27.12.2009
Das Blei ist gegossen

Am 27. Dezember 2008 startete Israel eine militärische Offensive gegen die im Gaza-Streifen regierende Hamas. Bei der 22-tägigen Operation „Gegossenes Blei“ sollte viel Blut fließen: Die Kämpfe waren die verlustreichsten in der Geschichte der Palästinensischen Autonomiegebiete.
Tage des Zorns
Dem Krieg vorausgegangen waren 3984 Raketen und 9434 Mörsergranaten, die seit 2001 auf israelisches Territorium abgeschossen wurden. Der massive Beschuss grenznaher Orte, der das Leben zum alltäglichen-tödlichen Würfelspiel machte, löste bei der Bevölkerung Unverständnis aus – Unverständnis über die eigene Regierung, die in ihren Augen tatenlos zusah. Als im Jahr 2006 die radikal-islamische Hamas schließlich noch Gilad Schalit, einen 20-jährigen Wehrdienstleistenden, entführte, wurde aus Unverständnis Zorn. Die heiße Negev-Wüste wurde zum Pulverfass: Kein Israeli konnte und wollte diese Ausnahme-Situation länger hinnehmen, nachdem im Jahr 2007 die Hamas zudem noch die vollständige Kontrolle über den Küstenstreifen übernommen hatte. Die Regierung um Ehud Olmert, Zipi Livni und Ehud Barak sah sich zum Handeln gezwungen – die Operation „Gegossenes Blei“ begann. Aus der Luft, am Boden und vom Meer aus nahm Israel den Gazastreifen unter Beschuss. Die Tage des Zorns wurden zu Tagen des Kampfes.
Wahlen im Schatten des Krieges
Aber nicht nur im Gaza-Streifen wurde gekämpft, sondern auch in Jerusalem, denn die am 10. Februar 2009 stattfindenden Knesset-Wahlen standen vor der Tür. Der Wahlkampf wurde zwar offiziell unterbrochen, aber es war offensichtlich, dass jeder Politiker versuchte, aus der Situation Profit zu schlagen. Außenministerin Zipi Livni versuchte den Krieg zu nutzen, um ihr Image als in Sicherheitsfragen unerfahrene Politikerin zu korrigieren, damit sie im Wettrennen um den Posten gegen ihre beiden Kontrahenten – die ehemaligen Elitesoldaten Barak und Netanyahu – in einem Wahlkampfentscheidenden Themengebiet punkten konnte. Auch als die internationalen Proteste im Laufe des Krieges immer lauter wurden und weltweit „Feuereinstellen“ gerufen wurde, sagte Livni: „Wir lehnen die humanitäre Pause ab und setzen die Aktion wie geplant fort.“ Ihr vermeintlicher Rivale um den Ministerpräsidentenposten, Ehud Barak, versuchte ebenfalls für die von ihm geführte Arbeiterpartei Stimmen zu sammeln – wie sich zeigen sollte, scheiterte dieser Versuch trotz der erfolgreich wahrgenommenen Militäroffensive kläglich. Ehud Olmert hingegen ging es nicht um die Zukunft, sondern um die Vergangenheit: Er wollte zeigen, dass er aus den Fehlern des Libanonkrieges gelernt hatte – über den innerhalb weniger Stunden entschieden wurde – und versuchte sich mit diesem durchdachten Militärschlag positiv von der Bühne der israelischen Politik zu verabschieden. Die Schlacht um das Amt des Ministerpräsidenten gewann jedoch weder der höchst dekorierte Soldat in der Geschichte Israels, Ehud Barak, noch seine – als Nachfolgerin von Golda Meir gepriesene – Rivalin Zipi Livni; vielmehr war es die Stunde der Hardliner: Benjamin „Bibi“ Netanyahu und Avigdor Liebermann.
Bibi und der Bulldozer
Die beiden zogen mehr als alle anderen politischen Kontrahenten Kapital aus dem Konflikt. Sie forderten die politische und militärische Führung des Landes auf, nicht auf halbem Weg stehen zu bleiben, sondern die „Sache zu Ende zu bringen“. Dass die beiden Politiker die bestehenden Ängste der Bevölkerung kannten, zum Teil für ihren Wahlkampf ausnutzten und die „starken Männer“ mimten, hatte Erfolg: Die zweiunddreißigste Regierung seit der israelischen Staatsgründung vor 61 Jahren hat Netanyahu zum Ministerpräsidenten. Und der sorgte im März 2009 mit der Ernennung Liebermanns zum Außenministert für eine Welle des internationalen Protests. Zu groß war die Angst vor dem unberechenbaren „Bulldozer“, zu oft hatte Liebermann schon diplomatische Sprengsätze gezündet. Er wolle Gaza wie Tschetschenien behandeln, ließ er verlauten, woraufhin Haim Yavin, der populärste Nachrichtenmoderator des Landes, ihn als ideologischen Nachfolger Meir Kahanes bezeichnete, dessen rassistische Kach-Partei in Israel verboten wurde und in den USA als Terrororganisation gelistet ist. Die schlimmsten Rassisten seien oft freundlich, humorvoll und nett gewesen – aber dahinter hätten sie ihre Schwarz-Weiß-Weltanschauung versteckt, die besage: „Wer nicht vorbehaltlose Loyalität zum Staat zeigt, ist gegen uns“, sagte Yavin. Warum wurde dieser ehemalige Rausschmeißer, Rowdy und Rechtspopulist zum Außenminister? Liebermann war das berühmte Zünglein an der Waage. Ohne seine rechts-säkulare, streng-nationalistische Partei „Israel Beitenu“ hätte Benjamin Netanyahu keine Regierung bilden können, sein ehemaliger Bürochef war der Königsmacher.
Die größte Regierung der Welt
Aber nicht nur „Israel Beitenu“ sitzt seit dem Gaza-Krieg am längsten Kabinettstisch der Welt, auch die religiös-sephardische „Schas“ (Akronym für „sephardische Thora-Wächter“), „Ha Beit Ha Jehudi“ („Das jüdische Haus“) sowie die von Ehud Barak angeführte Arbeiterpartei stellen Minister in der größten Regierung der Welt, die 30 verschiedene, notwendige und frei erfundene Ressorts vorzuweisen hat. Das ausgerechnet Barak seine sozialdemokratische Mitte-Links-Partei in eine Regierung mit Religiösen und Rechten geführt hatte, gibt vielen Analytikern bis heute Rätsel auf: Kann die Machtgier so groß sein, dass man seine politischen Überzeugungen über Bord wirft und einen radikalen Kurs einschlägt? Ja, so scheint es. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass der polternde Liebermann und seine Parteifreunde zwar ein schlechtes Licht auf die neue israelische Regierung werfen, er aber im Endeffekt an der kurzen Leine seines Herrschens läuft: Benjamin Netanyahu. Und dieser wird keinen rechtsradikalen, sondern einen Kurs der Mitte fahren – genau wie Ehud Barak es will. Deshalb ist dieses Bündnis aus Rechten und Linken, Säkularen und Religiösen gar nicht so seltsam, wie es auf den ersten Blick scheint – auch wenn in Israel selbst, im Vorfeld der Wahlen, eine heftige Diskussion über die Größe und politische Vielfalt der Regierung entbrannt war. Ben Caspit, Redakteur der israelischen Zeitung Maariv, bezog in einem Leitartikel Ende Februar Stellung und schilderte die Lage Netanyahus eindrücklich: „Seine Lage ist schon sonderbar. Einerseits hat er klar das Mandat erhalten, eine stabile Rechts-Regierung zu bilden. Eine Regierung, die es ihm möglich macht, seine Versprechen gegenüber seinen Wählern einzuhalten. Andererseits macht ihm das Angst. Er ist frei, aber ganz alleine. Wie sehr würde er sich Zippi Livni oder Ehud Barak an seiner Seite wünschen, damit sie ihn daran hindern, all das umzusetzen, was er gesagt hat. Damit sie ihm eine Ausrede geben.“
Caspit greift jedoch noch einen anderen Aspekt auf, der sehr deutlich veranschaulicht vor welchen Problemen Israel nach dem Gaza-Krieg – aber auch schon viel früher – stand, heute steht und weiter stehen wird: „Die Medien schüren das Feuer der „Einheit um jeden Preis“, als ob eine Rechts- Regierung einen Vernichtungskrieg bedeuten würde, der das Land überflutet. Als ob es hier noch nie Rechts-Regierungen gegeben hätte, als ob infolge deren Bildung in der Vergangenheit ganz schreckliche Dinge geschehen wären. Wer das wirklich überprüft, kann feststellen, dass genau das Gegenteil der Fall ist.“ Von 1948 bis 1977 haben linke, sozialistische Parteien den israelischen Kurs festgelegt, einen Konfrontationskurs: Vier Kriege hat man gegen arabische Gegner gewonnen – doch es ist nicht ein einziges Mal gelungen, diese militärischen Siege in einen dauerhaften Frieden zu verwandeln. Die Widersacher der Tauben, die Falken des Likud, verleihen dem Frieden jedoch – so absurd es scheinen mag – Flügel: „Die Rechts-Regierung von Begin hat den Frieden mit Ägypten geschlossen (und danach einen Krieg im Libanon begonnen). Die Regierung Shamir hat gar nichts getan, hat aber Stabilität bewahrt. Die Regierung Netanjahu hat Hebron geräumt, das Wye Abkommen unterzeichnet und fast den Golan zurückgegeben. Wovor haben hier also alle solche Angst? Warum soll man die Rechten ihre Meinung nicht ausdrücken lassen? Woher kommt diese Überheblichkeit, sich über die deutliche Mehrheit im Volk hinwegzusetzen, die an die Wahlurnen gestürmt ist, und Bibi gewählt hat, oder Liebermann, oder den Rabbiner Ovadia, oder irgendeine andere Rechts- oder Orthodoxenpartei? Die Friedensregierung von Kadima und Ehud Olmert, die zwei Staaten für zwei Völker versprochen hat, hat ja einem Volk zwei Kriege in drei Jahren gebracht. Anscheinend reicht das alles nicht.“ Viele Israelis sehen das genauso: Nach der Wahl werden die Rechten ihre Demagogie ablegen und pragmatisch einen Weg zu einem kalten Frieden – so wie er mit Ägypten seit über 30 Jahren besteht – zu finden versuchen. Und um diesen Weg zu gehen, gab es zu Beginn dieses Jahres, nach dem Ende der Operation „Gegossenes Blei“, nur einen Politiker, dem man noch am ehesten diese Aufgabe zutraute: Benjamin Netanyahu.
Der Bruder einer Legende
Er ist nicht irgendwer. Die ganze Nation nennt ihn „Bibi“ und er hat einen weiten Weg hinter sich, als er am 31 März 2009, rund sieben Wochen nach der Parlamentswahl und knapp drei Monate nach dem Ende der Gaza-Offensive zum Ministerpräsident vereidigt wird. „Wir wollen kein anderes Volk regieren. Wir wollen nicht die Palästinenser regieren“, sagt er in seiner ersten Ansprache. Das war nicht immer so. Sein Marsch durch die Institutionen hat ihm schon viele Ämter beschert, aber auch viel Ärger. Schon einmal war er Ministerpräsident – 1996 bis 1999 – 1998 und in den Jahren 2002 bis 2003 Außenminister; Erfolg hatte er jedoch keinen: Zu ungestüm und zu ungeduldig trat er auf, wollte immer alles oder nichts. Politische Rückschläge waren das eine, sein persönliches Schicksal das andere. Benjamin Netanyahu war vor allem – und ist es bis heute – der kleine Bruder von Yoni, der israelischen Legende. Yoni Netanyahu hatte die israelische Spezialeinheit „Sayeret Matkal“ (dt.: „Späher der Generalstabs“) angeführt, die 1976 mehr als 90 Geiseln einer von Palästinensern entführten Air-France-Maschine in Entebbe, Uganda, rettete. Einziges Opfer des Kommando-Unternehmens auf israelischer Seite war Yoni Netanyahu, der Bruder von Benjamin.
Der lange Schatten seines zum Helden gewordenen Bruders und die diversen politischen Rückschläge haben den einstigen Hardliner Netanyahu zum Pragmatiker Bibi werden lassen. Die Sturm und Drang Phase hinter sich gibt er sich heute weitsichtiger und „durchläuft, wenn auch langsamer, was Menachem Begin, Ariel Sharon, Yitzhak Rabin und viele andere durchlaufen haben“, wie vergangene Woche in der israelischen Tageszeitung Yedioth Ahronoth zu lesen war. Aus diesem Grund ist an Netanyahus Seite sein langjähriger Widersacher Ehud Barak, anstelle des gefürchteten und international verachteten Avigdor Liebermann, zu sehen und zu hören. Durch diese taktische Maßnahme gelang es dem neuen Ministerpräsidenten schon früh einen der vielen regierungsinternen Konfliktherde auszuschalten und sich auf die schwierigen Aufgaben zu konzentrieren, die es national und international seit dem Gaza-Krieg zu bewältigen galt.
„Ich nenne das Mord“
Und die hatte Netanyahu im Laufe dieses Jahres genug zu bewältigen. Bereits kurz nach dem Ende der Kampfhandlungen sorgte die links-liberale israelische Tageszeitung Haaretz mit einem Bericht für Aufsehen: Offiziere berichteten, dass es während ihres Einsatzes in Gaza-Stadt und anderen Ortschaften „freizügige Einsatzregeln“ gegolten hätten. Die Veröffentlichungen führten zu einer kontrovers geführten Diskussion, die durch Radioberichte – in denen Textpassagen – vorgelesen wurden, noch weiter angeheizt wurde. In einem der veröffentlichten Berichte hieß es: „Eine alte Frau ging den Weg entlang, keine Ahnung, ob sie verdächtig war oder nicht, die Scharfschützen haben sie umgelegt. Das ist das Schöne an Gaza sozusagen – Du siehst einen Menschen auf einem Weg gehen, nicht unbedingt bewaffnet, und Du kannst einfach auf ihn schießen.“ Laut der Tageszeitung Haaretz gab es innerhalb der israelischen Einheit vor dem tödlichen Schuss eine Diskussion über die Auslegung der Einsatzregeln. Dabei sei herausgekommen, dass alle noch im Zentrum Gazas verbliebenen Menschen Terroristen seien und erschossen werden könnten. Daraufhin habe ein Offizier die Tötung der alten Frau befohlen.
Der Militärstaatsanwalt nahm strafrechtliche Ermittlungen auf, nach nur elf Tagen legte er den Fall aber zu den Akten. Die Berichte der Soldaten basierten „auf Hörensagen und nicht auf Erfahrungen aus erster Hand“, verkündet der Armeesprecher. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu setzte sich, entgegen internationaler Forderungen, ebenfalls nicht für eine eindeutige Aufklärung der Geschehnisse ein, sondern stellte sich demonstrativ vor seine Soldaten und erklärte zusammen mit Verteidigungsminister Ehud Barak, dass „Israels Armee eine der moralischsten weltweit“ sei. Ansonsten hüllten sich die beiden in Schweigen, auch nachdem berichtet wurde, wie Armee-Rabbiner die Soldaten mit religiösen Parolen für den Kampf gegen die radikal-islamische Hamas indoktriniert hätten. Die Rabbiner hätten massenhaft religiöse Texte verteilt, die den Kampf gegen die Hamas in einen Glaubenskrieg uminterpretiert hätten: „Immer wieder hat man uns gesagt: Wir Juden sind durch ein Wunder in dieses Land gekommen. Wir müssen kämpfen und die Nicht-Juden aus unserem Land vertreiben“, wird ein israelischer Soldat in Haaretz zitiert. Die schockierenden Berichte von „Kriegsverbrechen“ und menschenverachtender Behandlung gegenüber palästinensischen Zivilisten wurden durch den sogenannten „Goldstone-Bericht“ untermauert.
„Wir sind keine Armee von Plünderern und Räubern“

Der Bericht fasst die Ergebnisse einer Untersuchung über den Gaza-Krieg zusammen. Er wurde im Auftrag des UN-Menschenrechtsrates unter der Federführung des südafrikanischen Richters Richard Goldstone verfasst. Bei seiner Veröffentlichung im September dieses Jahres sagte er zur Weltpresse: „Die derzeitige Abwesenheit von Gerechtigkeit unterminiert jede Hoffnung auf einen Friedensprozess und verstärkt das Umfeld, in dem Gewalt gedeiht.“ Sollten die israelische Regierung und die Behörden in Gaza in den nächsten sechs Monaten nicht gemäß den Regeln des Uno-Sicherheitsrats ermitteln, werde er die Angelegenheit wegen Kriegsverbrechen und möglicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit dem Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag übergeben, kündigte Goldstone damals an. Sein Bericht führte zu einer Welle der Empörung in Israel: Zum Einen, weil der Südafrikaner selbst jüdischen Glaubens ist und der Vorwurf des „jüdischen Selbsthasses“ laut wurde, zum Anderen, weil der Bericht nach Meinung der israelischen Regierung anti-israelisch sei. In der religiös-zionistischen Tageszeitung Ha Tzofeh kommentierte Amnon Lord, den Bericht besonders scharf: „Israel braucht keine juristischen Untersuchungen unter Druck von außen anzustellen; niemand wird dem Staat Israel Moral predigen, weil er sich als demokratischer Rechtsstaat verhält. Der Goldstone-Bericht ist das Ergebnis eines anti-israelischen und pro-terroristischen politischen Apparats. Goldstone ist der Vertreter eines Landes, das Gastgeber der modernen Nürnberger Konferenz in Durban war, vor 8 Jahren. Irren wir uns nicht: Es handelt sich um die Nürnberger Konferenz der anti-jüdischen Gesetze, nicht um das Nürnberg der Prozesse gegen Kriegsverbrecher.“ Trotz der Kritik Israels, der Bericht sei einseitig verfasst worden, reagierte Benjamin Netanyahu und gab dem internationalen Druck nach. Er setzte im Oktober diesen Jahres eine Regierungskommission ein, die die Vorfälle seither untersucht. Es solle aber keine interne Untersuchung zu möglichen Rechtsverstößen der Armee geben, hieß es in den israelischen Medien. Die bestehenden internen Kontrollverfahren der Armee seien „hervorragend“, zitierte ein Regierungsvertreter Netanjahu, der mit Vertretern verschiedener Ministerien und ranghohen Beamten über die Konsequenzen des Goldstone-Berichts für die israelische Diplomatie, das internationale Kriegsrecht und Israels Ansehen in der Welt beraten hatte. Im November wurde Generalstabschef Ashkenazi vor die Kommission geladen. Er wies alle Vorwürfe zurück und erklärte, „wir sind keine Armee von Plünderern und Räubern.“ Gleichzeitig warnte Ashkenazi vor Angriffen der libanesischen Hisbollah und der Hamas, die beide von Iran finanziert würden.
Blutige Warnung nach Teheran

Dass die schiitischen Religionswächter der islamischen Republik Iran beiden Widerstandsgruppen seit langem mit Geldern und Waffen finanzieren, gilt als offenes Geheimnis. So auch – nach Angaben der Militärzeitschrift Schweizer Soldat, die sich auf interne Berichte des israelischen Verteidigungsministeriums bezieht – während des Gaza-Krieges. Bei der damaligen Seeblockade soll die israelische Marine Behälter entdeckt haben, die von iranischen Frachtern im Mittelmeer ins Wasser gelassen worden waren. An Bord der Frachter hätten sich iranische Offiziere befunden, die überwachten, dass die Behälter am richtigen Ort und in der richtigen Tiefe freigegeben wurden. Unterwasserströme hätten die Container dann in die Richtung Gaza-Küste getrieben, und ein eingebauter Mechanismus die Behälter dort wieder an die Oberfläche getrieben. Am Strand hätten arabische Fischer bereit gestanden, die Fracht zu bergen. Inwieweit das wahr oder unwahr ist, lässt sich bis heute nicht genau feststellen. Feststellen lässt sich jedoch die Tatsache, dass Israels Armee bei der Operation „Gegossenes Blei“ nicht nur gegen die Hamas vorging, sondern die Offensive viel mehr als eine blutige Warnung nach Teheran verstanden werden muss. Durch die undurchsichtigen Atomanreicherungspläne, die andauernde Kriegsrhetorik und die Leugnung des Holocausts setzt Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad Israel mehr als nur Nadelstiche zu. Der Holocaust wirft bis heute seine Schatten auf den wehrhaften Judenstaat. Die Angst vor einem zweiten Holocaust ist so groß, dass Israel jeden Preis zu zahlen bereit ist um zu überleben – auch auf die Gefahr hin, dass es sich zunehmend internationaler Isolation aussetzt und Verbündete verprellt. Dass die Regierung ohne mit der Wimper zu zucken bereit ist den Kampf mit dem Iran aufzunehmen und dass man Teheran für den eigentlichen Gegner hält, wurde schon während der Kampfhandlungen vergangenen Jahres deutlich. Staatspräsident Shimon Peres reiste Anfang Januar 2009 nach Beersheva und verkündete dort – nach Berichten der Jerusalem Post – vor Reservisten: „Hier geht es nicht um Hamas oder Hisbollah. Hier geht es um den Iran. Hamas sind direkte Abgesandte des Irans.“ Unterstützung erhielt Pers von zwei Professoren des Shalem-Zentrums für strategische Studien in Jerusalem. Die beiden schrieben in einem Artikel der Los Angeles Times: „Für Israel ist die gegenwärtige Operation gegen Hamas eine einmalige Chance dem iranischen Expansionismus einen strategischen Schlag zu versetzen. Der Iran hat Hamas auserwählt, um den israelisch-palästinensischen Konflikt in einen Dschihad gegen den jüdischen Staat zu verwandeln.“
Das Dilemma des Küchenkabinetts

Mit dem mächtigen Verbündeten im Hintergrund scheint die Hamas kaum bezwingbar – und lässt auch ein Jahr nach dem blutigen Konflikt mit Israel weiterhin die Muskeln spielen. Bei einer Jubelfeier Mitte Dezember, anlässlich der Hamas-Gründung vor 22 Jahren, bekräftigte Ismail Hanijah man wolle Israel wieder von der Landkarte verschwinden lassen. Dass die Hamas neben der Kriegsrhetorik im Stakkato-Stil aber auch verhandeln kann, zeigen die indirekten Gespräche mit Israel über den Austausch Gilad Shalits, die von einem deutschen Vermittler geleitet werden. Immer wieder wurden die Verhandlungen unterbrochen, dann abgebrochen und wieder aufgenommen. Die Situation in der die israelische Regierung sich im Fall Shalit befindet ist ein Dilemma: Auf der einen Seite will man den jungen Mann aus der Gefangenschaft zurück nach Israel bringen, auf der anderen Seite will man der Hamas nicht erlauben, die Bedingungen zu diktieren und immer mehr palästinensische Inhaftierte freilassen. Gilad Shalit war mit ein Grund für die israelische Militäroffensive vor einem Jahr und wird pünktlich zur Jährung des Krieges wieder zum politisch heißen Eisen. In dem Massenblatt Jedioth Ahronoth war vergangene Woche – wie in allen anderen Zeitungen des Landes – zu lesen, wie schwer sich Benjamin Netanyahu und sein „Küchenkabinett“ – bestehend aus sieben Ministern – bei der Entscheidungsfindung tut. „Ein Staat, der keine Option öffnet – weder eine militärische Rettungsaktion, noch Bezwingung der Hamas auf militärischen oder wirtschaftlichen Wegen – der hat letzten Endes keine andere Wahl, als zu kapitulieren. Denn es gibt eine Option, die die israelische Regierung nicht hat: Gilad Shalit in Gefangenschaft zu lassen. Drei Jahre sind mehr als genug.“ Im Moment sieht es aus, als akzeptiere Netanjahu die Richtlinien des Geschäfts nicht. „Das Dilemma, vor dem die sieben Minister stehen, ist, ob die jetzigen Richtlinien akzeptiert oder abgelehnt werden sollen. Eine negative Entscheidung muss in positive Erklärungen gehüllt werden, ansonsten wird man der Regierung vorwerfen, sie riskiere Gilads Leben.“ Für Benjamin Netanyahu wird dieser Fall, über den er am Ende ganz allein entscheiden muss, zu einem Härtetest: „Netanjahu muss sich jetzt ausschließlich auf das Wesentliche konzentrieren: Überwiegen die künftigen Gefahren des Geschäfts die Pflicht, den Soldaten nach Hause zu bringen? Wie wird der Deal künftige Terrorakte beeinflussen? Wird es die Palästinenser zu weiteren Entführungen verleiten? Wie wird es sich auf die israelische Abschreckungskraft auswirken? Was letzten Endes entscheidend sein muss, das sind nicht Ratschläge von der einen oder anderen Stelle, auch nicht die Meinung von Experten oder der Druck der Familie. Die Instinkte müssen entscheiden“, schreibt die Jedioth Ahronoth. Für Netanjahu ist dies der erste Test seiner Führungsqualitäten in dieser Amtszeit. Er steht all dem gegenüber, was er in der Opposition jahrelang gepredigt hat, den Büchern, die er geschrieben, den Reden, die er gehalten hat. Er will Sicherheit, er will Frieden, er will Gilad Shalit nach Hause holen – nur zu welchem Preis?

Mission complete?

Die Frage welchen Preis Israel für Gilad Shalit bereit zu zahlen ist, wird sich zeigen. Die Frage welchen Preis Israel für die Gaza-Offensive „Gegossenes Blei“ im vergangenen Jahr gezahlt hat, lässt sich dagegen schon beantworten: Einen hohen Preis, der alles auf eine Karte setzt. Israel hat nach dem Krieg eine neue Regierung gewählt, sich geweigert mit der UN-Menschenrechtsrats-Kommission zusammenzuarbeiten, und beharrt auf seinem Recht zur Selbstverteidigung. Ein Jahr nach dem blutigen Gaza-Krieg sind die Fronten verhärteter denn je, Israel will die Blockade des dicht besiedelten Palästinensergebiets am Mittelmeer nicht aufheben, ein Wiederaufbau tausender zerstörter oder beschädigter Gebäude war deshalb bislang nicht möglich und viele Menschen leben deshalb weiter im Elend. Um diesem Elend zu entgehen gibt es für viele Zivilisten nur eine Möglichkeit: Die Versorgung durch die vielen Tunnel, die an der Grenze des Gaza-Streifens zu Ägypten tief unter der Erde verlaufen und sie mit Lebensmitteln versorgen. Diese waren in der ersten Angriffswelle der israelischen Offensive das Hauptziel – Tonnen von Bomben wurden auf die Tunnel geworfen, um die Nachschubwege der Hamas zu vernichten. Denn neben der Versorgung der Zivilisten mit Lebensmitteln ist durch das Tunnellabyrinth der Waffennachschub der Hamas sicher gestellt. Das wollte Israel verhindern, mit mäßigem Erfolg: Der Kommandant des Südabschnitts, Yoav Galant sagte vergangene Woche auf einer Pressekonferenz in Tel Aviv, dass „die Ruhe im Süden nur vorübergehend ist und jeden Augenblick vorbei sein kann“. Die israelische Tageszeitung Maariv gab darauf hin ein doppelseitiges Spezial heraus, indem Shimon Ifergen über das Tunnelsystem schrieb: „Ein Jahr nachdem sie bei „Gegossenes Blei“ schwer bombardiert wurden, blühen die Tunnels im Gazastreifen wieder auf. 50 000 der Bürger des Gazastreifens sind an dieser einbringenden Industrie beteiligt, die dem israelischen Sicherheitsapparat den Schlaf raubt.“ Betrachtet man nun die Ziele Israels, die mit der Operation „Gegossenes Blei“ erreicht werden sollten, so stellt man fest: Der Tunnelbau wurde gestoppt, aber nicht dauerhaft unterbunden; der Dauerbeschuss grenznaher israelischer Orte konnte massiv vermindert werden; Gilad Shalit ist immer noch in Gefangenschaft und die Hamas weiter an der Macht im Gaza-Streifen. Zudem hat die israelische Armee durch ihr rigoroses Ein- und Durchgreifen – dem insgesamt 1400 Menschen zum Opfer fielen – eine gewaltige moralische Niederlage erlitten.
Die Weichen sind gestellt

Feststeht also, dass Israel seine Kriegsziele nicht vollständig erreicht hat und deshalb im vergangenen Jahr systematisch daran gearbeitet hat, sich zu rüsten für den Krieg, vor dem sich das ganze Land fürchtet; um bereit zu sein für den Krieg, der in drei Jahren zwei Generalproben hatte: Den Libanon-Feldzug 2006 und die Gaza-Offensive 2009. Aus diesem Grund wird jede öffentliche Kritik am Militär zurückgewiesen, wurde eine neue Regierung gewählt, deren Ministerpräsident und sein Verteidigungsminister zu den höchst dekoriertesten Soldaten des Landes gehören, und denen man zutraut, die apokalyptische Vision der zweiten Vernichtung von Israel abzuwenden und das Land vor dem Gegner der Gegner zu verteidigen: dem Iran. Israel hat Angst und dreht sich im Kreis; die Weichen sind gestellt für die Auseinandersetzung, die man nicht haben will, die jedoch – so die Meinung in Israel – unvermeidlich ist. Der Leiter des israelischen Militärgeheimdienstes, Amos Yadlin, sagte bei einer Konferenz zur Sicherheitslage der Nation, dass die israelische Abschreckungskraft groß sei, die Feinde Israels nützten jedoch die derzeitige Ruhe zu ihrer Aufrüstung. „Der Iran, Syrien und die Hisbollah haben heute das Potenzial, das Zentrum Israels anzugreifen. Unsere Feinde ruhen keine Minute“, sagte Yadlin.

Aus dem Gaza-Krieg der Amtsvorgänger Netanyahus wird vor allem Eins deutlich: Was in Gaza stattfand war ein doppelter Krieg der Waffen und der Bilder. Im Krieg der Waffen ist Israel ebenso überlegen wie es im Krieg der Bilder unterlegen ist. Die Hamas wird mit ihren Katjuscha-Raketen niemals Israels „auslöschen“, wie sie es immer wieder predigt und fordert, aber sie können den Israelis so das Leben unerträglich machen. So lange, bis die eigene Bevölkerung wieder ein Eingreifen von ihrer Regierung verlangt – und die über das Ziel hinausschießt. Das ist postmoderne Kriegsführung, die nicht auf Geländegewinn zielt, sondern auf Herz und Verstand der Menschen. Wie anders ist es zu erklären, dass Israel international und sogar von Teilen der arabischen Welt Verständnis entgegengebracht bekam, als die Offensive startete, aber diese, nach dem unverhältnismäßigen Verhalten der Israelis, in Hass und Ablehnung umschlug? Von diesem ewigen Katz-und-Maus-Spiel zwischen Israel und der Hamas profitiert weder die eine noch die andere Seite. Beide Konfliktparteien bekämpfen sich auf dem gemeinsamen Stück Land in Grund und Boden. Ein Gewinner hatte dieser Konflikt jedoch: der Iran. Für Israels Militärs ist klar: die Milizen in Gaza und dem Libanon sind das Fußvolk und die erstrebte Atombombe künftig Trumpf aller Trümpfe. Ziel ist der religiös-sozial-politische Umsturz der gesamten Region. In Gaza ging es um die Macht des Iran und dieser Krieg war wegweisend. Was hat Gaza nun gebracht? Nichts. Aber eins steht fest: Das Blei ist gegossen.