Die Gründe hierfür liegen nicht nur in der seit Jahrzehnten gewachsenen Popularität des Muslimbrüder oder der Sehnsucht der Ägypter nach einer ordnenden Hand, die die Sicherheit auf den Straßen des Landes zurückbringt. Das Resultat der ersten Runde der Präsidentschaftswahl ist auch ein Ausdruck des Scheiterns der liberalen ägyptischen Opposition.
In der Euphorie der ersten Monate nach dem Sturz des Autokraten bildeten sich zwar diverse Kleinstparteien und Gruppierungen im Lager der Revolutionäre – eine breite Koalition, die sich auf gemeinsame Ziele verständigte, formierte sich jedoch nicht. Das sei auch gar nicht nötig, lautete noch im Spätsommer 2011 der verbreitete Tenor. Wenn die Gegner des inzwischen herrschenden Militärrates politische Forderungen stellten, genüge es, diese in Massenkundgebungen auf dem Tahrir-Platz lautstark einzufordern. Gegen die Macht der Straße könne die Armeeführung nicht regieren.
Mehrfach mussten sich die Revolutionäre eines Besseren belehren lassen. Trotz der Proteste liberaler Gruppen stimmten die Ägypter bereits im März 2011 für die vom Militär vorgelegten Verfassungsänderungen.
Noch deutlicher rächte sich die fehlende Organisation und Einheit der Revolutionäre bei der Parlamentswahl zwischen November und Januar. Sie spalteten sich in ein buntes Mosaik aus Kleinstparteien und Bündnissen auf, die zusammen etwa 15 Prozent der Stimmen erhielten – rechnet man die alteingesessene von Mubarak kooptierte Wafd-Partei hinzu, waren es 25 Prozent. Das islamistische Lager zeigte sich weitaus geeinter: Da gab es die von den Muslimbrüder gegründete Freiheits- und Gerechtigkeitspartei und die Partei des Lichts der Salafisten. Sie erhielten 37 bzw. 27 Prozent der Stimmen.
Die Kopten scharrten sich hinter Shafiq
Doch auch daraus zogen die Träger des Aufstandes keine Konsequenzen. Obwohl der Termin für die Präsidentenwahl seit Monaten feststand, konnte sich die liberale Opposition nicht auf einen aussichtsreichen gemeinsamen Kandidaten einigen. Wieder gaben die Gegner der Armeeführung ein Bild der Zerrissenheit ab: Viele boykottierten die Wahl, weil sie das Militär bezichtigten, keine freie Abstimmung zu ermöglichen. Andere scharten sich hinter dem gemäßigten Islamisten und Ex-Muslimbrüder Abd al-Munaim Abu al-Futuh. Senkrechtstarter der letzten Wahlkampfwochen war der Nasserist Hamdeen Sabbahi, der kurz vor den Wahlen die Sympathien vieler junger Ägypter auf sich zog. Ihm fehlten am Ende knapp 700.000 Stimmen zum zweiten Platz. Mit einer besser geplanten, effektiven Kampagne und ohne den Boykott vieler, hätte Sabbahi die Stichwahl mit Leichtigkeit erreichen können.
So bleibt die ägyptischen Revolutionären in der zweiten Runde nur die viel zitierte Wahl zwischen Pest und Cholera. Und das liegt eben nicht nur daran, dass die Islamisten bei weiten größte Wählerpotential haben und Shafiq vom Militär und den staatlichen Medien hofiert wird. Das Ergebnis ist auch Folge dessen, dass die liberalen Kräfte es nicht geschafft haben, ihre Anhängerschaft bei der Stange zu halten, geschweige denn auszubauen. Außerhalb der großen Metropolen Kairo und Alexandria stehen sie auf verlorenem Posten, weil sie bei den drängendsten Problemen der Ägypter – fehlende Sicherheit und mangelnde Versorgung mit Heizöl – wenig zu bieten haben. Das liegt freilich auch daran, dass ihnen im Vergleich zu den üppig finanzierten Islamisten und den bestens vernetzten Ex-NDP-Kadern wesentlich geringere finanzielle Mittel besitzen.
Offensichtlich wird das Versagen der Revolutionäre jedoch beim Umgang mit der koptischen Minderheit. Es ist ihnen nicht gelungen, den Christen die Angst vor einer islamistischen Machtübernahme am Nil zu nehmen. Nach dem Massaker der Sicherheitskräfte und ihrer Schlägertrupps an koptischen Demonstranten in Maspero haben sich die christlichen Ägypter auch von den säkular-orientierten Kräften im Stich gelassen gefühlt. Die Quittung kam am Wahltag: Nach Schätzungen von Demoskopen sollen mehr als 80 Prozent der koptischen Wähler ihr Kreuz bei Ahmad Shafiq gemacht und diesen damit in die Stichwahl gebracht haben. Ausgerechnet Mubaraks letzter Premier erscheint den Kopten nun als letztes Bollwerk gegen die Islamisten. Für viele Oppositionelle kein Grund zur Selbstkritik: Sie werfen den Christen im Gegenteil vor, den Steigbügelhalter für Shafiq zu spielen und den Revolutionären damit in den Rücken zu fallen.
Ein Wahlboykott hätte kaum Aussicht auf Erfolg
Diese setzen ihren unentschlossenen Kurs vor der Stichwahl weiter fort: Während einige fordern, Muslimbruder Mohammed Mursi als das geringere Übel zu wählen, rufen viele zum Boykott auf. Nur, was soll der bringen? Die Wahlen werden stattfinden, sie werden trotz aller Mängel die freiesten sein, die Ägypten seit Menschengedenken erlebt hat und sie werden einen Sieger hervorbringen, der im In- und Ausland allgemein anerkannt wird. Dieser Sieger wird die ägyptische Politik der kommenden vier Jahre maßgeblich mitbestimmen. Der Boykotteur mag sich mit seiner Stimmenthaltung moralisch überlegen fühlen, er verspielt jedoch auch sein Recht zur Mitbestimmung.
Bleibt also noch der Tahrir-Platz. Doch der Ort der Revolution hat seine Rolle als Gegenparlament inzwischen eingebüßt. Das zeigen nicht zuletzt die Proteste gegen die Urteile im Prozess gegen Ex-Präsident Mubarak und seine Helfer. Es versammelten sich zwar mehrere tausend Menschen seither auf dem Platz und auch die ersten Zelte wurden inzwischen wieder aufgestellt. Allerdings ist die Zahl der Demonstranten weit entfernt von den Menschenmassen, die sich noch im Februar 2011 auf dem Platz im Herzen Kairos versammelten. Es ist nicht mehr eine Regenbogenkoalition aus allen Bereichen der Gesellschaft, die sich dort versammelt. Längst kann es sich das Militär mit der schweigenden Mehrheit der Ägypter im Rücken leisten, gegen den Willen des Tahrir-Platzes zu handeln.
Vielleicht erlebt Ägyptens buntes Revolutionsbündnis eine Wiederbelebung, wenn der Mubarak-Höfling Shafiq nach der Stichwahl am 16. und 17. Juni zum Sieger ausgerufen werden sollte. Die Demonstranten, die derzeit auf dem Tahrir-Platz protestieren, fordern, dass er gar nicht erst antreten dürfe. Das wiederum offenbart ein zweifelhaftes Demokratieverständnis. Denn auch wenn man Shafiqs Ansichten und Parolen ablehnen mag – er hat die Kriterien zur Kandidatur erfüllt und mehr als 5,5 Millionen Ägypter haben ihm im ersten Wahlgang ihr Vertrauen geschenkt. Eine Zustimmung, von der die Revolutionäre von einst nur noch träumen können.