Islamistische Bewegungen in arabischen Staaten haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten stetig an Einfluss gewonnen – nicht nur als politische Kraft, die es in die Parlamente zieht, sondern vor allem als zivilgesellschaftliche und soziale Akteure, die immer dort aktiv werden, wo der Staat seiner sozialen Verantwortung nicht gerecht wird. Das islamistische Engagement ist daher ein guter Parameter für gesellschaftliche Probleme und Defizite staatlicher Funktionen.
Mit dem Ziel der Islamisierung der Gesellschaft „von unten“ versuchen islamistische Bewegungen, islamische Werte zu fördern und Schritt für Schritt die Deutungshoheit über moralische Fragen zu erlangen. Diese Strategie hat für viele Bewegungen einen höheren Stellenwert als kurzfristige Wahlerfolge, die durch neue staatliche Repressionen schnell wieder zunichte gemacht werden können.
Eines dieser gesellschaftlichen Probleme derer sich der arabische Staat kaum annimmt, sind die steigenden Kosten für Hochzeiten und Ehe – mit tiefgreifende Konsequenzen für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft. Aus diesem Grund engagieren sich islamistische Bewegungen immer stärker auf dem Gebiet und organisieren z.B. Massenhochzeiten.
Das Problem der hohen Kosten für Hochzeiten ist sehr komplex. Die Erwartungshaltung von Verwandten und Freunden an eine luxuriöse Hochzeit in edlen Hotels ist nicht nur ein Phänomen der Oberschicht. Inspiriert von Traumhochzeiten aus Film und Fernsehen möchte auch der Durchschnittsbürger nicht auf Luxus verzichten. Auch das romantische Feuerwerk darf nicht fehlen – ein Phänomen das jeder kennt, der schon mal nachts auf dem Highway zwischen Beirut und Tripoli unterwegs gewesen ist. Die Kosten dieses schönsten Tages im Leben übersteigen aber meist die finanziellen Möglichkeiten des Paares bei weitem. Sie brauchen oft Jahre, um die Kredite wieder abzuzahlen.
Ein rauschendes Hochzeitsfest wird auch in den ärmsten Bevölkerungsschichten erwartet. Weil Beschäftigungsmöglichkeiten und Einkommen im Nahen Osten aber begrenzt sind, bleiben Männer immer länger unverheiratet. Denn nicht nur die Festlichkeiten sind kostspielig. Von der Familie des Bräutigams wird oft auch eine Mitgift für die Braut erwartet, z.B. in Form von Möbeln. Vom Ehemann wird weiter erwartet, dass er die Wohnung und den Unterhalt der Familie bestreiten kann. Außerdem sollte er der Braut als eine Art Versicherung eine möglichst große Menge an Gold überreichen.
Die Hochzeit ist in traditionellen Schichten keine rein individuelle Angelegenheit des Paares. Arrangierte Hochzeiten haben immer noch die Funktion, den Familienkreis, bzw. Familienclan zu erweitern, soziale Netze auszubauen und soziale Sicherheit herzustellen.
Für eine islamistische Bewegung wie die Hamas lohnt sich das Engagement in diesem Bereich mehrfach: Sie leistet einen Beitrag zur Aufrechterhaltung traditioneller islamischer Traditionen und Werte, bietet Hilfe bei der Bewältigung eines dringenden sozio-ökonomischen Problems mit dem Mittel der islamischen Solidarität (wodurch sie sich als glaubwürdige Regierungsalternative repräsentiert) und bindet zugleich Sympathisanten (mitunter ganze Familienclans) langfristig an sich – wahrscheinlich ein Leben lang. Der finanzielle Aufwand hält sich derweil in Grenzen, weil die Hamas nur Gelder einsetzt, die sie zuvor zum Zwecke des Hochzeitssponsoring weltweit eingetrieben hat. Ihr kommt dabei zugute, dass in den meisten arabischen Staaten die islamische Almosensteuer (zakat) für diesen Zweck verwendet werden darf.
Manche islamistische Institutionen, wie etwa die von den Muslimbrüdern betriebene „Afaf“ in Jordanien, verstehen sich als umfassende Hochzeitsdienstleister. Ihr Service umfasst nicht nur die Organisation von Massenhochzeiten, sondern schließt auch Partnervermittlung, zinsfreie Ehekredite und Bildungsseminare über Themen wie die Bedeutung der Ehe, Kindererziehung, Sexualaufklärung usw. ein. Diese Aktivitäten verfolgen offen das Ziel, islamische Werte gegen eine Verwestlichung zu verteidigen. Als Zeichen westlichen Einflusses wird auch der Trend zu immer luxuriöseren Hochzeiten abgelehnt. Die islamistischen Massenhochzeiten finden daher bewusst in einem vergleichsweise bescheidenen Rahmen statt, denn Prunk und Überfluss gelten als „unislamisch“.
Die hohen Kosten der Hochzeit sind für Islamisten weniger ein ökonomisches Problem, als eine Gefahr für islamische Werte und für den Zusammenhalt und das Wachstum der islamischen Glaubensgemeinschaft, der Umma. Die Familie soll der Ort sein, an dem religiöse Werte vermittelt werden. Islamisten sehen deshalb vor allem im stetig steigenden Heiratsalter den Islam an sich gefährdet und identifizieren als direkte Folgen des Problems die Verbreitung von vorehelichem Geschlechtsverkehr, Abtreibung und Prostitution.
Die Hamas nutzt Hochzeiten auch dazu, die besonderen Herausforderungen durch die Konfliktsituation im Gazastreifen zu bewältigen. Im Juli 2009 organisierte Hamas in Gaza eine Hochzeit, auf der 100 Witwen verheiratet wurden, deren Männer als „Märtyrer“ im Gazakrieg 2008 gestorben sind. Oft war es der Bruder des Gestorbenen, der die Witwe heiratete und dafür 2.800 US$ von der Hamas erhielt.
Bisher fanden alle von der Hamas organisierten Hochzeiten im Gazastreifen statt. Seit neuestem ist die Hamas auf diesem Gebiet auch im Libanon und in Syrien aktiv. Am 18. Juli diesen Jahres organisierte die Hamas die erste Massenhochzeit unter Palästinensern im Libanon. 50 Paare aus allen Flüchtlingslagern des Libanon wurden so im Stadion von Saida getraut. Die Auswahlkriterien waren eine palästinensische Herkunft, Bedürftigkeit und „Tugendhaftigkeit“, womit wohl eine gewisse ideologische Nähe zum Weltbild der Hamas gemeint ist. Als Geschenke erhielten die Paare Waschmaschinen und Küchengeräte, die direkt bei der Veranstaltung verteilt wurden. Einer Rede einer lokalen Hamas-Größe folgten arabische Dabke-Musik zu Kaffee und Kuchen. Auch die palästinensische Nationalhymne wurde gespielt. Der Organisator der Veranstaltung, Hamas-Mitglied Ahmad Abd al-Hadi, erklärte der libanesischen Tageszeitung Al-Balad, dass die Hilfe für die Paare über den finanziellen Aspekt hinausgingen. Ziel sei es auch, die palästinensische Familie in den Islam und die palästinensische Tradition einzubinden.
Die Veranstaltung in Saida fand übrigens unter dem Motto „Unser Glück ist vollkommen am Tage unserer Rückkehr“ statt. Damit unterstrich die Hamas auch ihr politisches Programm, das ausdrücklich das unveräußerliche Rückkehrrecht der Flüchtlinge betont. Diese Botschaft ist vor allem gegen die PLO gerichtet, der die Hamas vorwirft, das Rückkehrrecht verkauft zu haben, als sie Israel im Rahmen der Osloer Verträge in den Grenzen von 1967 anerkannte. Somit nutzte die Hamas diese Aktion im Libanon auch dazu, gegen die politischen Rivalen zu mobilisieren.
Auch in Yarmouk, dem größten Flüchtlingslager Syriens am Rande von Damaskus, veranstaltete die Hamas im Juli 2009 die erste islamische Massenhochzeit des Landes. Etwa 10.000 Gäste verfolgten die Vermählung von 382 jungen Paaren. Wie üblich blieben die Ehemänner von ihren Frauen getrennt auf der Party. Statt ihre Frauen zu küssen, schwenkten sie die grünen Fahnen der Hamas.