Saskia Benter arbeitet im Asylheim Rathaus Wilmersdorf in Berlin. Auf diesen Seiten berichtet sie über Begegnungen mit Menschen, die ihr Einblick in ihr Leben gewähren – persönlich und in Fragmenten, während alles andere weiter läuft, und die Abgrenzung von „hier“ und „dort“, „wir“ und „ihr“ sich vielleicht langsam etwas aufzulösen beginnt.
Nach dem Anschlag auf * wurden Omar und Ali von ihrem Vermieter auf die Straße gesetzt. Er würde nach diesem Anschlag keine Syrer mehr bei sich dulden.
Deren Kumpel Anas erhält nach dem Anschlag indes mehr Anfragen als je zuvor. Seit Monaten geht er regelmäßig zu Grundschulen, stellt sich vor und erklärt den Kindern dort, was ein Flüchtling ist. Er sieht selbst noch wie ein Kind aus, zerbrechlich und schmächtig, auch wenn sich bereits zahlreiche Falten um seine Augen gelegt haben. Behutsam versucht er auf Kinder einzugehen, die ihren Eltern nachsprechen, wenn die von Flüchtlingen oft ein ziemliches krudes Bild entwerfen.
Dieses Bild soll Anas widerlegen. Dafür ist er „bestens geeignet“, wie nicht zuletzt die zuständigen Behörden befunden haben. Er ist nämlich selbst Syrer, aber vor ihm braucht niemand Angst zu haben. Schließlich sieht er gar nicht wirklich „syrisch“ aus. Aufgrund seines Akzents würde man ihn eher für einen Franzosen halten – ein echtes „Vorzeige-Exemplar“ also, das gut in Schulen passt. So soll er den Kindern die Angst und den Eltern die Sorgen nehmen. Ich begleite ihn und sehe dabei zu, wie er vor dreißig Kindern sitzt und sich vorstellt. Die Kinder sehen ihn aufmerksam an und melden sich häufig in der Fragerunde. Die Reise übers Meer interessiert sie am meisten. Ein seltsames Schauspiel.
Nach dem Anschlag auf * wurde Anas auch wieder von dem TV-Sender kontaktiert, der ihn Monate zuvor zu seinen Erfahrungen in den Sammelunterkünften Berlins interviewte – über seine tragende Rolle in der Studentenbewegung gegen Asad wurde derweil nicht gesprochen.
Das Fernsehteam lud ihn ein, an dem öffentlichen Friedensmarsch teilzunehmen, der in Gedenken an die Opfer des Anschlags auf * in Berlin stattfand. Ich erlebte damals, wie er mit der Antwort haderte: „Ich kann nicht mit Nein antworten. Sie würde mich falsch verstehen. Als Flüchtling in Europa entscheide ich nicht mehr für mich alleine. Die Freiheit habe ich wirklich nicht mehr. Sage ich Nein, fassen sie es als politisches, nicht als persönliches Nein auf. Ja sagen, das muss ich wohl.“
Ich nahm nicht teil. An dem Tag war ich müde oder hatte andere Dinge im Kopf, so genau erinnere ich mich nicht mehr. Ich fühlte mich bedrängt von den Nationalflaggen, die auf den Profilbildern von Freunden und auf den Sehenswürdigkeiten vieler Hauptstädte erstrahlten. Dem einseitigen Feindbild „Islamischer Staat“, gegen den sich so viele Parteien zusammenschlossen, mit denen ich nichts zu tun haben will und die diese Katastrophe nutzten, um zu entscheiden, was sie schon längst begonnen hatten. Der türkische Staat bombardierte derweil eine komplette kurdische Stadt und es interessierte keinen – es wurde noch nicht einmal instrumentalisiert.
In diesen Tagen lief ich vor der Betroffenheit der Anderen weg. Aber wie sage ich so etwas, ohne, dass jeder zu Recht bemerkt, dass Paris mich genau so viel angeht wie Aleppo? Die Gefahr dieser überschwänglichen Reaktion war die Verschiebung unseres Mitleids und unserer Angst.
Während des Anschlags auf * besuchte ich ein arabisches Kurzfilmfestival und stolperte über eine Szene aus einem ägyptischen Film: Ein älterer angetrunkener Mann hört zwei junge Freunde bei einer sehr aufgeregten Unterhaltung zu, unterbricht sie und sagt: „Ihr erinnert mich an meine Kinder als sie zwei Jahre alt waren und ununterbrochen Fragen stellten, die alle mit Warum begannen. Und auf meine Antwort mit derselben Frage antworteten. Ja, ihr seid eine besondere Generation, ihr stellt die richtigen Fragen. Ganz genauso wie Kinder. Aber eure eigenen Erwachsenen seid ihr noch nicht.“
Am Folgetag des Trauerzugs sahen Anas und ich uns den Bericht an, in dem er auch erscheinen sollte. Doch er war raus geschnitten worden.
„Was hast du denen gesagt, dass du der Zensur zum Opfer gefallen bist“, platzte es aus mir heraus.
„Sie fragten mich, ob mich dieser Anschlag schmerzt und ich habe geantwortet, dass er mir im Herzen weh tut, da ich mich noch genau an den ersten Tag erinnere als wir 160 Menschen an einem einzigen Tag in Syrien verloren. Jetzt ist es unser Alltag, in Syrien passiert dieser Anschlag täglich. Und die Regierung selbst ist der größte Terrorist.
„Es tut mir, leid dass sie das nicht ausgestrahlt haben.“
„Schon ok.“
„Nein, wirklich. Ich schäme mich dafür.“
„Du kannst nichts dafür.“
„Und ich schäme mich dafür, dass sie euch beide aus der Wohnung geschmissen haben“, füge ich an Omar und Ali gewandt hinzu, die ruhig neben uns sitzen.
„Das hat nichts mit dir zu tun. Du musst dich nicht rechtfertigen. Nur, weil du genau wie der Vermieter auch aus Deutschland bist, musst du dich nicht rechtfertigen.“
„Trotzdem, ich weiß, die meisten, die euch mit Vorurteilen und Rassismus begegnen, sind weiß, machen sich nichts aus Religion, aber lehnen den Islam radikal ab, unterscheiden zwischen Militäroperationen und Terrorismus und haben noch nie Krieg in ihrem eigenen Land erlebt. Aber das heißt nicht, dass jeder so ist“, stammle ich.
„Klar. Das versteht jedes Kind. Vielleicht hätten syrische oder irakische Grundschulen das früher auch tun sollen, einen süßen Amerikaner zum Unterricht einladen, der den Kindern erklärt, was ein Besatzer ist“, antwortet Anas.
Das hätte ihnen bestimmt die Angst genommen.
* Paris. Und? Hast du kurz gezögert, was in diese Lücke gehört?