Von Friedrich Schiller ist überliefert, dass Kunst die Tochter der Freiheit sei. In Ägypten dürfte diese Analogie jedoch in diesen Tagen zahlreichen kunst- und kulturinteressierten Menschen als blanker Hohn vorkommen. Als es am 11.06.2013 zu Ausschreitungen zwischen Anhängern der Regierung und protestierenden Künstlern und Kunstschaffenden vor dem Kulturministerium auf der Nilinsel Zamalek kam, war von der Freiheit wenig zu sehen, als die ersten Steine flogen. Ein Überblick zu den aktuellen Entwicklungen in der ägyptischen Kulturpolitik. Von Tobias Zumbrägel
Die Proteste vom vergangenen Dienstag waren der negative Höhepunkt einer sich seit Wochen zuspitzenden Entwicklung im ägyptischen Kultursektor. Am 6. Mai 2013 wurde Alaa Abdel-Aziz El-Sayed Abdel-Fattah als neuer Leiter des Kulturministeriums bestätigt. Er ersetzte Mohamed Arab und ist damit gleichzeitig der sechste Kulturminister, den Ägypten seit der Revolution 2011 erleben darf – ein Ausdruck dessen, wo das Land am Nil derzeitig steht.
Der besser unter seinem Vornamen als Alaa Abdel-Aziz bekannte hohe Beamte studierte am „High Institute of Cinema“ in Kairo und machte seinen Masterabschluss in postmoderner Philosophie. Daraufhin promovierte der 52-jährige zum Thema ägyptisches Kino und war anschließend als Professor am Cinema Institute tätig. Obwohl er offiziell nicht in der von der Muslimbruderschaft ins Leben gerufenen Partei für Freiheit und Gerechtigkeit ist, schrieb er in jüngster Zeit regelmäßig Artikel für ihre Parteizeitschrift, in denen er insbesondere die Oppositionsbewegungen mehrfach diffamierte. Der neue Kulturminister bezeichnete sie als „konterrevolutionär“, „fabriziert“ und „von den Medien als überhöht“. Ferner ließ er seine Unterstützung für Muhammad Mursi in einem im Januar verfassten Text mit dem Titel „Die politische Landschaft und die Illusion der Nachbildung der Revolution" erkennen. Alaa Abdel-Aziz beschuldigte dort besonders die Berichterstattung der Medien und warf ihnen vor, die ägyptische Bevölkerung von dem Ziel, das Land vom alten System zu säubern, abzulenken. Laut der bekannten ägyptischen Tageszeitung „al-Ahram“ ist Abdel-Aziz ein Unterstützer der umstrittenen neuen Verfassung, die Mursi im vergangenen Jahr erließ und die wegen ihrer Einschränkung der Gewaltenteilung allgemeinen Unmut in der Bevölkerung hervorrief.
Nach einer Woche in der Verantwortung des Kulturministers entließ Alaa Abdel-Aziz den Vorsitzenden der ägyptischen Buchorganisation, Ahmed Mejahed, ohne eine offizielle Erklärung abzugeben. Vielmehr soll Mejahed lediglich einen Brief auf seinen Schreibtisch vorgefunden haben, in dem ihm seine unmittelbare Entlassung mitgeteilt wurde. Dies war der Beginn einer ganzen Reihe von Umstrukturierungen im öffentlichen Kultursektor.
Mitte Mai – Abdel-Aziz war zwei Wochen im Amt als neuer Minister – enthob er Salah El-Meligy seines Amtes als Direktor der bildenden Künste. Nur eine Woche später entließ Alaa Abdel-Aziz die Vorsitzende des Kairoer Opernhauses, Ines Abdel-Dayem. In einem Gespräch mit „al Ahram Online“ sagte die suspendierte Abdel-Dayem, dass sie stolz sei, die Bühne jetzt zu verlassen, wo sie unter der Organisation eines Mannes stehe, der die Künstler und Intellektuellen nicht länger repräsentiere und nicht ausreichend ausgebildet sei für seine Funktion. Anstatt die Kulturszene in Ägypten zu fördern, laute Alaa Abdel-Aziz Agenda, führende Künstler und Intellektuelle grundlos aus ihren Positionen zu entheben, so Ines Abdel-Dayem weiter.
"Die Muslimbrüderschaft demütigt und attackiert die Kunst"
Der Vorwurf scheint nicht ganz unbegründet zu sein, da sich unter Abdel-Aziz Vorgängern – im Unterschied zum aktuellen Kulturminister – bekannte Größen der ägyptischen Kunst und Kulturszene befanden. So zum Beispiel der Besitzer und Begründer des beliebten Kairoer Kulturzentrums „El Sawy Culturewheel“, Mohamed El-Sawy, oder Shaker Abdel-Hamid, der 2003 unter anderem den prestigeträchtigen ägyptischen Nationalaward, „ga‘iza ad-dawla el ta’diriyya“, erhielt und früherer Generalsekretär des hohen Kunstausschusses (SCC) war. Bei vielen Ägyptern ist aber besonders Emad Abo Ghazi in positiver Erinnerung geblieben, weil er vor allem die unabhängigen Künstler in Kairo und Umgebung gefördert hat.
Zur selben Zeit der Kündigung von Opernchefin Abdel-Dayem drohte der neue Kulturminister zudem dem Direktor der Kunstakademie, Sameh Mahran, ihn wegen Beleidigung und Verleumdung an seiner Person aus dem Amt zu entheben. Allerdings kann der Leiter der Akademie lediglich durch einen Beschluss des ägyptischen Präsidenten ernannt und entlassen werden, sodass Mahran in seiner Position bleiben durfte und Abdel-Aziz seine persönliche Fehde zunächst einmal hat aussetzen müssen.
Als Resultat dieser aus dem Kulturministerium entsandten Dekrete kündigte der Generalsekretär des hohen Kunstausschuss (SCC), Said Tawfik, am 28. Mai 2013 seinen sofortigen und unwiderruflichen Rücktritt an. Unter den gegenwärtigen Umständen, „in denen die Kultur gedemütigt wird und sich ständigen Attacken von Seiten der Muslimbruderschaft ausgesetzt fühle“, würde er sein Amt nicht länger ausführen wollen. Für ihn sei klar, dass hinter all den Entlassungen das politische Kalkül stehe, die ägyptische Kunstszene zu demontieren. Zu einer ähnlichen Meinung kommt auch Salah El-Meligy, der sich Anfang Juni zum ersten Mal seit seiner Amtsenthebung Mitte Mai durch Minister Alaa Abdel-Aziz öffentlich zu Wort meldete. Er glaube zwar nicht, dass die Kultur und Kunst so einfach aus der ägyptischen Identität zu entfernen sei, dafür sei sie historisch und gesellschaftlich zu tief verwurzelt; allerdings befürchtet er, dass nun viele talentierte und kreative Künstler und Kunstschaffende das Land verlassen, um woanders mehr Freiraum und Akzeptanz zu finden.
Ballettaufführungen als "nackte, unsittliche Kunst"
Ungeachtet der wachsenden Proteste an seiner Person – die Künstler des Opera House gingen am 28. Mai in Streik und forderten den Rücktritt des Ministers – setzte Alaa Abdel-Aziz unterdessen den Direktor des Nationalarchivs, Abdel-Wahed El-Nabawe, sowie drei weitere hochrangige Mitarbeiter von ihren Tätigkeiten ab.
Der Kulturminister betonte kurz danach in einem Interview, dass er seine Entscheidungen nach langen, präzisen Überlegungen und Berechnungen getroffen habe und seine Handlungen daher weder bereue noch zurückziehen werde.
Für alle im Kunstsektor tätigenden Menschen, die sich bisher fernab von allen politischen Einflüssen bewegt haben, stellt diese Aussage allerdings keinen Trost dar. Sie müssen weiter um ihre Zukunft und die ägyptische Kulturszene fürchten. Dass sie diese Entwicklung aber nicht tatenlos dulden werden, wurde bei der Demonstration vor dem Kulturministerium deutlich. Spätestens als sich die friedlichen Proteste in handgreifliche Ausschreitungen verwandelten, an denen auch Muslimbrüder und Anhänger der Regierung teilnahmen, offenbarte sich die derzeitig angespannte Situation und das brenzlige Thema Kultur(güter) in Ägypten.
Aus den bisherigen Entwicklungen, die unter der neuen Leitung des Kulturministeriums angestoßen worden sind, lassen sich keine klaren Rückschlüsse für die Zukunft der ägyptischen Kulturarbeit ziehen. So kann nicht eindeutig gesagt werden, dass sich der neue Kulturminister Alaa Abdel-Aziz aufgrund seines Hintergrunds verstärkt auf die Filmindustrie konzentriert. Ähnlich falsch wäre es, voreilig von einer Islamisierung der Kulturszene zu sprechen, da es keine Indizien dafür gibt und auch Abdel-Aziz in einem vor kurzem veröffentlichten Interview betonte, dass „keine ideologische oder politische Strömung die Kulturszene übernehmen werde“. Aber die konkreten Beispiele wie der Streik der Mitarbeiter des Opera House sowie die Ausschreitungen vor dem Kulturministerium offenbaren die entstandene Kluft zwischen den unabhängigen Künstlern und Kunstschaffenden und den regierungsnahen Anhängern in der Kunstszene am Nil. Es braucht gegenwärtig nicht viel, um die empfindliche Stimmung im Land zu elektrisieren. So sorgte die Aussage Gamal Hameds von der salafistischen Nour-Partei, dass die Ballettaufführungen im Opera House „nackte Kunst“ und „unsittlich“ seien, während einer Ratssitzung des Unterhauses für großen Aufruhr in Kairo.
Unklar ist, ob diese Differenzen zum offenen Bruch führen werden oder Verständigung und Alternativen gesucht werden. Der Dichter Abdel-Rahman Al-Abnoudi sagte beispielsweise am 5. Juni: „Intellektuelle, Dichter, Künstler, Musiker, Sänger etc. haben ihre eigene Kreativität. Wir kommunizieren und interagieren mit den Menschen in Ägypten auch ohne ein Kulturministerium“, dessen Leiter nur ein „Abstellplatz für Beamte und Bürokraten“ sei.
Wie viele andere Sektoren und Bereiche in Ägypten erscheinen die Vorgänge in der Kulturpolitik widersprüchlich und nebulös. Fest steht aber für den Großteil der unabhängigen Künstler und offiziell im Kunstsektor tätigen Menschen, dass sie sich gegenwärtig in ihrer individuellen Freiheit beschnitten fühlen und/oder um ihre Arbeit fürchten müssen.