16.06.2020
Abschied: Christoph, du fehlst!
In Gedenken an Christoph Sydow (1985 - 2020), Illustration: Milad Nemati
In Gedenken an Christoph Sydow (1985 - 2020), Illustration: Milad Nemati

Mit Christoph Sydow ist ein Freund, ein inspirierender Mensch und einer der besten deutschsprachigen WANA-Journalisten von uns gegangen. Christoph Dinkelaker, Gründungsmitglied von Alsharq und später dis:orient, erinnert sich.

Die Zedernrevolution im Libanon nahm gerade ihren Anfang, als Christoph Sydow im Februar 2005 zu seinem ersten prägenden Aufenthalt in Westasien und Nordafrika (WANA) aufbrach. Gemeinsam mit seinem ewigen Compagnon Robert Chatterjee (heute zenith Magazin), erlebte er die Umbrüche im Zuge der Ermordung von Premierminister Rafiq al-Hariri vor Ort.

Christoph, der schon als Jugendlicher Journalist werden wollte, ärgerte sich damals über vereinfachende Zuschreibungen à la „pro-westlich“, „pro-syrisch“ oder „radikal-islamisch“, mit denen deutschsprachige Medien die komplexe Gemengelage einer breiten Leser*innenschaft zu erklären versuchten. Dass wichtige Folgeentwicklungen nach dem Attentat in Deutschland kaum mehr im Fokus standen, bestärkte Christoph in der Annahme, dass ein Nischenblog zu WANA keine schlechte Idee wäre.

Im August 2005 war es dann soweit: Der Gründung von Alsharq kam definitiv zugute, dass in diesem Sommer kein sportliches Großereignis stattfand, das dem Fußball-, Hockey und Cricket-Verrückten Christoph den Blick aufs Wesentliche hätte verstellen können.

Die Artikel der ersten Wochen stehen sinnbildlich für die Art und Weise, wie Christoph die nächsten 15 Jahre journalistisch arbeitete: mit einer unfassbar hohen Frequenz, mit einem Fokus auf Themen und Länder, die häufig nicht im Zentrum der Medienberichtserstattung standen und mit der Gabe, komplexe Zusammenhänge vielen Menschen mit präziser Sprache und wenigen Worten verständlich zu machen.

Vielschreiber und Nischenexperte

Allein im Gründungsmonat verfasste Christoph etwa 30 Artikel. Und so ging das jahrelang weiter. Bis heute hat er mit Abstand die meisten Beiträge aller Journalist*innen von Alsharq / dis:orient geschrieben, obwohl er aufgrund seines Vollzeitjobs bei DER SPIEGEL längst nicht mehr bei uns veröffentlicht hatte.

Mauretanien, Sudan oder Bahrain - Christoph bildete Menschen und Entwicklungen ab, von denen im deutschsprachigen Raum kaum jemand Ahnung hatte. Dabei nahm er immer wieder sozio-ökonomische Themen in den Blick und verbat sich stumpfe Konfliktberichterstattung. Wenn ich heute auf Konferenzen Aktivist*innen aus weniger präsenten WANA-Ländern treffe, googele ich gerne, ob die Person schon einmal bei Alsharq / dis:orient „vorkam“: Nicht selten hatte Christoph diese Personen schon porträtiert, meist schon vor 2011, als sich die mediale Aufmerksamkeit noch nicht auf „die Region“ richtete.

Christoph profitierte dabei von einem Wissensvorsprung, den er sich über die Jahre angeeignet hatte: Er war Newsjunkie par excellence, verschlang Artikel und Bücher. Ich werde nie vergessen, wie er in Zeiten, als das Internet noch nicht omnipräsent war, morgens nach dem Aufstehen den Videotext von Seite 100 bis 888 durchklickte. Später fiel sein Blick auf das Smartphone-Display und die Push-Nachrichten, sobald wir mal eine Gesprächspause hatten.

Leidenschaft: Libanon

Nach der Gründung von Alsharq wurden Christoph, Robert und ich zu einem journalistischen Trio, das eine Leidenschaft besonders verband: Die Menschen, Politik und Geschichte des Libanon. Wir entschieden uns in unserem gemeinsamen Islamwissenschafts-Studium gegen Erasmus oder Austausch, stellten stattdessen ein selbstorganisiertes Forschungsprojekt an libanesischen Universitäten auf die Beine. Bis es im Januar 2007 soweit war, verschlangen wir alles zum Zedernstaat: Etwa eine zehnstündige, arabischsprachige Dokumentation über den Bürgerkrieg von Al-Jazeera, die wir nächtelang im Wohnzimmer von Christophs Eltern aufsaugten.

Nach einer bitterkalten Odyssee von der Türkei über Syrien, erreichten wir Beirut am Tag der ersten Ausgangssperre im Libanon nach dem Bürgerkrieg: Während wir euphorisch in Richtung Downtown strömten, lieferten sich rivalisierende Milizen Feuergefechte an der Beirut Arab University. Also genau dort, wo wir unter anderem forschen wollten. Wir haben uns nicht beirren lassen und in einer Phase zahlreicher politischer Attentate an sieben Universitäten mit 19 Standorten im gesamten Land 1500 Studierende nach ihren politischen und religiösen Wertvorstellungen befragt. Es sollte die, nach unserem Wissen, größte Umfrage dieser Art werden.

Christoph hat uns in unserer WG im schiitisch geprägten Msaitbeh jeden Morgen geweckt, sodass wir keine Uni-Termine verschliefen. Auf unseren endlosen Busfahrten zu Fakultäten in der Peripherie blieb er wach und sorgte dafür, dass wir den Ausstieg nicht verpassten.

Die Monate im Libanon waren eine extrem erfahrungsreiche Zeit, für die sich Christoph bei uns immer wieder bedankte. Wilde Partys in unserer WG mit Menschen, die sich sonst nie getroffen hätten, Wanderungen im Libanon-Gebirge und so viele Begegnungen, aus denen Freundschaften entstanden, bleiben in Erinnerung. Wir haben damals viel gelacht, manchmal gemeinsam Angst gehabt und vor allem viel erlebt.

Abschied von einem guten Freund

Über die Jahre wuchs das Alsharq-Team stetig. Christoph begegnete dabei allen Neuen voller Unterstützung und ohne jegliche Eitelkeit. Auch als er schon Vollzeit für DER SPIEGEL arbeitete, blieb er unseren Aktivitäten aufmerksam und empathisch verbunden. Jüngeren und weniger erfahrenen Journalist*innen begegnete er auf Augenhöhe, hatte immer ein offenes Ohr und unterstützte sie leidenschaftlich.

Auch die Umbenennung des Projekts in dis:orient trug er vorbehaltslos mit und retweetete fleißig auf Twitter die Inhalte unseres Magazins, obwohl ihm „sein Baby“ und der Name Alsharq viel bedeutet hatten. Die Argumentation für die Namensänderung leuchtete ihm ein, persönliche Befindlichkeiten stellte er zurück.

Mit Christoph verlieren wir einen Menschen, der unserem Projekt den Weg bereitet hat. Wir verlieren einen Journalisten, der auf wenig Platz hervorragend fundierte Analysen zu WANA-Themen schrieb. Mit seinem nüchternen Blick, seiner scharfen Auffassungsgabe und seiner Bescheidenheit hat Christoph einen Platz in der deutschsprachigen Berichterstattung geschaffen, der nun nur schwer zu besetzen sein wird. Vor allem aber haben wir durch seinen Tod einen Freund verloren - Christoph, du fehlst!

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Christoph ist studierter Islam-, Politik- und Geschichtswissenschaftler mit Fokus auf Westasien. Der Mitgründer von Alsharq - heute dis:orient - war zwischen 2011 und 2014 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem tätig. In Berlin arbeitet er als Geschäftsführer für Alsharq REISE. Christoph hält regelmäßig...
dis:orient – das sind viele Menschen. Manchmal posten wir aber auch als Team – meist in eigener Sache.
Redigiert von Anna-Theresa Bachmann, Jan Altaner