von Christoph Sydow (Hamburg) und Björn Zimprich (Beirut)
Mit großer Spannung hat der Libanon auf diesen Tag gewartet. Mehr als sechs Jahre nach dem Mord am ehemaligen libanesischen Premierminister Rafiq Hariri hat das Sondertribunal gestern Anklage gegen vier Libanesen erhoben, die den Anschlag vom 14. Februar 2005 in geplant und durchgeführt haben sollen. Zwei der Männer, Mustafa Badr al-Din und Salim Ayyash, sollen der Hizbullah angehören. Badr al-Din ist ein Cousin und Schwager des 2008 getöteten Hizbullah-Kommandeurs Imad Mughniyeh und soll diesen nach dessen Tod abgelöst haben. Ayyash soll die Zelle geleitet haben, die den Anschlag auf Hariri durchführte. Er soll neben der libanesischen auch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft besitzen.
Die beiden anderen Beschuldigten, Hassan Aineysseh und Asad Sabra, sollen keine Hizbullah-Mitglieder sein, aber zum Umfeld der Miliz gehören. Die Libanesische Regierung und die ihr unterstellten Behörden haben nun 30 Tage Zeit die Gesuchten auszuliefern. Innenminister Marwan Charbel bestätigte am Freitag, dass die vier Männer in der Anklageschrift benannt werden und zeigte sich gleichzeitig zuversichtlich, ihrer habhaft zu werden. Wir werden die Adressen der Beschuldigten herausfinden, ihre Häuser durchsuchen und sie festnehmen. Wenn wir sie beim ersten Mal nicht antreffen, werden wir ein zweites und drittes Mal dort hingehen."
Premier Miqati sitzt zwischen allen Stühlen
Die Gesuche kommen für die designierte libanesische Regierung unter Najib Miqati zur Unzeit. Schon so wurde wochenlang heftigste um das sogenannte Policy Statement gerungen. In dem Papier gibt die Regierung ihre Marschrute für die Regierungszeit vor. Knackpunkt in den Verhandlungen ist das Verhalten gegenüber dem STL. Nur Stunden vor der Veröffentlichung der Anklageschrift einigte sich Miqati mit seinem Koalitionspartner, der Hizbullah, auf einen Text für die Regierungserklärung. Darin versichert das neue Kabinett, die UN-Resolutionen zum Libanon zu respektieren und bekräftigt, dass man weiterhin an der Aufklärung des Hariri-Mordes interessiert sei. Nachdem die Namen der Angeklagten am Donnerstag an die Öffentlichkeit drangen, versuchte der Premier die Bedeutung der Ereignisse herunterzuspielen. "Anklagen sind keine Urteile und Anschuldigungen bedürfen stichhaltiger Beweise. Der Angeklagte ist unschuldig bis zum Beweis seiner Schuld."
Weiter erklärte er in einer Pressekonferenz: "Unsere Loyalität gegenüber dem Märtyrer Rafik Hariri drückt sich darin aus, dass wir daran festhalten, die Wahrheit zu erfahren um Gerechtigkeit zu üben und die nationalen Werte zu bewahren, denen Hariri Zeit seines Lebens verpflichtet war. An der Spitze dessen stehen die libanesische Einheit und Solidarität, die nationale Unabhängigkeit und die Koexistenz, die stets den Kern des Libanon ausgemacht hat."
Tatsächlich steht der 55-Jährige vor einem schwierigen Balanceakt: Denn zum einen ist der Libanon gezwungen, internationale Verpflichtungen einzuhalten und den Beschlüssen des UN-Tribunals Folge zu leisten. Gleichzeitig kann keine libanesische Regierung, egal welcher Couleur, Mitglieder der Hizbollah festnehmen ohne einen bewaffneten Konflikt zu riskieren. Miqati steht somit unter immensen Druck von allen Seiten. Auf der einen Seite die UN, sowie wichtigen internationale Akteure wie die USA und Frankreich und auf der anderen Seite Syrien sowie seine Verbündeten aus dem politischen Bündnis des 8. März, allen voran die Hizbollah.
Die Hizbollah zeigt unterdessen demonstrative Gelassenheit. Man sei auf die Vorwürfe vorbereitet und werde sich dazu nicht weiter äußern, verhieß es aus dem Umfeld der Partei. Nur Qassem Hashem, Parlamentsmitglied der Hizbollah, äußerte sich kurz und erklärte, der Zeitpunkt der Bekanntgabe sei "verdächtig".
"Ein Geschenk an unsere Märtyrer"
Ganz anders reagierte die sunnitische Mustaqbal-Bewegung der Familie Hariri. Der Parlamentsabgeordnete Atef Majdalani bezeichnete die Anklageschrift aus den Haag, als "Geschenk an unsere Märtyrer". Saad Hariri um den es in den letzten Monaten auffällig still geworden war bezeichnete sprach von einem "historischen Schritt". "Die Anklage des STL ist ein Wendepunkt in der Geschichte des Kampfes gegen organisierte politische Verbrechen im Libanon und in der arabischen Welt." Weiter erklärte der Ex-Premier, der das Land vor einigen Wochen aus Sicherheitsgründen verlassen hatte:
"Die libanesische Regierung ist angewiesen, Libanons Verpflichtungen gegenüber dem STL nachzukommen und niemand hat eine Entschuldigung dieser Verantwortung nicht nachzukommen. Libanons Regierung darf nicht davor zurückschrecken, die Beschuldigten zu verfolgen und sie der Justiz zu übergeben. Dies ist eine Garantie für Sicherheit und Stabilität. " Auch Samir Geagea von den Lebanese Forces forderte das neue Kabinett zur Kooperation mit dem STL auf.
Gespannte Ruhe macht sich derweil in der libanesischen Hauptstadt breit. Schon um die Mittagszeit am Donnerstag erhöhten die Sicherheitskräfte ihre Präsenz. Der Verkehr nahm ab. Von Zusammenstößen wurde allerdings nicht berichtet. Die südlichen Vororte, Hochburgen der Hizbollah blieben ruhig und auch im Mehrheitlich sunnitischen Westbeirut brauchen keine Jubelstürme los. Nicht wenige Libanesen hatte bis zum Abend noch keine Notiz von den Anklagen genommen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht jedenfalls nicht. Die Devise in der libanesischen Hauptstadt heißt abwarten und beobachten.
Mit Spannung wartet das Land nun auf eine für Samstag Abend geplante Ansprache des Hizbullah-Generalsekretärs Hassan Nasrallah. Dann wird klarer sein, wie die Hizbullah mit der Anklage umgehen wird. Der Parteichef hatte seine Anhänger im Laufe der letzten Jahre mehrfach darauf vorbereitet, dass Mitglieder seiner Miliz ins Visier des Sondertribunals geraten würden und das Verfahren stets als politische Waffe gegen seine Bewegung verurteilt. Es ist kaum zu erwarten, dass Nasrallah nun von dieser Linie abweichen wird. Es gibt jedoch auch libanesische Stimmen die es für möglich halten, dass die Hizbullah die Angeklagten an das Gericht ausliefert oder zumindest Verteidiger nach Den Haag entsendet, sollte sich die Miliz ihrer Sache sicher sein. Einen größeren Propagandaerfolg als einen Freispruch durch das Tribunal könnte sich die Partei Gottes schließlich kaum erträumen.
Die Namen zweier Angeklagter sickerten schon 2009 nach Außen
Für Aufsehen sorgt im Libanon der Zeitpunkt der Anklageerhebung. Gegner des Tribunals setzen die Veröffentlichung in Zusammenhang mit der geglückten libanesischen Regierungsbildung und den Unruhen in Syrien, dem wichtigsten arabischen Bündnispartner der Hizbullah. Über Parteigrenzen hinweg sorgt die Tatsache für Verwirrung, dass die Anklage solange auf sich warten ließ. Zwei der nun Angeklagten wurden bereits vor über zwei Jahren in einem Bericht des Spiegel unter Berufung auf das Umfeld des STL als Hauptverdächtige genannt. Einige libanesische Beobachter zeigen Unverständnis darüber, dass erst jetzt Anklage erhoben wird, wenn die wichtigsten Fakten offenbar schon 2009 bekannt waren. Die libanesische Tageszeitung al-Akhbar bezeichnet die Anklage auf ihrer Titelseite vom Freitag aus diesem Grund auch als "Entscheidung des Spiegel".
Jamil Sayyed, ehemaliger libanesischer Geheimdienstchef, der selbst von 2005 bis 2009 als Beschuldigter inhaftiert war, kritisierte die Anklage ebenfalls scharf. Immer wieder seien Interna der Ermittlungen nach Außen gedrungen. Erst vor zwei Jahren gegenüber dem Spiegel, nun hätten Politiker aus dem Hariri-Bündnis 14.März bereits vor zwei Wochen vom Zeitpunkt der Anklageveröffentlichung gewusst und damit Druck auf Miqati ausgeübt, erklärte Sayyed gegenüber Alsharq. Im Übrigen sei der Chefankläger Daniel Bellemare der wenige, der vier Jahre lang Sayyeds willkürliche Inhaftierung geduldet habe und bis heute seine schützende Hand über die "falschen Zeugen" halte, die damals zur Festnahme Sayyeds und dreier weitere Generäle geführt hatten. "Wie können wir dieser Anklage vertrauen?"
Trotz der Zweifel, die von vielerlei Seiten an der Glaubwürdigkeit des Tribunals gesät werden bleibt festzuhalten, dass die Anklageschrift Najib Miqati in die Enge treibt und den Libanon einmal mehr vor eine Zerreißprobe stellt. Nach dem im letzten Jahr alle Vermittlungsversuche und Kompromissangebote ausgeschlagen wurden, spricht vieles für eine weitere Polarisierung der Gesellschaft. Die Hizbollah hat ihre Linie gegen über dem STL im letzten Sommer definiert: Null Kooperation und keine Kompromisse. Nach Ansicht der Partei kann allein Israel für den Tod von Rafiq Hariri verantwortlich gemacht werden.
Auf der anderen Seite steht die Future-Bewegung um Saad Hariri. Der Sohn des Ermordeten ehemaligen Ministerpräsidenten kann eine Anklageerhebung nicht herunterspielen. Das ist er, in den Augen seiner Anhänger dem Erbe seines Vater schuldig. Damit potenziert sich der Druck auf Najib Miqati. Der sunnitische Unternehmer aus Tripoli geht ein hohes Risiko wenn er sich zu einseitig als Verbündeter der angeklagten Hizbollah generiert. Tripoli ist nicht umsonst als Hochburg der libanesischen Salafisten bekannt, welche bekanntlich nicht gut auf die schiitische Hizbollah zu sprechen sind.
Doch natürlich wird im Libanon bereits skizziert wie eine gesichtswahrende Lösung des Problems aussehen könnte. Pro forma werden die Sicherheitskräfte alles unternehmen um die Gesuchten aufzuspüren und zu verhaften. Niemand zweifelt daran, dass ihnen dies nicht gelingen wird, wenn es die Hizbullah nicht wünscht. Wichtig ist, dass zumindest nach Außen der Schein gewahrt wird, dass es die Regierung mit der Suche ernst meint. Doch vorsorglich verwies Innenminister Charbel am Freitag darauf, dass gegenwärtig zwischen 15000 und 20000 Libanesen mit Haftbefehl gesucht werden - bislang erfolglos.