Iran laufen die Fachkräfte davon. Während das Regime sich in Repression und harter Rhetorik übt, suchen die Menschen in der Emigration vor allem eins – mehr Freiheit. Eine tragische Entwicklung für sie und für das Land, findet Omid Rezaee.
Seit einigen Tagen sind die sozialen Medien Irans voll von jungen Menschen in weißen Kitteln. Es sind Medizinstudierende, die ihrem Unmut über die neuste Entscheidung des Regimes Luft machen. Denn am 12. September hat das Ministerium für Gesundheit und medizinische Ausbildung Irans eine Verordnung erlassen, nach der alle Studierendender medizinischen Fächer eine erhebliche Kaution hinterlegen müssen, wenn sie das Land verlassen wollen. Die Kaution ist allerdings so hoch, dass Studierende mit einem normalen Einkommen sich diese nicht leisten können und somit de facto im Land gefangen sind.
Am selben Tag berichtete der Vorsitzende einer beliebten Universität in Teheran, dass durchschnittlich einmal pro Woche ein:e Professor:in einen einjährigen, unbezahlten Urlaub, um sich im Ausland nach besseren beruflichen Perspektiven umzuschauen, beantrage. Von einer anderen prominenten Universität Teherans heißt es, dass sieben Prozent der Professor:innen innerhalb der letzten zwölf Monate gekündigt hätten und ausgewandert seien. Dabei ist die Auswanderung von Iraner:innen kein neues Phänomen. Laut einer Statistik des iranischen Außenministeriums lebten bereits im Jahr 2022 über vier Millionen Iraner:innen in der Diaspora. Anderen Einschätzungen nach erreicht die Zahl von im Ausland lebenden Iraner:innen sogar bis zu sechs Millionen.
„Lasst sie gehen“
Die größte Auswanderungswelle fand unmittelbar nach der Islamischen Revolution 1979 und während des darauffolgenden Krieges gegen den Irak statt. Als Ayatollah Khomeini, Führer der Revolution und Gründer der Islamischen Republik, darauf angesprochen wurde, bekundete er in einer Rede: „Sie sagen, die Fachkräfte wandern ab. Lasst sie doch weggehen. Lasst die Talente, die unsere Kinder zum Niedergang geführt haben, verschwinden. Stattdessen kommen gute Gehirne nach.“ Khomeinis Aussage war kein Einzelfall und wurde im Laufe der letzten Jahrzehnte mehrmals wiederholt. Ein jüngster Fall, der 2020 in sozialen Medien für Empörung sorgte, war eine Live-Sendung im staatlichen Fernsehen, in der die Moderatorin aus dem Hardliner-Lager verlautbarte: „Wer an die Werte der Islamischen Republik nicht glaubt, soll einpacken und gehen.“ Die Funktionäre und Anhänger:innen der Islamischen Republik haben über die letzten Jahrzehnte also immer wieder deutlich gemacht, dass sie sich über die Auswanderung von unzufriedenen Bürger:innen freuen. Für sie ist es vermutlich einen leichter Weg, einen wütenden Teil der Bevölkerung, der die Lage nicht mehr aushalten kann, loszuwerden.
Doch dass der aktuelle Auswanderungstrend den Staatsapparat diesmal offenbar in Unruhe versetzt und zu tatsächlichen Gegenmaßnahmen bewogen hat, weist darauf hin, dass die Emigration ein neues Ausmaß erreicht. Die Wirtschaftszeitung Donya-ye Eqtesad berichtet, dass in den letzten 12 Monaten sechzehntausend Allgemeinärzte und -ärztinnen ausgewandert seien. Im selben Zeitraum hätten 160 Herzspezialist:innen das Land verlassen und weitere dreißigtausend Gesundheitsfachkräfte, also andere Fachärzt:innen und Pflegepersonal, eine berufliche Unbedenklichkeitsbescheinigung beantragt, um sich im Ausland bewerben zu können.
Die Kaution für Auslandsreisen ist dabei nicht der einzige Riegel, den das iranische Regime den Fachkräften vorzuschieben versucht, um ihre Abwanderung zu verhindern. Der Führer der Islamischen Republik Ayatollah Khamenei hat bereits im vergangenen Jahr verkündet, die jüngere Generation zur Auswanderung zu motivieren sei „Landesverrat“. Nur einige Tage danach hat die Zeitung Iran einen Meinungsbeitrag veröffentlicht, in dem der Autor, ein von staatlichen Kreisen hofierter Professor, forderte: Die Regierung solle von Fachkräften, die von den Möglichkeiten dieses Landes für ihre Ausbildung profitiert haben, eine beträchtliche „Auswanderungssteuer" verlangen. Die Iran-Zeitung ist die offizielle Tageszeitung der iranischen Regierung und spiegelt die offizielle Linie der Regierung wider. Im Herbst desselben Jahres hat die Regierung zudem jegliche Werbung für Immobilienkauf im Ausland untersagt.
Außerdem geht die Regierung gegen private Institutionen vor, die Vorbereitungskurse für die YÖS-Prüfung, die Aufnahmeprüfung ausländischer Studierender an türkischen Universitäten, anbieten. Dabei wird die Nachfrage nach diesen Kursen in den letzten Jahren immer größer, denn die Türkei ist ein Lieblings-Migrationsziel für Menschen in Iran, die sich die Auswanderung nach Westeuropa und Nordamerika nicht leisten können.
Geld ist nicht alles
Es scheint bei den Politiker:innen der Islamischen Republik also zumindest teilweise angekommen zu sein, dass das Land nicht „verdorbene Menschen, die für ausländische Geheimdienste arbeiten,“ verlassen, wie Ayatollah Khomeini damals meinte. Sondern es sind vor allem die klügsten Köpfe die ein Land wie Iran, das vor massiven Herausforderungen steht, sei es in der Wirtschaft, Umwelt oder in der Gesellschaft, dringend benötigt. Im Januar 2022 sagte der Vorsitzende der iranischen Nationalen Organisation für die Entwicklung außergewöhnlicher Talente (NODET), dass mindestens 82 der 86 jungen Medaillengewinner:innen der internationalen Wissenschaftswettbewerbe ihr Heimatland inzwischen verlassen haben.
Erstaunlich ist dabei die erhebliche Zahl der Ärzte und Ärztinnen, die sich um die Auswanderung bemühen. Denn zum einen sind sie im Land vor allem für ihr gutes Einkommen bekannt und zum anderen ist die Anerkennung eines medizinischen Abschlusses in den meisten Ländern wesentlich komplizierter als zum Beispiel die der ingenieurwissenschaftlichen und technischen Abschlüsse. Dieser Auswanderungstrend unter Ärzten und Ärztinnen trotz ihres vergleichsweise guten Statuses beruht daher nicht unbedingt auf wirtschaftlichen Gründen. In einer aktuellen Umfrage des Institutions Surveycenter.io haben immerhin 26 Prozent der Befragten die fehlenden politischen und religiösen Freiheiten als Hauptgrund ihres Emigrationswillens angegeben. Denn das iranische Regime mischt sich, im Gegensatz zu vielen anderen Diktaturen auf der Welt, bis tief ins Privatleben und den Alltag der Menschen ein, sodass ein „normales Leben“, wie es sich viele säkulare Iraner:innen vorstellen, nicht möglich ist – ganz abgesehen davon, wie es ihnen wirtschaftlich ergeht. So ist beispielsweise bereits die einzigartige allgemeine Kopftuchpflicht für viele Frauen ein hinreichender Grund zur Auswanderung.
Mit Blick auf die Zukunft spielt für viele Menschen außerdem die Perspektivlosigkeit in Iran eine entscheidende Rolle. Auch diejenigen, die wirtschaftlich noch gut dastehen, sind sich nicht sicher, ob das auch morgen noch so sein wird. Die Wirtschaftslage in Iran ist abhängig von den politischen Beziehungen mit den Weltmächten, die seit Jahrzehnten wegen des ambitionierten Atomprogramms des Staates bestenfalls schwanken. Generationen nach Generationen in Iran betrauern inzwischen ihre Jugend, die von Nachrichten zu diesem und jenem Abkommen, zu den Resolutionen der UN-Sicherheitsrates über Iran, überschattet wird. Dass man seine Kinder nicht mit diesem unnötigen Stress aufwachsen lassen will, reicht für viele, sich ein besseres Leben im Ausland zu suchen. Auch die Enttäuschung von den sogenannten Reformer:innen, die für Jahre Entwicklungen und Veränderungen versprochen hatten, sie aber nicht erfüllen konnten, hat zu diesem Auswanderungstrend beigetragen.
So dramatisch eine einigermaßen unfreiwillige Migration sein kann, fällt es vielen dieser gebildeten Iraner:innen nicht besonders schwer, ihre Zukunft in den USA, Kanada oder Westeuropa zu sichern. Andersrum ist das aber für das Land ein weiterer Verlust, der sich nicht leicht kompensieren lässt, auch wenn eines Tages ein demokratisches System in Iran zustande kommen sollte. Außerdem bleibt die Frage offen, ob der Aufbau einer Demokratie ohne die klügsten Köpfe einer Gesellschaft überhaupt möglich ist. Anders gesagt, genau diejenigen, die dem Land den Rücken zudrehen, sind diejenigen, die zur politischen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes beitragen könnten, wenn ihnen der Staat die Chance gegeben würde.
Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.