dem Regime oder den Protestierenden identifizieren – ein wichtiger Faktor dafür ist, Desertionen vorherzusagen.
Dies zeigt sich beispielhaft bei Tlass, der sich vom Regime distanziert haben soll, nachdem seine Heimatstadt Rastan im Gouvernorat Homs, einer Hochburg der Revolutionäre, von den Regimetruppen brutal angegriffen wurde. Doch zum Zeitpunkt seiner Desertion war Tlass bereits kaltgestellt und das einstige Mitglied des inneren Machtzirkels unter Hausarrest genommen worden.
Dies deutet daraufhin, wie sehr das Regime zu einem kleinen, aber immer noch mächtigen Kreis zusammengeschmolzen ist. Während repressivere Tendenzen darin an Einfluss gewannen, stellte die Desertion von „moderateren“ Figuren nur einen kleinen Verlust für das Regime dar, das seine zivilen Funktionen zunehmend aufgab und mehr und mehr einer Miliz ähnelte.
Auch wenn sie sicher wichtig sind, sind konfessionelle Argumente lediglich beschreibende Beobachtungen, die als Ausgangspunkt und nicht als Schlussfolgerung einer Untersuchung dienen sollten. Das „Band“ zwischen Alawiten und dem Regime, so wie es ist, hat fast nichts mit konfessioneller Identität per se zu tun. Vielmehr unterliegt es einer sorgfältig genährten Angst, für die das Regime die Hauptverantwortung trägt. Diese Angst wurde dazu missbraucht, Alawiten praktisch als Geiseln des Regimes zu nehmen. Wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, so gilt dies auch für andere Minderheiten.
Seit Beginn des Aufstands hat das Regime den Widerstand als extremistisch, konfessionalistisch und vom Ausland unterstützt dargestellt. Diese Versuche, den Widerstand zu verunglimpfen, unterfüttern den Mythos eines „Alawiten-Regimes“ und heizen die Angst vor Vergeltung unter den wichtigsten Unterstützern der Regierung an.
Das Regime, das so verzweifelt entschlossen ist, Syrien zu regieren, dass es bereit ist, das ganze Land zu zerstören, hat die Realität gewaltsam gezwungen, mit ihrer eigenen Fiktion übereinzustimmen. Dabei hat es Alawiten und andere Minderheiten vor ein Dilemma gestellt: Indem es das Schreckgespenst eines interkonfessionellen Krieges hervorgerufen hat, unter dem die Alawiten angeblich am meisten zu leiden hätten, gibt das syrische Regime eine Rechtfertigung für seine rücksichtslose Unterdrückung des Aufstands, während es seinen Wert mit jeder abgefeuerten Patrone auf zynische Weise erhöht.
Ein anschauliches Beispiel für die Bredouille der Alawiten ist Homs, wo zwischen den Trümmern der sunnitischen Viertel die alawitischen Stadtteile Berichten zufolge nicht unter Beschuss geraten sind – ein weiterer zynischer Schachzug des Regimes, um den Machtkampf konfessionell aufzuladen. Doch der Anschein relativer Sicherheit trügt, denn in den gleichen Vierteln bezahlen Alawiten bewaffnete Schlägertrupps für ihren Schutz.
"Wir haben keine Zukunft"
Diese Taktiken sind im Wesentlichen eine Ausweitung und Intensivierung einer lange bewährten Herrschaftsstrategie.: Gib der Führung nach Außen einen säkularen Anschein, schüre aber unter der Oberfläche konfessionelle Spannungen. Im öffentlichen Diskurs wurde die alawitische Identität im orthodoxen sunnitischen Islam subsumiert. So wurde zum Beispiel die Konfessionsgemeinschaft in Schulbüchern überhaupt nicht erwähnt. Indem man die Religionszugehörigkeit zu einem allgemeinen Tabu gemacht, gleichzeitig aber den Unterdrückungsapparat mit Alawiten besetzt hat, förderte das Regime latente Spannungen, die schon lange vor 2011 die Alawiten in die Situation brachten, das Regime zu verachten, aber gleichzeitig seinen Sturz zu fürchten.
Der alawitische Blogger Karfan sagte schon 2005 voraus: „Wir werden verdammt sein, die Last der Fehler zu tragen, die jene Menschen begangen haben, die jede religiöse Identität zerstörten, die wir vielleicht einmal gehabt haben mögen…Wir haben keine Zukunft, jedenfalls keine, auf die es sich lohnt, vorauszuschauen.“
Indem das Regime die alawitische Gemeinschaft praktisch als gigantische Schutzgeldquelle betrachtete, präsentierte es sich als Bollwerk gegen die soziale Spaltung, die es selbst systematisch vorantrieb. Natürlich half dem Regime dabei eine Geschichte tatsächlicher Verfolgung der Alawiten, die es zwar nicht erfand, aber sicher ausnutzte.
Aktuelle Entwicklungen wurden durch diesen Filter gefärbt: die von Muslimbrüdern geführte Revolte der siebziger und achtziger Jahre, der libanesische Bürgerkrieg und die Geschehnisse im Irak nach der US-Invasion unterfütterten das Narrativ des Regimes. In diesem Rahmen bekamen Vorfälle konfessioneller Provokationen – so sporadisch sie auch gewesen sein mögen – eine viel größere Bedeutung für jene, die sich bereits vor der Zukunft fürchteten.
Berichte über Protestierende, die Slogans wie „Löscht die Alawiten aus!“ rufen, oder der aus Hama stammende, aber seit drei Jahrzehnten in Saudi-Arabien lebende sunnitische Geistliche Adnan al-Arour, der zu einiger Bekanntheit gelangte, weil er den Alawiten damit drohte, „sie zu Hackfleisch zu machen und an die Hunde zu verfüttern“, mögen die Ausnahme sein. Trotzdem haben diese Vorfälle für jene eine viel größere Bedeutung, die durch den Diskurs des konfessionellen Konflikts bereits sensibilisiert worden sind.
Versuche der Protestierenden, die Ängste der Alawiten zu lindern, sollten nicht als diametraler Gegensatz zum konfessionellen Diskurs des Regimes gesehen werden, sondern als dessen unweigerliches Umkehrbild. Beide erkennen die Bedeutung der konfessionellen Identität an – die Protestbewegung will sie überwinden, das Regime will Nutzen aus ihr ziehen.
Loyalität ist niemals unbegrenzt
Diese Ängste beeinflussen viele Syrer, ungeachtet ihrer Konfession. Die Sorgen sind jedoch unweigerlich am größten bei der Gruppe, die am engsten mit dem Regime verbunden ist, besonders wenn ein großer Teil von ihr zu den Streitkräften gehört. Der Zusammenhalt des Regimes scheint sich umgekehrt proportional zum Zusammenhalt der Gesellschaft zu verhalten. Je mehr sich die Unterstützer des Regimes bedroht fühlen, desto mehr steigt sein Wert. Deshalb hat das Regime alles getan, um bei seinen Anhängern das Gefühl der Unsicherheit zu bestärken.
Ein Teufelskreis hat sich in Bewegung gesetzt. Ein Teil davon ist die taktische Logik des Regimes, den Aufständischen sein eigenes Vokabular der Gewalt aufzuzwingen. Doch dabei haben sich die Herrschenden möglicherweise verkalkuliert. Sie glaubten daran, den Aufstand so wie 1982 gewaltsam niederschlagen zu können. Doch sie haben die Entschlossenheit des Widerstands unterschätzt. Der Aufstand hat dem Regime die Grenzen seines modus operandi aufgezeigt, zuerst Probleme zu schaffen und sich dann als Lösung zu präsentieren.
Angesichts der Bedeutung, die Ängste der Minderheiten zu überwinden, sollte die Opposition auf allen Ebenen – von Moaz al-Khatib, dem Präsidenten der Nationalkoalition für syrische Oppositions- und Revolutionskräfte, bis zu lokalen Anführern – den Alawiten sowie den niederrangigen Militärs versprechen, dass ihnen keine kollektive Bestrafung droht und sie nicht in Sippenhaft genommen werden.
Selbst der militarisierteste aller Konflikte wird auf diesem ideologischen Gebiet, auf dem zwei Narrative miteinander konkurrieren, entschieden. Das eine sieht eine Zukunft voll konfessioneller Gewalt voraus, das andere eine Zukunft gemeinsamer Rechte und eine nationale Identität, die alle Syrer einschließt.
Loyalität ist niemals unbegrenzt und es mag eine Zeit kommen, in der die bewaffneten Kräfte ihre Posten aufgeben. Auch wenn diese zum schnellen Sturz Assads führen würde, wäre dieser Schritt bedeutungslos, wenn ihm keine politische Versöhnung folgte. Die materielle Macht des Regimes, so langlebig sie auch sein mag, wird wahrscheinlich vor dem ideologischen Gerüst fallen, das sie stützt. Und auf dem Gebiet der Ideologie wird der wichtigere Machtkampf ausgetragen.
Duncan Thomas ist Masterstudent in Middle East Politics an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London.