11.06.2009
Analyse zu den Wahlen im Libanon

Wie versprochen folgt mit einigem Abstand eine detailliertere Analyse zu den Wahlergebnissen im Libanon. Hier einige Rückschlüsse, die sich aus den Ergebnissen sowie Wählerbefragungen vom Wahltag ziehen lassen:

1. Das Bündnis March 14 hat zwar die Mehrheit der Parlamentssitze errungen, die Mehrheit der Wählerstimmen entfielen jedoch auf Kandidaten von March 8.

Die libanesische Zeitung "al-Akhbar" veröffentlichte am Dienstag eine Statistik, nach der die Listen der Opposition landesweit 54% der Stimmen erhielten, die Kandidaten von March 14 45%. Nach einer anderen Rechnung gewann March 8 mit 50 zu 46 Prozent der abgegebenen Stimmen. Der Rest entfiel demnach auf unabhängige Bewerber sowie leere Stimmzettel.

Man sollte davon nicht ohne weiteres ableiten, dass March 8 landesweit beliebter ist als das Regierungslager. In vielen Wahlkreisen, etwa in Beirut II, Tripoli oder dem Süden standen die Wahlsieger nämlich praktisch schon vor dem Wahltag fest. Daher sind dort auch viele Wähler zu Hause geblieben, die bei einem knapperen Rennen in den jeweiligen Bezirken möglicherweise zur Wahl gegangen wären. Dennoch würde das Parlament bei Wahlen nach dem Verhältniswahlrecht vermutlich deutlich anders aussehen.

2. Die Popularität von Hizbollah und Amal unter Libanons Schiiten ist ungebrochen.

In Nabatieh, einem fast ausschließlich schiitischen Wahlbezirk, erhielt die gemeinsame Liste beider Parteien 95% der Stimmen. Im Qaza Baalbek-Hermel im nördlichen Bekaa-Tal stimmten ebenfalls über 90% der Schiiten für Amal und Hizbollah. Versuche von March 14 die "Lebanese Option Group" als schiitische Alternative zur Hizbollah aufzubauen, scheinen vorerst gescheitert. Als Indikator für eine größere Beliebtheit der Hizbollah gegenüber der Amal kann das Wahlergebnis in Jezzine gedeutet werden. Hier war die Opposition mit zwei Listen angetreten - eine wurde von Hizbollahs Bündnispartner Michel Aoun zusammengestellt, eine zweite von der Amal-Bewegung. Hier setzten sich Aouns Kandidaten mit Unterstützung der Hizbollah-Anhänger durch.

3. Saad Hariri hat seine Unterstützung unter Libanons Sunniten in den letzten Monaten deutlich gefestigt.

L' Orient-le Jour veröffentlichte eine Statistik nach der landesweit im Schnitt 75 Prozent der Sunniten für March 14 stimmten. Selbst alt eingesessene Notabeln, die für die Opposition ins Rennen gingen, wie Oussama Saad in Saida oder Omar Karameh in Tripoli erhielten nur jede vierte sunnitische Stimme. Besonders hervorzuheben ist, dass es Hariri gelang die sunnitische Wählerschaft in bislang nicht gekanntem Maße zu mobilisieren. Besonders auffällig war dies im Qaza Zahle. Hier waren es die sunnitischen Wähler, die in unerwartet hoher Zahl an die Urnen strömten und für die Liste von March 14 stimmten.

Bereits am 14. Februar 2009 anlässlich des 4. Todestages von Ex-Premier Rafiq al-Hariri bildeten die in zahlreichen Bussen herangekarrten Sunniten aus dem Norden und der Bekaa-Ebene das Gros der Demonstranten. Nicht erst seit Bekanntgabe der Wahlergebnisse halten sich hartnäckig Gerüchte, wonach Hariris Partei zahlreiche Stimmen gekauft oder zumindest Flüge für loyale Auslandslibanesen bezahlt habe – auch so ist die hohe Wahlbeteiligung in Zahle erklären. Diese Faktoren waren letztendlich wahlentscheidend. Hätte die Opposition den Wahlkreis Zahle gewonnen, gäbe es ein Patt im Parlament von 64-64 Sitzen.

Im Nordlibanon sicherte Hariri seine Mehrheit durch Bündnisse mit lokalen Eliten. In Tripoli traten die beiden Milliardäre Najib Miqati und Mohammed Safadi für March 14 an und sorgten für einen klaren Erfolg des Regierungslagers. Derartige Bündnisse sind jedoch sehr fragil. Sollte Miqati und Safadi bei den kommenden Wahlen gegen March 14 antreten, könnte Hariri eine böse Überraschung erwarten.

Ebenso zahlte sich für Hariri die Integration der sunnitischen Islamisten in Tripoli und der unterentwickelten Region Akkar im äußersten Norden aus. In Beirut garantierte er dem Kandidaten der Jama’a Islamiya Imad al-Hout einen sicheren Sitz im Parlament. Im Gegenzug konnte er sich der Unterstützung der islamistischen Wähler im Norden sicher sein.

4. Libanons Drusen stehen nach wie vor fest hinter Walid Jumblatt.

Der von L'Orient - Le Jour veröffentlichten Wählernachfrage zufolge stimmten etwa 70% der drusischen Wähler für den Chef der PSP. Der wichtigste drusische Politiker der Opposition ,Talal Arslan, zog auf Jumblatts Liste ins Parlament ein, weil die Politiker - beide Sprösse traditioneller Feudalfamilien – die innerdrusische Aussöhnung über die momentane Lagerbildung in der libanesischen Politik stellten.

5. Michel Aouns FPM bleibt stärkste Kraft unter Libanons Christen, hat seit 2005 jedoch deutlich an Unterstützung verloren.

Bei den Wahlen 2005 stimmten schätzungsweise 70% der christlichen Wähler für Aouns Bewegung. Damals verhinderte das alte Wahlgesetz mit größeren Wahlkreisen einen deutlicheren Erfolg für die FPM. In diesem Jahr musste Aoun in einigen christlichen Wahlbezirken, etwa in Ostbeirut oder Batroun deutliche Niederlagen einstecken. Auch in seinem eigenen Wahlkreis Kesrouan fiel Aouns Erfolg mit etwa 2500 Stimmen Vorsprung deutlich knapper aus, als erwartet.

Gleiches gilt für seinen Bündnispartner Sleiman Frangieh, der in seinem Heimatbezirk Zghorta deutlich knapper siegte als vor den Wahlen erwartet. Die Gründe für den schwindenden Rückhalt Aouns sind vielfältig. Zum Einen hat einige Wähler offenbar das Bündnis mit der Hizbollah abgeschreckt, sowie seine Annäherung an den Iran und Syrien die durch Besuche in beiden Ländern im vergangenen Jahr dokumentiert wurde. Außerdem liefert sich Aoun seit Jahren öffentliche Auseinandersetzungen mit dem Oberhaupt der maronitischen Kirche, Patriarch Nasrallah Boutros Sfeir, die ihm ebenfalls Stimmen gekostet haben dürften. Dennoch konnte die christliche Fraktion innerhalb des March 8-Lagers, bestehend aus Aouns FPM, Frangiehs Marada und der armenischen Tashnaq, die Zahl ihrer Sitze von 21 auf 27 erhöhen – wiederum ein Resultat der neu zugeschnittenen Wahlkreise.

6. Unabhängige Kandidaten ohne Unterstützung einer der beiden nationalen Allianzen und der lokalen Notabeln waren bei den Wahlen chancenlos.

Einige Politiker, die bei den letzten Wahlen noch von Saad Hariri unterstützt worden waren, aus wahltaktischen Erwägungen diesmal jedoch außen vor gelassen wurden, verpassten deutlich den Einzug ins Parlament. Prominentes Beispiel hierfür ist etwa der junge Hoffnungsträger Mesbah Ahdab, der 2005 für March 14 in die Nationalversammlung einzog, diesmal als eigenständiger Bewerber antrat, jedoch keine Chance gegen die von Hariri nominierte Liste hatte. In den bisherigen Wahlen nach dem Bürgerkrieg, war es zumindest einzelnen Unabhängigen gelungen ins Parlament einzuziehen, so etwa der linke Intellektuelle und Querdenker Najah Wakim in Beirut.

7. Die führenden politischen Familien, die die Geschicke des Landes über Generationen hinweg bestimmen, haben ihre Stellung weiter gefestigt.

Zum Einen wurden Politiker, die seit Jahrzehnten im Parlament sitzen, bestätigt – etwa Walid Jumblatt, Dory Chamoun, Nabih Berri oder Abd al-Latif Zein – der 79-jährige zog schon vor 50 Jahren ins Parlament ein und hat bereits angekündigt auch 2013 wieder zu kandidieren. Zum anderen betraten die Kinder und Enkel bekannter Politdynastien die Bühne und zogen erstmals ins Parlament ein. Ihre Wahlkampfkampagnen inszenierten sie explizit als Erben ihrer berühmten Väter und Großväter – am deutlichsten zeigte sich das bei Nadim Gemayel und seinem Cousin Sami Gemayel – Söhne der beiden Ex-Präsidenten Bashir bzw. Amin Gemayel. Auch wenn Nayla Toueni versuchte sich als politisch unabhängige Kandidatin zu positionieren, wurde sie in erster Linie als politische Erbin ihres 2005 ermordeten Vaters Gebran Toueni gewählt. Zudem genoss die erst 26-Jährige die mediale Unterstützung der auflagenstärksten libanesischen Zeitung An-Nahar, die von ihrem Großvater gegründet wurde und sich nach wie vor in Familienbesitz befindet.

Zusammen mit Nayla Toueni zogen lediglich 2 weitere Frauen ins 128-köpfige Parlament ein. Bahia Hariri ist die Schwester des ermordeten Ex-Premiers Rafiq Hariri, Strida Geagea ist die Frau des Vorsitzenden der Lebanese Forces Samir Geagea. Andere Kandidatinnen wurden von den beiden Blöcken erst gar nicht nominiert, während die wenigen unabhängigen Kandidatinnen chancenlos blieben.