Von Simona Pfister
Der Anschlag auf eine koptische Kirche in Alexandria erschütterte nicht nur die christlichen Glaubensbrüder in aller Welt, sondern auch viele muslimische Ägypter. Der Alexandriner Mohamed Abdel Aziz zeigt in seinem Bericht der Ereignisse, dass sich der Terrorakt nicht auf antagonistische Glaubenskonflikte reduzieren lässt.
Schock steht auf seinem Gesicht geschrieben. »Ich war fassungslos«, ist dann auch das erste, was Mohamed Abdel Aziz zu den jüngsten Ereignissen in Alexandria zu sagen hat. Man merkt ihm an, dass der Anschlag, der seine Heimatstadt in der Silvesternacht erschütterte, ihn auch nach seiner Rückkehr in die Schweiz beschäftigt. Nur zehn Minuten entfernt war er, als am 31. Dezember 2010 eine Bombenexplosion vor der koptischen Kirche al-Kiddissin 21 Tote und beinahe 100 Verletzte forderte – darunter auch viele Muslime. An den darauf folgenden Tagen protestierten wütende Ägypter auf den Straßen, wobei es zu Zusammenstößen mit der Polizei kam. Auch hierbei wurden einige Menschen verletzt.
All dies erlebte Mohamed Abdel Aziz hautnah mit – als Ägypter aber auch als ein Mann, der sich seit 20 Jahren in der Schweiz für den interkulturellen Austausch einsetzt. In seinem Zentrum »Diwan« in Zürich unterrichtet er Schweizer in Arabisch, Araber in Deutsch, organisiert Veranstaltungen zur arabischen Kultur und betreibt mit Hilfe von Schweizer Freiwilligen in Alexandria eine Hilfsorganisation. Ein Geben und Nehmen zwischen Menschen und Religionen ist für ihn selbstverständlich, eine solche Attacke bleibt ihm deshalb schlicht ein Rätsel.
Eine radikale Minderheit überschattet die tolerante Mehrheit
Mit dieser Einstellung ist er nicht allein. Viele Ägypter würden ähnlich denken wie er, beteuert Mohamed Abdel Aziz. Die meisten wünschten sich ein friedliches Zusammenleben zwischen den Religionen. »Schon seit ich klein bin, ist es normal, dass Muslime und Kopten befreundet sind, zusammen arbeiten und sich austauschen. Mit meinen christlichen Bekannten besuche ich auch gerne Gottesdienste, um den Gesang zu hören. Das war nie ein Problem.« Entsprechend überrascht und schockiert sei auch sein Umfeld in Alexandria angesichts dieses Ereignisses. Doch auf beiden Seiten – der christlichen wie der muslimischen – gäbe es Fundamentalisten, die die Menschen gegeneinander aufhetzen.
Sie sind es, die jetzt besonders prominent auftreten und einen Glaubenskrieg herbeireden. Sie sind es aber auch, die jetzt von vielen westlichen Medien gehört werden. Kaum eine Zeitung füllt ihre Spalten dieser Tage nicht mit Berichten über die prekäre Situation von christlichen Minderheiten in arabischen Ländern.
Tatsächlich ist es so, dass die Kopten in Ägypten mit sehr vielen Benachteiligungen zu kämpfen haben. Das bestätigt auch Mohamed Abdel Aziz: »Es ist beinahe unmöglich, als Christ eine hohe Position in der Geschäftswelt oder beim Staat einnehmen zu können. Auch müssen die Kopten oft jahrelang mit den Behörden kämpfen, um eine Kirche bauen zu können.« Viele Muslime würden diese Situation aber bedauern. Dennoch hindere sie ein zunehmender Druck in der Gesellschaft und eine zunehmend konservativere Auslegung des Islam daran, etwas dagegen zu unternehmen.
Einen nicht zu unterschätzenden Anteil an diesen gesellschaftlichen Entwicklungen haben die vielen Wanderarbeiter, die in den 1980er und 1990er Jahren in Saudi-Arabien tätig waren, und mittlerweile zurückgekehrt sind. Mit im Gepäck brachten sie das konservative Gedankengut und die sehr strenge Auslegung des Islams, die auf der arabischen Halbinsel praktiziert wird. Immer mehr eigentlich liberale Muslime unterwerfen sich den Vorstellungen der Konservativen. Auch im persönlichen Umfeld erfährt Mohamed Abdel Aziz diese Tendenz: »Ägypten hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Auch in meiner Familie tragen die Frauen nun alle ein Kopftuch, obwohl das eigentlich nicht ihrer Überzeugung entspricht. Aber gerade bei der Arbeit ist es sehr schwer, sich ohne Kopfbedeckung durchzusetzen.«
Dass Kopten im Zuge dieser gesellschaftlichen Entwicklung tatsächlich immer mehr benachteiligt werden und als Feindbilder herhalten, leuchtet ein. Deshalb versteht Mohamed Abel Aziz ihre Wut, die sich in heftigen Protesten und Ausschreitungen an den Tagen nach dem Anschlag entlud. Doch er weist darauf hin: Es waren auch Muslime, die nach den Anschlägen auf den Straßen demonstrierten. Viele muslimische Ägypter hätten neben ihren christlichen Mitbürgern für mehr Rechte und den Schutz der koptischen Minderheit protestiert. Auch wenn es einzelne Hetzreden gegen Christen gäbe, würde sich die Mehrheit der Bevölkerung doch lieber ein friedliches Zusammenleben wünschen.
Die Regierung als eigentliches Anschlagsziel
Entsprechend sieht Mohamed Abdel Aziz die eigentliche Ursache des Anschlags nicht in einem zunehmenden religiösen Eifer. »Die Ägypter haben tagtäglich mit viel dringenderen Problemen zu kämpfen als mit religiösen Fragen. In Europa ist das kaum jemandem bewusst. Hier werden die Probleme alle als religiöse Konflikte wahrgenommen.« Für ihn war die Attacke auf die koptische Kirche eigentlich gegen die ägyptische Regierung gerichtet, die die zahlreichen Missstände im Land ignoriert: Nicht nur das Bildungs- und Gesundheitssystem im Nilland sind in desolatem Zustand, die Menschen haben auch mit Inflation und einer extrem hohen Arbeitslosenrate zu kämpfen.
Dabei ist es fast unmöglich, ohne Kontakte und ohne Geld an eine gute Stelle zu kommen. Korruption in der Privatwirtschaft aber auch bei den staatlichen Behörden gehört zum Alltag. Anstatt etwas gegen diese Zustände zu unternehmen, investiert die Regierung das Geld lieber in den Sicherheitsapparat. Unter dem Vorwand die Ägypter schützen zu wollen, zementiert die Regierung mit der omipräsenten Polizei so ihre eigene Macht. Wenn nun bei einem Anschlag gezeigt wird, dass der Staat nicht einmal die Sicherheit der eigenen Bevölkerung gewährleisten kann, ist die Regierung bloßgestellt. »Damit beweisen die Attentäter die Unfähigkeit der Staatsmacht«, erklärt Mohamed Abdel Aziz. »Die Wut über die generelle Situation kann sich entladen und man hat die Möglichkeit,die Regierung unter Druck zu setzen.« Deshalb erinnere ihn das Ereignis eher an den Terrorakt gegen europäische Touristen in Luxor 1997 als an religiöse Gewalt. Das eigentliche Ziel sei damals wie heute die Regierung gewesen, auch wenn dies mit religiöser Rhetorik verbrämt werde.
Ob dies tatsächlich der Grund für die Attacke war und nicht doch ein fundamentalistischer Einzeltäter dahinter steckt, ist bis heute unklar. Die Ermittlungen über die Ursache, die Drahtzieher und den genauen Tathergang laufen noch. Jedoch steht fest, dass in der Bevölkerung eine große Frustration über die Staatsmacht herrscht. Das zeigt sich auch darin, dass in Alexandria Gerüchte kursieren, die Regierung stecke selbst hinter dem Anschlag. Sie hätte damit zeigen wollen, dass die konservativen Muslimbrüder gefährlich und Repressionen gegen die größte Oppositionsgruppe gerechtfertigt seien. Dadurch wolle man sich die Absolution von den USA und Europa für Wahlfälschungen und Unterdrückung einholen.
Trotz des offensichtlichen Missmutes ist eine Ablösung des übermächtigen Präsidenten Hosni Mubarak und ein Ende der dringenden Probleme in absehbarer Zeit nicht zu erwarten.
Demonstrationen werden schon im Keim erstickt, eine generelle Protestbewegung fast unmöglich. Auch Mohamed Abdel Aziz hat einige Schulfreunde, die seit der Jugendzeit wegen ihrer oppositionellen Tätigkeiten im Gefängnis sitzen. Für ihn ist es deshalb auch wahrscheinlich, dass aus denselben Motiven ein ähnlicher Anschlag wieder geschehen kann. Vielleicht werde dabei auch eine Moschee angegriffen, das Grundziel sei dasselbe, meint er.
»So oder so müssen die Kopten aber mehr Rechte bekommen. Sie sollen ihre Religion frei ausleben können«, betont der Alexandriner. Und ein bisschen Zuversicht hat er dennoch, dass sich etwas verändern wird: »Vielleicht geben die Ereignisse in Tunesien den Ägyptern wieder Hoffnung, dass sich mit einer Protestbewegung aus dem Volk doch etwas ändern lässt.«