Wenn die Waffen schweigen, ist der Krieg noch lange nicht vorbei; er lebt weiter in den Köpfen derjenigen, die ihn erlebt haben. Aber in vielen Ländern, etwa im Irak, gibt es kaum Hilfe für Betroffene. Ein Berliner Zentrum ist für sie da – übers Internet. Projektkoordinatorin Charlotte Kusenberg berichtet.
„Über viele Jahre habe ich geschwiegen, obwohl ich wusste, dass ich reden muss. Es fällt mir schwer, mit jemanden darüber zu sprechen, was passiert ist. Ich kann es kaum aussprechen und vermeide bereits den Gedanken daran.“ Das sind die ersten Sätze, die Youssef von Amina (Namen geändert) liest. Amina schreibt sie, während sie irgendwo im Irak vor einem Computer sitzt.
Nach der Vertreibung der Terrormiliz ISIS aus Mossul kehren die früheren Bewohner nun langsam in die irakische Großstadt zurück. Ein Ende der gewalttätigen Konflikte ist in den ehemals von der Terrormiliz besetzten Gebieten jedoch noch lange nicht in Sicht. Viele Menschen benötigen dringend nicht nur medizinische, sondern auch psychologische Versorgung. Die Angebote hierfür sind im Irak jedoch stark begrenzt. So hat der größte Teil der Zivilbevölkerung keinen Zugang zu therapeutischer Hilfe.
Das Berliner Zentrum ÜBERLEBEN gGmbH bietet Menschen in Kriegs- und Krisengebieten im Nahen Osten eine kostenlose Behandlungsmethode in Form einer Online-Schreibtherapie an. Seit 25 Jahren unterstützt das Zentrum Überleben, vormals Behandlungszentrum für Folteropfer e.V., Überlebende von Kriegsgewalt und Folter und bietet ihnen medizinische, therapeutische und sozialarbeiterische Versorgung. Die Schreibtherapie im Projekt ilajnafsy (Arabisch für „Psychotherapie“) richtet sich an Menschen in der arabischen Welt, die an depressiven Symptomen oder einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden.
Das Projekt wird wissenschaftlich begleitet. Bisherige Auswertungen der Online-Therapie bestätigen: Die Behandlung zeigt Wirkung. Die Therapieform kann depressive und posttraumatische Belastungssymptome stark reduzieren. Für das Projekt ist ein internationales Team in Berlin und Alexandria (Ägypten) im Einsatz. Ein weiteres Team soll 2018 in Amman (Jordanien) aufgebaut werden. Jedes Jahr betreut ilajnafsy knapp 900 Patienten.
Der in Berlin lebende 27-jährige Youssef arbeitet seit Beginn 2017 im Projekt mit. Der gebürtige Damaszener studierte Psychologie an der Universität Damaskus. Praktische Erfahrungen im Bereich Traumatherapie sammelte er bereits in seinem Heimatland. 2012 und 2013 behandelte er syrische Binnenvertriebene, die aus Kampfgebieten nach Damaskus flohen, psychologisch. Im Jahr 2015 verließ er Syrien dann selbst, beantragte Asyl in Berlin und wurde als Flüchtling anerkannt.
Seit 2017 arbeitet er bei ilajnafsy und studiert Psychologie im Master an einer Berliner Universität. Auf die Frage, wie er damit klarkomme, in Berlin in Sicherheit zu leben und gleichzeitig mit der Kriegsgewalt in seiner Heimatregion unmittelbar verbunden zu sein, antwortet Youssef, er sei den Patienten „so nah und doch so fern“.
Durch eine Internetsuche wurde Amina im Irak auf ilajnafsy aufmerksam: „Ich habe lange gezögert, nach Hilfe zu suchen. Aber dann hielt ich es nicht mehr aus, denn in meinem Umfeld kann ich mich niemanden anvertrauen“. Sie registrierte sich, durchlief ein einstündiges Interview und erhielt die Zugangsdaten zu einem verschlüsselten Therapie-Account.
Über einen Zeitraum von knapp sechs Wochen schrieb sie in 50-minütigen Schreib-Sessions detailliert auf, was sie während des Krieges erlebte. Die Symptome ihres Traumas, z.B. Flashbacks, Angstzustände und Schlaflosigkeit, verstärkten sich zwar anfänglich, verbesserten sich aber durch die Schreibtherapie bald nachhaltig.
Viele Patienten im ilajnafsy-Programm sind Opfer von Kriegsgewalt, Folter und sexueller Gewalt. Für einige ist die Online-Therapie die erste Gelegenheit, überhaupt über ihr Trauma zu sprechen. „Ilajnafsy bot mir die Möglichkeit, ganz anonym und kostenlos eine Therapie zu machen. Mir fiel es leichter, zu schreiben als zu sprechen. Ich fühle mich jetzt gehört und besser verstanden“, schreibt Amina.
Eine Schreibtherapie, die dem traditionellen Briefwechsel sehr nahekommt, birgt gerade deshalb großes Potenzial, da sie eine ungehemmte Kommunikation ermöglicht. „Manchmal ist es schwerer, den Menschen direkt gegenüber zu sitzen“, sagt Youssef. Er wünscht sich, dass sich das Programm in Zukunft weiterverbreitet und noch mehr Menschen in Not erreicht.
Offenlegung: Charlotte Kusenberg ist beim Zentrum ÜBERLEBEN als Projektkoordinatorin für ilajnafsy tätig. Mehr zu ilajnafsy unter www.ilajnafsy.org