11.12.2021
„Authentizität“ ist eine falsche Freundin
Aus unserer historischen Mitschuld resultiert auch beim Reisen eine Verantwortung, meint Marina Klimchuk. Illustration: Kat Dems
Aus unserer historischen Mitschuld resultiert auch beim Reisen eine Verantwortung, meint Marina Klimchuk. Illustration: Kat Dems

Wie wir Länder des Globalen Südens bereisen, muss Teil der postkolonialen Debatte in Europa werden. Sonst verpackt der Tourismus kolonialistische Machtstrukturen nur um, meint Marina Klimchuk.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

„Relax! Ich rufe Kapitän Sanusi an, er kommt vorbei, wir trinken Tee und schließen einen Deal für deine Nilfahrt auf der Feluke ab“, verspricht Salatu mir. Wir sitzen im Innenhof seines Familienhauses in Gharb Assuan, einem kleinen nubischen Dorf im Süden Ägyptens. Wir essen Reis, Pitabrot und Muluchiya, ein spinatähnliches ägyptisches Nationalgericht. Salatu und ich kennen uns seit wenigen Tagen. Ich helfe ihm, sein Haus im Internet für Tourist:innen zu vermarkten. Im Gegenzug dazu darf ich günstig bei seiner Familie wohnen.

Kurze Zeit später kommt tatsächlich Bootskapitän Sanusi hinzu. Sanusi hat ein breites Lachen und eine große Zahnlücke. Er trägt einen bunten gehäkelten Hut und raucht eine selbstgedrehte Zigarette nach der anderen. Für 24 Stunden auf der Feluke, dem Flussfahrzeug, mit dem schon seit der Antike auf dem Nil gesegelt wird, will er zwei Tausend ägyptische Pfund. Das sind umgerechnet etwa 115 Euro. So hoch ist auch der Mindestlohn im Land, das monatliche Durchschnittsgehalt liegt mit etwa 200 Euro nur knapp darüber.

Wir feilschen mit Sanusi, ich drücke den Preis herunter. Das gehört dazu hier in Ägypten, denn Tourist:innen zahlen oft das Doppelte und Dreifache. Schließlich einigen wir uns auf knapp 70 Euro plus Trinkgeld. Eigentlich sollte ich mich freuen, stattdessen bleibt mir ein bitterer Nachgeschmack. Für den Kapitän mit Frau und fünf Kindern ist das ein Stundenlohn von etwa drei Euro, rechne ich später aus. Für mich ein Schnäppchen. Einmal mehr wird mir das ökonomische Machtgefälle zwischen uns bewusst. Ich nehme mir vor, Sanusi viel Trinkgeld zu geben.

Exotisch, ursprünglich und rückwärtsgewandt

Individuell Reisen in Ägypten kann anstrengend sein. Viele Straßenverkäufer:innen drängen sich auf – unsanft preisen sie Tourist:innen ihre Souvenire, Kamele, Boote, Rikschas und Pferdekutschen an. Meine zufälligen Begegnungen mit Einheimischen sind immer vom Zweifel begleitet, die Person hätte nur Interesse an meinem Geld.  Denn der Tourismus stellt in Ägypten einen der bedeutendsten Wirtschaftszweige dar. Vielerorts ist er maßgeblich für die Lebensbedingungen der Menschen. Tourist:innen bedeuten für viele Ägypter:innen ihre Existenzsicherung, trotz niedriger Bezahlung und schlechten Arbeitsbedingungen, zum Beispiel auf den Kreuzfahrtschiffen, die sich hier besonders großer Beliebtheit erfreuen.

„Strukturelle Machtverhältnisse sind so tief in unserer Identität, unserer Gesellschaft und weltweit verankert, dass sie nicht einfach umgedreht werden können“, schreibt der Berliner Verein glokal in der Broschüre „Mit kolonialen Grüßen“. Zwar sind postkoloniale Perspektiven, die genau auf derartige Machtverhältnisse kritisch hinweisen, inzwischen stärker in der Mitte der Gesellschaft angekommen. So debattiert die deutsche Öffentlichkeit beispielsweise heute die Rückgabe von Raubkunst und die Entschädigung kolonialer Verbrechen. Aber nirgendwo drängen sich Fragen nach unserer individuellen Verantwortung so unmittelbar auf wie beim Reisen in den Globalen Süden, also oft in ehemals kolonisierte Länder: Das gilt für Massentourismus genauso wie für Backpacker:innen.

In der Broschüre dokumentiert der Verein in erster Linie, warum Menschen aus dem Globalen Norden vor allem Klischees reproduzieren, wenn sie von Reisen im Globalen Süden berichten. Mit der Kamera werden neben Natur und Tierwelt vor allem Menschen in traditioneller Kleidung abgelichtet, die traditionellen Handwerken, nachgehen, dabei am besten auf irgendwelchen Basaren sitzen oder zum Tee einladen. Noch bevor ich von der Broschüre erfahre, fällt mir selbst unangenehm auf, dass ich lauter Kamele in der Wüste und Männer in Galabijas, dem traditionellen Gewand, fotografiere. Vor der eigenen Sozialisation ist eben niemand geschützt, trotz allem scheinbar kritischen Mitdenkens.

Auf der Suche nach „Authentizität“

Um sich dem Massentourismus zu entziehen, wollen zudem gerade viele Backpacker:innen „authentisch” und „off the beaten path“ reisen. Doch gerade indem sie Land und Leute „fernab des Tourismus“ erleben möchten, etablieren sie oft gerade eine Art des Tourismus, der Machtgefälle und Stereotype sogar stärker reproduziert als die Urlauber:innen in den schicken Hotelressorts inklusive Tagesausflug es tun. Die Tourist:innen, die vor Pyramiden, Märkten und Tempeln für Selfies posieren, versuchen wenigstens gar nicht erst „authentisch“ unterwegs zu sein.

Denn Authentizität ist eine falsche Freundin. So werden auch Einheimische, die keine Boote oder Pferdekutschen anzubieten haben, für die Authentizitäetsjäger:innen zu einer Art Konsumobjekt: Konsumiert werden stattdessen ihre Freundlichkeit und ihre Lebensgeschichten, ganz so wie auch die Pyramiden von Gizeh oder eine Nilfahrt auf der Feluke. Diese Art von „authentischen“ Darstellungen und Begegnungen mit Einheimischen reduziert die Menschen auf eine vermeintliche Natürlichkeit und romantisiert obendrein oft Armut und Prekarität.

Das verinnerlichte Gefühl von Überlegenheit

Dabei muss das „post-“ im Zeitalter des Postkolonialismus eben auch eine Begegnung auf Augenhöhe bedeuten, alles andere wäre nur eine Umverpackung kolonialistischer Strukturen. Die Asymmetrie, die sich zwischen Reisenden und Bereisten in jeglicher Konstellation aufdrängt, darf im postkolonialen Kontext nicht ignoriert werden. Durch unsere Hautfarbe, unsere Staatsangehörigkeit und unsere Bildung haben wir einen Vorteil, der sich nicht aus der Gleichung unserer Reise wegdenken lässt.

Glokal erinnert uns daran, dass Machtstrukturen und das verinnerlichte Gefühl von Überlegenheit von Menschen aus dem Globalen Norden das Resultat von jahrhundertelanger Kolonialisierung sind. Aus unserer historischen Mitschuld resultiert eine Verantwortung gegenüber den Ländern, die wir als Reisende besuchen. Bevor wir uns im Globalen Süden über Müll auf der Straße, die Verletzung von Frauenrechten oder Taxifahrer:innen, die uns übers Ohr hauen, aufregen, sollten wir uns laut glokal immer wieder das durch Kolonialisierung verursachte strukturelle Machtgefälle und die Ungleichheit zwischen uns und den Menschen, deren Länder wir bereisen, vor Augen führen. Das stimmt natürlich.

Doch damit, dass ich anzügliche Kommentare von ägyptischen Männern oder Müll auf der Straße mit dem Kolonialismus abwinke, ist noch niemandem geholfen. Es ist nicht damit getan, sich nur einer kolonialen Vergangenheit und eines Gefühls verinnerlichter Überlegenheit bewusst zu werden. Dann laufen wir Gefahr, die Menschen, denen wir im Globalen Süden begegnen, über einen Kamm zu scheren und ihnen individuelle Verantwortung für Themen wie Umwelt oder Frauenrechte abzusprechen – der Kolonialismus ist ja schuld. Aber nur, wenn ich jemanden zur Verantwortung ziehen kann, ist auch eine Begegnung auf Augenhöhe möglich. Alles andere verstärkt die Trennlinie zwischen Globalem Süden und Norden weiter – ein Gedanke, den man sich nochmal vor Augen führen sollte, bevor man einfach erneut den Rucksack für die nächste Bootstour schnürt.

 

Mehr Arbeiten der Illustratorin Kat Dems finden sich auf ihrem Instagram-Account oder auf ihrer Webseite.

 

 

Marina ist in der Ukraine geboren und als Kind nach Deutschland eingewandert. Sie ist freie Journalistin, leitete bis zur Corona-Pandemie politische Studienreisen in Israel und Palästina und führte Gruppen durch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Im Moment besucht sie die Reportageschule in Reutlingen.
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Johanna Luther