von Christoph Sydow, Kathrin Hagemann und Dominik Peters
Ein großer Teil der von Wikileaks veröffentlichen US-Diplomatenberichte befasst sich mit dem Nahen Osten. Über die Bedeutung der Enthüllungen und ihre Folgen gehen die Meinungen in arabischen, türkischen und israelischen Zeitungen auseinander
Seit einer Woche dominieren die Wikileaks-Enthüllungen aus geheimen Berichten von US-Botschaften aus aller Welt die internationalen Schlagzeilen. Mit Verzögerung hat die Welle der Empörung auch die Zeitungen des Nahen Ostens erreicht. Zwar ist es richtig, dass die arabische Presse nur zögerlich über die Enthüllungen berichtet, die ihre eigenen Staatschefs in unvorteilhaftem Licht erscheinen lassen. Von einem »Schweigen am Golf« kann jedoch keinesfalls die Rede sein – ein allzu voreiliger Schluss den man nur ziehen kann, wenn man sich ausschließlich auf die englischsprachigen Zeitungen aus der Region stützt.
Das in London erscheinende Blatt al-Quds al-Arabi, das im gesamten Nahen Osten viel gelesen wird, widmete am vergangenen Montag in ihrer ersten Ausgabe nach Veröffentlichung der Botschaftsdepeschen ihren Leitartikel den Enthüllungen und ging mit der saudischen Forderung nach einem Militärschlag gegen den Iran hart ins Gericht. Die Wikileaks-Berichte würden die ohnehin gespannten saudisch-iranischen Beziehungen weiter strapazieren und hätten das Potential, eine »katastrophale Situation« zwischen beiden Staaten zu provozieren. »Die Vereinigten Staaten, die den Irak zerstörten und ihn dann dem Iran überreichten nachdem sie dort die Saat der konfessionellen Gewalt gestreut hatten, wollen die Kampfzone auf andere arabische Staaten ausweiten, um die Stabilität in der Region zu untergraben und den Nahen Osten in zerstörerische Kriege zu stürzen. Wir hoffen auf eine Klarstellung der saudischen Regierung hinsichtlich des Inhalts der Dokumente, um ihre Auswirkungen einzudämmen, angesichts der Tatsache sie gefährlich sind und nicht ignoriert werden können.«
»Der Dialog mit Amerika ist teurer als die Konfrontation«
»Alles was bisher über die Art und Weise berichtet wurde, wie amerikanische Diplomaten die ausländischen und arabischen Staatsführer bewerten oder welche Geringschätzung US-Botschafter diesen Offiziellen und ihren Meinungen entgegenbringen, war bekannt«, konstatiert Sateh Nur al-Din in der linken libanesischen Zeitung al-Safir. »Nur war das bislang nicht durch Dokumente bestätigt, die nun in offizieller Form im Internet zugänglich sind und die niemanden gefährden. Allerdings werden viele Menschen auf der Welt jetzt zu dem Schluss kommen, dass eine Allianz oder auch nur der Dialog mit Amerika teurer ist, als eine Konfrontation.«
Deborah K. Jones, US-Botschafterin in Kuwait, reagierte schnell. Bereits am Dienstag schrieb sie einen offenen Brief an das kuwaitische Volk, der von den Tageszeitungen des kleinen Golfstaats abgedruckt wurde. Darin würdigt sie die langjährige treue Partnerschaft zwischen beiden Ländern und äußert ihr Bedauern über die Wikileaks-Veröffentlichung. »Ich glaube, dass die Leute anerkennen, dass die internen Dokumente nicht die offizielle Außenpolitik der Regierung repräsentieren.« Kuwait bleibe »einer unser wichtigsten Freunde, Verbündeten und Partner in der Region, ein Land dessen Rat wir suchen, wenn wir regionale Lösungen für regionale Probleme entwickeln.
»Ich bin glücklich über Wikileaks«, schreibt hingegen Abdul Rahman al-Rashed in der Wochenendausgabe von al-Sharq al-Awsat, die von Saudi-Arabien finanziert wird und in London erscheint. Die Enthüllungen räumten nämlich auf mit falschen Beteuerungen. Denn eigentlich sei das, was in den Drahtberichten dokumentiert werde, weithin bekannt: »Die Golfstaaten wissen, dass ihre größte Gefahr eine iranische Atombombe ist, die das Gleichgewicht der Kräfte und den amerikanischen Schutzschirm schwächt. Es ist natürlich, dass sie glücklich darüber wären, wenn die USA das iranische Nuklearprogramm zerstörten, selbst wenn es die Israelis täten. Es ist wichtig, eine Atombombe zu stoppen, die den Golf viel stärker gefährdet als Israel oder den Westen.«
Wer suchet, der findet: die Wikileaks-Enthüllungen eignen sich hervorragend dazu, Grundüberzeugungen zur Verdorbenheit politischer Akteure zu erneuern. In der Türkei richtet sich das vielfach gegen Israel, die USA und Russland, während Erdoğan-kritische Stimmen sich über die angeblich acht Schweizer Nummernkonten des Ministerpräsidenten freuen.
Israel erscheint unschuldig wie der weiße Löffel in der Milch
In der Star jubelt Sedat Laçiner: «Bis gestern beobachteten die USA uns, jetzt haben wir nachgezogen. Wir haben, die ganze Welt hat die dreckige Wäsche der USA gesehen. Überrascht uns das? Nicht besonders. Amerika, wie man es kennt... Ein Dank an Wikileaks, nun haben wir endlich gesehen, was wir bisher vermuteten.«
Ali Bulaç klagt in der Zaman an: »Während über viele Länder Informationen vorliegen, die als Skandal zählen, oder einen doch zumindest unter dem Schnurrbart zum Lächeln bringen könnten, steht Israel unschuldig da, wie der weiße Löffel aus der Milch gezogen.« Gleichzeitig sieht er in den Anschuldigungen gegen Tayyip Erdoğan, die zuerst durch die Zeitung Taraf erhoben wurden, eine Kampagne: »Wenn die Wikileaks-Dokumente eine Operation darstellen, dann ist deren Ziel in der Türkei Tayyip Erdoğan. Nicht die AKP, Erdoğan selbst!«
Cengiz Çandar in der Radikal interpretiert das anders: »Erdoğan hat nun die Gelegenheit gehabt, mit einer wütenden Energie, die man von unschuldigen Menschen kennt, »Ich habe bei Schweizer Banken bei Gott keinen einzigen Kuruş« zu grollen, dass wohl kaum jemand mehr anzweifelt, dass es sich dabei um Verleumdung handelte. Die Hauptwaffe der größten Oppositionspartei hat ihr Ablaufdatum also bereits erreicht, bevor sie benutzt werden konnte. Zudem ist die Waffe als Bumerang zu ihr zurückgeflogen.«
Wellen schlägt auch die Nachricht, Russland habe Waffen an die PKK geliefert, um die Region zu destabilisieren. Ein weiterer großer Aufreger ist die inoffizielle Verkaufsempfehlung für Aktien des Doğan-Konzernes, die Finanzminister Mehmet Şimşek Anlegern gegeben haben soll.
»Keine Regierung kann sich mehr sicher fühlen«
In der Hürriyet warnt Ertuğrul Özkök vor naiver Freude über die Enthüllungen: »Wikileaks hat gezeigt, dass selbst der technologisch am weitesten entwickelte Staat der Welt seine Grenzen nicht schützen kann. Das bedeutet, dass von nun an kein Staat, keine Regierung und kein politischer Führer, mehr sicher ist. Wenn heute die Geheimnisse der USA ausgeschüttet werden, können wir nicht wissen, was als nächstes fällt.«
Melih Aşık in der Milliyet belächelt indessen die Ernsthaftigkeit um die »Klatsch«-Anteile der Dokumente: »Nach Ansicht der US-Diplomaten ist Erdoğan: der Führer einer Bewegung, die die Ideale Atatürks teilt. Er ist ein Workaholic, stur, perfektionistisch, aber nicht despotisch.« Mit solchen und ähnlichen Zeilen war man gestern beschäftigt.« Schlussendlich lässt sich auch gute Satire aus den Enthüllungen stricken: »Wenn Außenminister Davutoğlu den Verteidigungsminister Gönül nächstes Mal sieht, wird er ihn vermutlich Folgendes fragen: »Du hast mich gegenüber den Amerikanern als »sehr gefährlich« bezeichnet, was soll das? Für wen, für die Türkei oder für die USA?«
»Die Welt denkt wie wir«
Er ist charmant, aber nicht romantisch und er behält Geheimnisse nicht für sich«. Jetzt ist es raus. Endlich wissen die Israelis, wie ihr Ministerpräsident in den Augen von Hosni Mubarak zu charakterisieren ist. Vielmehr dürften man sich jedoch zwischen Mittelmeer und Jordan über die Darstellung der US-Diplomaten in Bezug auf Syriens Präsidenten Assad, den »Mann mit dem Schnurrbart«, den türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan, den »Volkstribun aus Anatolien« und Irans Ahmadinedschad, der »wie Hitler ist«, gefreut haben. Aber auch die Tatsache, dass man in Saudi-Arabien und den Golfstaaten – zu denen Israel offiziell keine diplomatischen Beziehungen unterhält – die gleichen Ansichten in puncto iranischem Nuklearprogramm teilt, stellt einige israelische Kommentatoren zufrieden.
Amos Harel, Militärkorrespondent bei der links-liberalen Haaretz bringt die derzeitigen Gefühle seiner Zunft am besten auf den Punkt, wenn er schreibt, für Journalisten seien die Wikileaks-Dokumente das, was für »Kinder der Besuch in einem Spielzeugladen« ist.In seinem Kommentar kommt er zu dem einfachen Schluss: »Jeder hasst Iran.« Auch Sever Plocker vom Massenblatt Jedioth Ahronoth sieht das so. Sein Fazit: »Die Welt denkt wie wir.«
Es gibt aber auch kritische und nachdenkliche Stimmen. Der Haaretz-Kommentator Aluf Benn zeigte sich ernüchtert, angesichts des Mehrwerts der 250.000 „Wikileaks-Veröffentlichungen, die weder »schlimm noch schockierend« seien. »Die geheimen Depeschen der US-Botschaft in Tel Aviv, zeigen, dass die Führung der israelischen Sicherheits- und Verteidigungsdienste den Diplomaten die selben Dinge sagen, wie sie den Journalisten sagen.« Auch sein Kollege Yossi Melman denkt und schreibt ähnlich. Er ist der Meinung, es reiche aus, Experten genau zuzuhören und die Artikel von Journalisten zu lesen, die sich mit dem Nahen Osten befassen, denn »geheime Dokumente sind in der modernen Welt nicht zwingend überraschend und zeigen meist nur das Bekannte.«
»Was wird der US-Präsident Israel nun erzählen?«
Bei der konservativen Jerusalem Post fordert Yaakov Katz in Folge der Veröffentlichungen Reaktionen und vor allem Aktionen der Internationalen Gemeinschaft, schließlich seien sich alle einig.Sein Chef, David Horowitz, sieht da vor allem die USA in der Pflicht und fragt sich: »Was wird der US-Präsident Israel nun erzählen?« Nichts. Glaubt zumindest Eli Avidar, Ariel Scharons ehemaliger Sicherheitsberater, der in der Maariv kommentierte: »Die USA wird Iran nicht angreifen«. Diese Tatsache »sollte uns allen den Schlaf erheblich rauben.«
Neben den erfreuten und den besorgten Kommentatoren gibt es im israelischen Blätterwald auch noch einen einzigen Wütenden: Cello Rosenberg von der Maariv. Er wirft den USA »fahrlässiges und naives Verhalten«bei der Sicherung seiner Daten vor. Es hätte – wenn es nach Rosenberg geht – nicht bekannt werden dürften, dass Israel vor der Operation »Gegossenes Blei« gegen die im Gaza-Streifen herrschende Hamas versucht hatte den Einsatz mit deren palästinensische Brüdern von der Fatah und dem greisen Machthaber Ägyptens, Hosni Mubarak, zu koordinieren.
Auch der »konstruktive Meinungsaustausch« zwischen Zipi Livni, Israels ehemaliger Außenministerin, und ihrem Amtskollegen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, verwunderte den ein oder anderen in Israel und erinnerte an die legendäre Golda Meir, die, als Mann verkleidet, einst nach Jordanien gefahren war und mit dem Herrscher des haschemitischen Königreichs persönlich geredet hatte.
Weder für historische Vergleiche noch für Empörung á la Rosenberg hat sich indes Zvi Barel von der »Haaretz« in seinem Kommentar entschieden. Er blickt lieber auf Saudi-Arabien und prangert die staatlich gelenkten Zeitungen an, die kein Sterbenswörtchen über die Wikileaks-Veröffentlichungen schrieben und stattdessen ihre Blätter mit der Überschrift »Seine königliche Hoheit beginnt einen Physiotherapie-Kurs« aufmachten.