Die landesweiten Proteste seit dem gewaltsamen Tod von Jîna Mahsa Amini bringen die Menschen in Iran in noch nie dagewesener Weise zusammen. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft ist wieder da – trotz massiver Gewalt seitens des iranischen Regimes.
Seit vier Jahrzehnten versucht die Islamische Republik Iran die eigene Gesellschaft gezielt zu spalten. Dabei setzt das iranische Regime alles daran, religiöse Unterschiede zu betonen, Hass zwischen den ethnischen Gruppen zu schüren und die Kluft zwischen Generationen, Geschlechtern und Klassen zu vertiefen.
Es waren Kurd:innen und Frauen, die nach dem gewaltsamen Tod der Kurdin Jîna Amini als Erste auf die Straßen gingen. Mittlerweile werden die Proteste jedoch von Menschen verschiedenster Gruppen mitgetragen, die der Staat zuvor jahrzehntelang voneinander zu trennen versuchte: Der Identitätskonflikt zwischen Kurd:innen und Aseris [aserbaidschanische Minderheit, Anm. d. R.] verblasst, Sunnis in Belutschistan demonstrieren nach dem Freitagsgebet und Studenten theologischer Schulen in Qom – der Hauptstadt schiitischer Geistlichkeit – fordern den Rücktritt von Ali Khamenei, dem Obersten Führer der Islamischen Republik.
In der als religiös-konservativ bekannten Provinz von Mazandaran am Kaspischen Meer kam es zu heftigen Zusammenstöße zwischen den Protestierenden und den Sicherheitskräften und im Südosten wurden laut Berichten dutzende Menschen getötet, die der belutschischen Minderheit angehörten. Aufnahmen der Proteste lassen erahnen, wie divers die Teilnehmenden auch im Hinblick auf ihr Alter und Geschlecht sind. Studierende und Schüler:innen sind ebenso zu sehen wie Arbeiter:innen. In Großstädten wie Teheran und Rascht verteilen sich die Orte der Proteste über das gesamte Stadtgebiet und beschränken sich demnach nicht auf eine bestimmte gesellschaftliche Schicht. Es ist das erste Mal nach der Islamischen Revolution 1979, dass die iranische Gesellschaft eine Art gemeinsame Geschlossenheit ausstrahlt.
Das Schwinden der Angst
Seit ihrem Bestehen hat die Islamische Republik versucht, Angst in der Bevölkerung zu verbreiten. Furcht ist eines ihrer grundlegenden Herrschaftsinstrumente. Kurz nach dem Sieg der Islamisten im Februar 1979 wurden ehemalige Offizielle des Schah-Regimes auf dem Dach des Wohnorts von Ruhollah Khomeini – dem Führer der Revolution – ohne gerichtlichen Prozess hingerichtet. Massenhinrichtungen in den 1980er-Jahren, die staatlichen Kettenmorde an kritischen Intellektuellen in den 1990ern Jahren und die brutale Niederschlagung jeglicher Proteste in diesen vierzig Jahren verfolgten ein Ziel: Ein scheinbar unbesiegbares Monster in den Köpfen der Iraner:innen heraufzubeschwören.
Auf einen Schlag bricht dieses Bild nun zusammen. Und das aus eigenem Antrieb – ohne eine zentrale Führung, ohne eine bestimmte Institution oder eine Persönlichkeit, die die Menschen organisiert. Die Proteste und die Art und Weise, wie die Protestierenden gegen die bewaffneten Sicherheitskräfte wehren, zeigen, dass sich ein wesentlicher Teil Irans sich dafür entschieden hat, sich diesem Monster zu stellen. Die Iraner:innen, die anders leben wollen, haben durch diese direkte Konfrontation festgestellt: Das Monster bäumt sich auf und ist alles andere als zahnlos, aber angreifbarer als es den Anschein erweckt.
Das Wiederwachen der Hoffnung
Ein Meme, das in letzten Tagen auf Twitter zu sehen war, stellt sehr gut dar, was nicht nur auf den iranischen Straßen, sondern auch in den Köpfen passiert: Während viele Iraner:innen, besonders aus der jüngeren Generationen, bis vor kurzem noch mit dem Gedanken spielten, möglichst schnell auszuwandern, weil sie – so das Meme – „diesen Ort hassten“, riskieren sie nun ihr Leben, um ihr Land zu verändern.
Die lange verblasste Hoffnung, dass ein besseres Leben in Iran möglich ist, lebt wieder auf. Diese Hoffnung zeigt sich in den Worten und Gesichtern der vielen Protestierenden – trotz massiver staatlicher Repression, die zu tausenden Verhaftungen und zum Tod von bislang mindestens 154 Menschen geführt hat.
„Frau, Leben, Freiheit“
Auslöser für diesen Aufstand war die mutmaßliche Ermordung der Kurdin Jîna Amini durch staatliche Kräfte nach ihrer Festnahme durch die iranische Sittenpolizei. Systematische geschlechtsbezogene Diskriminierung (oder wie es manche nennen: Gender-Apartheid) und die strukturelle Unterdrückung ethnischer Minderheiten gaben sich dabei die Hand.
Hierin liegt auch ein Momentum für die iranische Gesellschaft. Eine Protestwelle, die von Frauen angeführt wird und deren zentrale Parole Jin, Jiyan, Azadî [dt.: Frau, Leben, Freiheit] von einer ethnischen Minderheit [1] kommt, kann durch rechte Oppositionelle der Islamischen Republik kaum vereinnahmt werden. Die Ultra-Nationalist:innen und die Rechtskonservativen vertreten weder die Forderung nach dem Recht auf Selbstbestimmung für Frauen noch stellen sie sich gegen die Unterdrückung von Minderheiten. Der Ruf „Frau, Leben, Freiheit“ störte die Konservativen dermaßen, dass sie sich „in Ergänzung“ die Parole „Mann, Heimat, Entwicklung“ einfallen ließen. Von den Menschen, die bei den Protesten auf der Straßen ihr Leben riskieren, wurde diese jedoch kaum wahrgenommen.
„Frau, Leben, Freiheit“ erklingt stattdessen weiterhin der Ruf auf den Demonstrationen. Dabei symbolisiert „Frau“ die Forderung nach geschlechtsbezogener Befreiung. Zwar ist geschlechtsbezogene Diskriminierung in Iran auch Ausdruck der historisch gewachsenen patriarchalischen Strukturen, sie wird jedoch in erster Linie und systematischer Weise durch das islamische Regime aufrechterhalten und gesteuert. Der Ruf nach „Leben“ verleiht nicht nur dem Wunsch nach dem Wohl für alle Menschen Ausdruck, sondern auch nach dem Schutz der Umwelt. Und „Freiheit“ fordert Freiheit – in allen ihren Dimensionen: politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich, ethnisch und religiös.
Möglichkeit für einen progressiven Wandel
Selbst wenn dieser feministische und regimekritische Aufstand in Iran niedergeschlagen werden sollte, hat er schon vieles erreicht: Auf der politischen Ebene ist eine Spaltung innerhalb des Regimes zu beobachten bei der Frage, wie mit dem Hijab-Gesetz weiter umgegangen werden soll. Darüber hinaus vermuten viele Expert:innen, dass die Sittenpolizei in ihrer jetzigen Form nicht länger Bestand haben oder zumindest nicht mehr in diesem Ausmaß präsent sein werde.
Noch wichtiger aber sind die Erfolge auf der gesellschaftlichen Ebene: Die wiedererwachte Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Eine Zukunft, die die Iraner:innen mit eigenen Händen errichten wollen.
[1] Der Slogan wird seit Jahrzehnten in der kurdischen Frauen und Widerstandsbewegung verwendet.