Ein Beitrag von Mareike Transfeld
Während Präsident Saleh in Saudi-Arabien zur Behandlung weilt, entfaltet sich in Sanaa ein blutiger Machtkampf zwischen dem Haus Al-Ahmar und dem Präsidenten. Was macht den Stammesverbund so mächtig – und wie steht er zu der Protestbewegung?
Es passierte nach dem Freitagsgebet: Ein Angriff auf die Moschee des Präsidentenpalasts verletzte zahlreiche Regierungsmitglieder teilweise schwer, unter ihnen auch Präsident Saleh. Er und weitere Mitglieder der Regierung sollen sich nun in Saudi-Arabien in medizinischer Behandlung befinden. Unterdessen übernahm Abd Al-Rab Hadi, der Vizepräsident, vorübergehend das Präsidentenamt. Von wem der Angriff auf die Moschee ausging, ist zu diesem Zeitpunkt noch unklar. Doch stellt die Abwesenheit des Präsidenten noch nicht das Ende des Elitemachtkampfs dar, denn Ahmed Ali, der älteste Sohn des Präsidenten, befindet sich noch im Land und so kommt es weiterhin zu gewalttätigen Ausschreitungen.
Die Auseinandersetzungen zwischen den Regierungskräften und der Stammesfamilie Al-Ahmar begannen, nachdem Ali Abdullah Saleh sich zum dritten Mal in Folge weigerte, ein vom Golfkooperationsrat vermitteltes Abkommen zu unterzeichnen. Das Abkommen sah ein Abtreten des jemenitischen Präsidenten innerhalb von 30 Tagen vor und gewährte ihm und seiner Familie Immunität. Während das Abkommen für die Demonstranten keine Lösung darstellte, da sie einen sofortigen Rücktritt des Präsidenten forderten und er außerdem zur Rechenschaft gezogen werden sollte, galt es doch als Indikator für seine Bereitschaft zurückzutreten. Am Nachmittag des 22. Mai 2011, der das 21. Jubiläum der Vereinigung des Nord- und Südjemens markierte, belagerten regierungstreue Milizen die Botschaft der Vereinigten Arabischen Emirate in Sanaa und verhinderten, dass die Botschafter der Golfländer, der USA und der EU den Präsidentenpalast erreichen konnten, um die Unterzeichnung des Abkommens abzuschließen. Fast hollywoodreif präsentierte sich Ali Abdullah Saleh als Retter und ließ die Diplomaten mit einem Helikopter abholen. So flogen sie die kurze Strecke zwischen Botschaft und Palast, wo sich inzwischen eine düstere Stimmung ausgebreitet hatte. Die Spannung entlud sich am nächsten Tag in bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen regierungstreuen Soldaten und Stammeskämpfern des Hauses Al-Ahmar.
Die Familie Al-Ahmar, die sich im Verlaufe der Proteste auf die Seite der Demonstranten geschlagen hatte, erfährt unterdessen immer mehr Unterstützung und kämpft nun schon seit über zehn Tagen mit einer Stammesmiliz gegen die Sicherheitskräfte des Regimes. In Straßengefechten kämpft sie mit Panzerfäusten, Granaten und Kalaschnikows um die Kontrolle über Regierungsgebäude. Flugabwehrraketen, von Seiten der Regierung aus den Bergen abgefeuert, fliegen über die Dächer von Sanaa in den Norden der Stadt, wo sich das Haus des Familienoberhauptes Sadiq Al-Ahmar befindet. An Waffen mangelt es auf beiden Seiten nicht.
Die Furcht vor einem Bürgerkrieg wuchs im In- sowie im Ausland. Saleh gelang es, den Forderungen der Protestbewegung aus dem Weg zu gehen, indem er einen Konflikt mit seinen größten Widersachern provozierte, der Al-Ahmar Familie. Noch vor zehn Jahren wäre eine Feindschaft zwischen den Al-Ahmars und dem Präsidenten undenkbar gewesen, stellte die Stammesfamilie doch einen wichtigen Pfeiler der Macht des Regimes dar. Jedoch wurde die Familie in den letzten Jahren marginalisiert und verlor an Einfluss. Nun spaltet sich die Elite entlang der Risse, die in den letzten zehn Jahren entstanden waren. Während die Demonstranten auf den Straßen Freiheit und Gerechtigkeit fordern, geht es der Elite um Machterhalt, Interessensicherung und Einfluss.
Wer ist die Al-Ahmar Familie?
Sadiq Al-Ahmar ist der höchste Scheich der Hashid-Stammeskonföderation, einem losen Stammesverband, der im Wesentlichen Stämme im Nordosten der Hauptstadt Sanaa umfasst. Im Gegensatz zu anderen Stammeskonföderationen ist die Hashid-Konföderation hierarchisch geprägt, wobei sich die führende Rolle des Hauses Al-Ahmar bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Während des Imamats sagte man über die Hashid-Konföderation, sie sei zusammen mit der Bakil-Stammeskonföderation der »Flügel des Imams«, ohne den er nicht regieren könnte. Doch während der Revolution von 1962, die das republikanische Zeitalter im Jemen einläutete, wandte sich das Haus Al-Ahmar gegen den Imam.
Bereits in den 1940er-Jahren unterstütze die Al-Ahmar-Familie eine Bewegung, die sich für die Modernisierung und Reformierung des Jemens einsetzte. Diese Bewegung bestand aus Militäroffizieren, die im Irak und Ägypten ausgebildet wurden, Intellektuellen, die in Ägypten mit der Lehre der Muslimbrüder in Berührung gekommen waren und unterschiedlichen Stammesführern – unter ihnen Hussain Al-Ahmar, der damalige oberste Scheich von Hashid und sein Sohn Hamid Al-Ahmar. Hamid erhoffte sich in der neuen Republik das Amt des Premierministers. Doch die frühen Versuche, den damaligen Imam Yahya und später seinen Sohn Ahmed abzusetzen, scheiterten und es kam zu Verhaftungen und Hinrichtungen. Auch Hussain Al-Ahmar und sein Sohn Hamid fielen dem Imam zum Opfer und wurden hingerichtet.
Nachdem der Sohn von Imam Ahmed an die Macht gekommen war, wurde das Imamat 1962 gestürzt. Eine erfolgreiche Revolution, inspiriert von der ägyptischen Revolution von 1952, die jedoch in einem Bürgerkrieg mündete. Verfechter der alten Ordnung standen mit Unterstützung Saudi-Arabiens den Republikanern, die wiederum von Ägypten unterstützt wurden, gegenüber. Abdullah Al-Ahmar, ebenfalls Sohn des verstorbenen Hussain Al-Ahmar und nun oberster Sheikh von Hashid, gehörte zu jenen Stammesführern die die junge Republik verteidigten und somit die neue Ordnung mitprägten. Aufgrund seines Engagements auf Seiten der Republikaner wurde Al-Ahmar Präsident des Schura-Rats, eine Position, die er mit Unterbrechung und in unterschiedlicher Form bis zu seinem Tode innehatte.
Vom Oberstleutnant zum Präsidenten
In den Jahren nach der Revolution hat der Nordjemen vier Präsidenten erlebt. Sie alle waren daran gescheitert, eine breite Unterstützerbasis unter den Stämmen und anderen politischen Kräften aufzubauen. Besonders Präsident Ibrahim Al-Hamdi wurde der Versuch, die Stämme innerhalb der Regierung zu marginalisieren, zum Verhängnis. Auch Abdullah Al-Ahmar wurde von ihm aus der Regierung gedrängt. Al-Hamdi fiel 1978 einem Attentat zum Opfer, das bis heute nicht aufgeklärt wurde.
1978 wurde Ali Abdullah Saleh Präsident des Jemens. Er gehört dem damals eher unbedeutenden Sanhan-Stamm an, der ebenfalls der Hashid-Konföderation zuzuordnen ist. Er war ein ungewöhnlicher Kandidat, da er lediglich ein Oberstleutnant und kaum gebildet war. So wurde ihm auch keine lange Präsidentschaft zugetraut. Doch konnte er seine Herrschaft dadurch konsolidieren, dass er Kräfte des gesamten politischen Spektrums zusammen an einen Tisch brachte und die einzelnen Gruppen stetig gegeneinander ausspielte und sie so im Schach hielt. Dementsprechend bildeten während seiner 33 Jahre andauernden Präsidentschaft ebenfalls unterschiedliche Stammesführer – auch Abdullah Al-Ahmar – einen integralen Bestandteil seiner Herrschaft. Scheich Abdullah Al-Ahmar entwickelte sich zu einem der mächtigsten Männer des republikanischen Jemens. Sein Porträt schmückt heute noch diverse Gebäudefassaden und Autoheckscheiben.
Durch dick und dünn
1990 brachte die Vereinigung von Nord- und Südjemen eine beispiellose Liberalisierung des politischen Systems. Beide Seiten, Nord und Süd, hofften sich durch demokratische Wahlen gegenüber der jeweiligen anderen Seite zu behaupten. In diesem Kontext mitbegründete Al-Ahmar die Islah-Partei, die unterschiedlich islamisch geprägte Stränge zusammenbrachte. Die Parteielite war jedoch eng mit dem Saleh-Regime verbunden und diente der Herrschaftsstabilisierung, insbesondere im Machtkampf mit der sozialistischen Partei des ehemaligen Südjemens. Dieser Machtkampf mündete 1994 in einen Bürgerkrieg, in dem die politische Elite des Südjemens versuchte, die Unabhängigkeit des südlichen Landteiles zurückzuerlangen.
Auch nach der erfolgreichen Niederschlagung der sozialistischen Partei blieb die Allianz zwischen Regierungspartei und Islah, aber insbesondere zwischen Al-Ahmar und dem Regime erhalten. Immer wieder unterstützte der oberste Scheich von Hashid explizit die Präsidentschaftskandidatur Salehs. Dies war auch der Fall, als die Islah-Partei in Koalition mit anderen Parteien 2006 einen eigenen Präsidentschaftskandidaten nominierte. Im Gegenzug wurde Al-Ahmar regelmäßig zum Präsidenten des Parlaments gewählt, selbst als die Regierungspartei eine deutliche Mehrheit stellte.
Durch die Verbindung Al-Ahmars und seiner Familie mit dem Regime konnte sich die Stammesfamilie ein Wirtschaftsimperium aufbauen. Die Al-Ahmar Group of Companies ist in unterschiedlichen Bereichen tätig, so zum Beispiel im Im- und Export, Telekomunikations-, Banken- und Tourismussektor. Insbesondere Hamid Al-Ahmar, der drittälteste Sohn des höchsten Scheichs Abdullah Al-Ahmar, hat sich als ein tüchtiger Geschäftsmann erwiesen. Sein Unternehmen, die Al-Ahmar Trading & Investment Co., vertritt unterschiedliche internationale Unternehmen im Jemen. Des Weiteren unterhält Hamid einen Fernsehsender und den Mobilfunkanbieter Sabafon.
Das Fundament bröckelt
Die ersten Risse im System traten auf, als Saleh im Laufe der letzten zehn Jahre immer intensiver versuchte, die Macht bei sich und seiner Familie zu konzentrierten. Gleichermaßen wirkte sich auch die sich verschlechternde wirtschaftliche Situation auf Salehs Herrschaft aus, da immer weniger Ressourcen zur Verfügung standen, um das Patronagenetzwerk, das die Elite zusammen hielt, zu finanzieren. Einzelne Eliten, aber auch ganze Gruppen wurden zunehmend ausgegrenzt.
Als immer deutlicher wurde, dass Saleh seinen Sohn, Ahmed Ali, auf seine Nachfolge vorbereitete, entzündete sich ein Machtkampf innerhalb der Elite. Potentielle Gegner innerhalb der Elite wurden geschwächt, so zum Beispiel Ali Mohsen, ein General, der sich im März der Protestbewegung anschloss. Ähnlich erging es Hamid Al-Ahmar, der in Interviews seine Bereitschaft Präsident zu werden bekundet hatte. Die Familie verlor an Einfluss, nicht zuletzt weil Abdullah Al-Ahmar 2007 verstorben war. Sein ältester Sohn Sadiq trat seine Nachfolge als höchster Scheich an. Er trat jedoch in große Fußstapfen und war nie im Stande einen ähnlichen Einfluss auf das Regime auszuüben, wie es bei seinem Vater der Fall war.
Hamid war weitaus ambitionierter als seine neun Brüder und wurde zu einem lautstarken Widersacher des Präsidenten. Hamid warf Saleh 2009 in einem Interview mit Al-Jazeera Staatsverrat vor und forderte den Rücktritt des Präsidenten. Er wandte sich laut einer Diplomatendepesche auch an die US-Botschaft in Sanaa und teilte den Diplomaten mit, er würde in allen Teilen des Landes Proteste organisieren, solange der Präsident keine fairen Wahlen garantiere und er nicht seine Söhne ihrer Ämter innerhalb des Militärs enthebe.
»Oh Allah, oh Allah, stürze Ali Abdullah«
Als die Proteste im Januar 2011 im Jemen begannen, waren sie zwar nicht von Hamid organisiert, aber er unterstützte sie von Anfang an. Sein Fernsehsender Al-Suhail berichtete von den Protesten, den Verletzten und der staatlichen Gewalt gegen Demonstranten, während Sabafon, Hamids Mobilfunkanbieter, Demonstrationsankündigungen als SMS verschickte. Im Verlauf der Proteste schlossen sich auch weitere Brüder Hamids den Demonstranten an. Auch Sadiq, der höchste Scheich von Hashid wandte sich nach wochenlangen Protesten gegen das Regime – allerdings erst nachdem es immer offensichtlicher wurde, dass das Regime Saleh den Arabischen Frühling nicht überleben würde.
Ein Teil der Protestbewegung steht der Familie skeptisch gegenüber. Denn auch sie werden als Teil des korrupten Regimes gesehen, das es zu stürzen gilt. Die Meinung, die Revolution wurde vom Hause Al-Ahmar zu seinen eigenen Gunsten vorangetrieben, verbreitete sich schnell und auch Präsident Saleh sprach in seinen allwöchentlichen Freitagsansprachen vor seinen Unterstützern von einem Coup und stilisierte den Al-Ahmar-Clan zum Feindbild. Unterdessen hielt sich die Stammesfamilie in den letzten Wochen im Hintergrund und überließ die Verhandlungen über das Abkommen des Golfkooperationsrats den Oppositionsparteien.
Als sich Saleh erneut weigerte, das Abkommen zu unterzeichnen, nahmen die an Fahrt Unruhen auf. Die Ungeduld auf allen Seiten wuchs und so schien auch eine Konfrontation zwischen Al-Ahmar und Saleh unvermeidlich. Das Regime hatte begonnen, Waffen in einer Schule in der Nachbarschaft von Sadiq zu lagern, dessen Wachen dies wiederum als Provokation empfanden. Anderseits befanden sich bereits am Tag der vermeintlichen Unterzeichnung tausende Al-Ahmar loyale Stammeskrieger in Sanaa.
Ein Raketenangriff der Regierung auf das Haus von Sadiq, in dem sich zu diesem Zeitpunkt von der Regierung gesandte Stammesvermittler aufhielten, eskalierte den Konflikt weiter. Zahlreiche Versuche, einen Waffenstillstand zwischen den beiden Häusern zu verhandeln scheiterten, während das Regime immer aggressiver gegen die Demonstranten vorging. Es wurde zunehmend deutlicher, dass Saleh sich mit aller Kraft durchsetzen und sowohl die Protestbewegung, als auch seine Widersacher in der Elite zerschlagen wollte.
Präsident Al-Ahmar?
Die Frage, ob Saleh aus Saudi-Arabien zurückkehren wird, bleibt offen. Vieles deutet darauf hin, dass sein gesundheitlicher Zustand eine baldige Rückkehr verhindert. Jedoch befindet sich sein Sohn Ahmed Ali weiterhin in Sanaa. Salehs Alliierte und Gegner, auf der Straße und in der Elite, werden seine Abwesenheit nutzen, um sich neu zu positionieren – denn noch herrscht große Ungewissheit über die Zukunft des Landes. Die Protestbewegung hat unterdessen erklärt, so lange weiter zu demonstrieren, bis alle Familienmitglieder des Präsidenten aus ihren Ämtern entfernt wurden. Eine Forderung, für die sich auch die Al-Ahmar-Familie stark machen wird.
Auch wenn nicht zu leugnen ist, dass die Protestbewegung von Hamids logistischer Unterstützung profitierte, mehren sich die Stimmen, die fordern, dass die Proteste auch gegen die Al-Ahmar-Familie geführt werden müssten. Denn die Präsidentenfamilie solle nicht lediglich durch eine andere Familie ausgetauscht werden. Von vielen anderen wird Sadiq Al-Ahmar jedoch als Held gefeiert. Insbesondere in den letzten Tagen gewann er auf Grund der Auseinandersetzungen mit dem Regime deutlich an Sympathien.
Unter diesen Gesichtspunkten ist es eher unwahrscheinlich, dass sich eine geeinte Front gegen die Al-Ahmar-Familie bilden wird. Gleichzeitig ist sich die Familie bewusst, dass ein Präsident aus ihren Reihen keine große Unterstützung in der Bevölkerung erfahren würde. Denn die Forderung der Straße ist klar: keine Stammesregierung, keine Militärregierung. So macht sich Hamid bereits jetzt für einen Präsidenten aus dem Süden des Landes stark, da nur so die Einheit des Landes gewährleistet werden könne. Nichtsdestotrotz wird die Familie gestärkt aus der Krise hervor gehen können, ähnlich wie es auch nach der Revolution von 1962 der Fall war. Sie werden eine »Post-Saleh-Ordnung« maßgeblich direkt und indirekt mitgestalten und ihre Geschäfts- und Stammesinteressen auf diese Weise sichern.