Der Islam kenne keine Vernunft und Kritik - so lautet eine gängige Annahme. Dabei ist Kritik schon immer Bestandteil des Islams gewesen. Doch um sie sichtbar zu machen, müssen wir neu auf die europäische Aufklärung blicken, argumentiert Irfan Ahmad.
Wenn Immanuel Kant als die „Vaterfigur der Aufklärung“ gelten kann, ein Ausdruck, der von dem Anthropologen William Mazzarella verwendet wird, darf der Literaturkritiker Edward Said wohl als treues Kind dieser Aufklärung verstanden werden. Prägend für den Begriff der säkularen Kritik, verstand auch Said sich selbst als säkularer Kritiker. In besonderer Weise kommt dies in der Einleitung und dem Fazit seines Buches „Die Welt, der Text und der Kritiker“ (1997) zum Ausdruck, die jeweils mit „Säkulare Kritik“ beziehungsweise „Religiöse Kritik“ betitelt sind.
Seiner Zeit beklagend, dass zeitgenössische Kritiker selbst „Geistliche“ geworden seien, galt ihm die Aufklärung als zentrales Paradigma, damit Kritik „ein wahrhaft säkulares Unternehmen werde“. In dieser Formulierung von Kritik wird einmal mehr deutlich, dass der Begriff nicht nur weit entfernt von dem Begriff der Religion verfährt, sondern auch in einem scharf von ihr getrennten Bereich ansässig ist, der als säkular bezeichnet wird.
Peter Sloterdijk, bekannt als Moderator der Sendung „Das Philosophische Quartett“ wie durch seinen Bestseller „Kritik der zynischen Vernunft“, welches nach dem Zweiten Weltkrieg als das meistverkaufte Buch im Bereich Philosophie gilt, widerspricht Said. Im Gegensatz zu Said lehnt Sloterdijk die Nützlichkeit des Begriffs ab und beschreibt Kritik als „Illusion“.
Nichtsdestotrotz scheinen beide zumindest eine Sache gemein zu haben: Sowohl Said als auch Sloterdijk lassen die intellektuelle Fähigkeit der Religion sowie ihren kritischen Anspruch außer Acht. Sloterdijks kommt sogar zu dem Schluss: „Wer krankenversichert ist, braucht Gott nur halb so viel wie zuvor, aber wer eine Lebensversicherung hat, braucht ihn [Gott] überhaupt nicht.“
Die Aufklärung, Christentum, Islam
Von den meisten Wissenschaftler:innen sowie der Feuilleton-lesenden Öffentlichkeit wird die europäische Aufklärung als ein Bruch mit der Religion/dem Christentum verstanden, der eine Ära der Kritik einleitete und hierbei die Vernunft als Dreh- und Angelpunkt derselben setzte. Wir sind zwar vorsichtiger geworden, nicht mehr von der Aufklärung schlechthin zu sprechen, auch weil die Konturen und Nuancen der Bewegung im britischen, niederländischen, französischen, deutschen, schottischen oder anderswo verorteten Kontext unterschiedlich verliefen, gleichzeitig aber hat diese Vorsicht das dominierende Verständnis der Aufklärung kaum verdrängt.
Beim Verfassen von „Religion as Critique: Islamic Critical Thinking from Mecca to the Marketplace“ [zu Deutsch „Religion als Kritik: Islamisches, kritisches Denken von Mekka bis zum Markt“, Anm. d. Red.] war es mir ein Hauptanliegen, eben jene vorherrschenden Sichtweisen zu untersuchen, die die Aufklärung als einen Bruch von der Religion/vom Christentum und als Initiator der Vernunft verstehen.
Im Zuge dessen habe argumentiere ich, dass die Aufklärung kein Bruch mit dem Christentum darstellt, sondern vielmehr eine Neueinschreibung des Letzteren. An dieser Stelle kann ich meine Argumentation nicht in ihrer Gänze ausführen, weshalb ich mich nur auf einige Stichpunkte beschränke. Exemplarisch konzentriere ich mich auf Immanuel Kant und François-Marie Arouet, besser bekannt als Voltaire, die beide nicht nur einflussreiche Autoren der Aufklärungsepoche sind, sondern in diesem Beitrag helfen, bestimmte Ausrichtungen der europäischen Aufklärung deutlich zu machen.
Kant zum Beispiel hat das protestantische Christentum als rational vorausgesetzt, um andere Religionen zu kritisieren. Während er das Judentum als „eigentlich gar keine Religion“ betrachtete, galt ihm der Islam als Antithese zu allem vermeintlich Rationalem.
In seinem Vorwort zur ersten Ausgabe von „Kritik der reinen Vernunft“ skizziert Kant eine Herausforderung für den Wiederaufbau der Metaphysik, die für ihn besonders von der Figur des Nomaden ausgehe, „die allen beständigen Anbau des Bodens verabscheuen“ würde. Somit biete der philosophische Nomadismus keinen „Wohnplatz zum beständigen Aufenthalte“. In der zweiten Ausgabe unternimmt er hingegen eine Verfestigung dieser Figur, indem er „die richtigen Grenzen“ einführt. Bei Kant nehmen Nomad:innen eine Grenzposition ein:
„Der Araber oder Mongole verachtet den Städter und dünkt sich vornehm in Vergleichung mit ihm: weil das Herumziehen in den Wüsten mit seinen Pferden und Schafen mehr Belustigung als Arbeit ist.“
Hinter Kants Beschreibung des Arabers oder des Mongolen, der ohne Arbeit umherwandert, steht das diametral entgegengesetzte protestantische Postulat harter Arbeit, das sein philosophisches Land von den Arabern unterscheidet. Kant inszeniert diesen Kontrast in seinem Aufsatz „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie“, um eine Grenze zwischen dem rationalen, fleißigen Philosophen einerseits und dem irrationalen, enthusiastischen Mystagogen andererseits zu ziehen.
Die Gefahr für die Philosophie ist nicht nur eine Gefahr für die Vernunft, sondern ebenso für das „christliche Europa“ - ein Begriff, den Kant in seiner „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ verwendet. Diese Grenzziehung zielt darauf ab, die Philosophie vor der „Gefahr“ einer „schwärmerische[n] Vision“ zu schützen. Für Kant gilt das Denken als Gegenteil von „Schwärmerei“. Die Vernunft nicht zu benutzen, bedeutet demnach, Tür und Tor zu „aller Schwärmerei, Aberglauben, ja selbst der Atheisterei“ zu öffnen, wie er in seinem Aufsatz „Was heißt: sich im Denken orientieren?“ schreibt.
Der Islam und der Prophet Muhammad verkörpern für Kant die Gefahren des Eifers, des Fanatismus, der Sinnlichkeit und des Nomadismus. In seinem „Versuch über die Krankheit des Kopfes“ beschreibt Kant Muhammad als „Schwärmer“: „Die Schwärmerei führt den Begeisterten auf das Äußerste, den Mahomet auf den Fürstenthron“. In „Kritik der praktischen Vernunft“ wiederum kehrt Muhammad dann als Verkörperung von Unvernunft, Unsinn und Wahnsinn der Vorstellungskraft zurück.
Wie die Aufklärung in Deutschland, so ist auch die französische Les Lumières christlich und antiislamisch zugleich. Auch an dieser Stelle muss ich mich auf stichpunktartige Hinweise beschränken. Betrachten wir zum Beispiel Voltaire, der als Atheist und als feindlich gegenüber dem Christentum angesehen wird. Das religionskritische und atheistische Werk Paul Henri Holbachs „Christianity Unveiled“ kommentierend, bemerkt Voltaire jedoch: „Dieses Buch führt zu einer atheistischen Philosophie, die ich verabscheue.“ Damit ist aber nicht gemeint, dass er das Christentum nicht kritisiert hat. Was jedoch nicht anerkannt wird, ist, dass der Bezugspunkt seiner Kritik an Kirche, Geistlichkeit und Orthodoxie nicht nur die Vernunft war, sondern auch die Vorstellung von der wahren Religion Jesu.
Im Gegensatz dazu beschrieb Voltaires „Der Fanatismus oder Mohammed“ den Propheten des Islam als „Betrüger“. Vielmehr noch, Muhammad avancierte zum Archetyp des Fanatismus, der gegen die Vernunft gerichtet ist. Voltaires eigene Berichte erzählen zwar davon, wie sein Stück in Frankreich zensiert wurde, dass diese Zensur aber auf Geheiß von Papst Benedikt XIV aufgehoben wurde, wird immer wieder außer Acht gelassen. Vielmehr noch, der Papst kam Voltaires Bitte nach, das Stück ihm zu widmen.
In Voltaires Brief an den Papst lesen wir, dass Voltaire das Stück „gegen den Begründer einer falschen und barbarischen Sekte [Islam]“ geschrieben habe. Zwar lobte Voltaire den Islam für seine Toleranz gegenüber anderen Glaubensrichtungen, so zum Beispiel unter der Herrschaft der Osmanen und während des Mogulreiches, doch hatte Voltaire hierbei eine historische Soziologie der Muslime im Blick. Der Glaube des Islam wie auch der Prophet selbst blieben weiterhin fanatisch, absurd und falsch.
Nicht nur Voltaire, sondern auch die französischen Philosophes und Enzyklopädisten insgesamt griffen den Islam an. Denis Diderot zum Beispiel, dem Chefredakteur der Enzyklopädie, galt Muhammad als „der größte Feind, den die menschliche Vernunft jemals gekannt hat“ und der Koran als ein „absurdes, obskures und unehrliches Buch“.
Die Behauptung, dass die französischen „Aufklärer“ den Islam nur angriffen, weil Zensur oder eine mögliche Verfolgung es erschwerte, das Christentum direkt zu kritisieren und zu beanstanden, und dass eine Kritik am Islam eigentlich als Kritik am Christentum zu verstehen sei, ist nicht überzeugend und auch nicht haltbar. Warum haben die Philosophes aus allen verfügbaren Religionen gerade und nur den Islam ausgewählt, um ihre Kritiken zu formulieren? War die Annahme etwa, dass der Islam nicht eine, sondern die Religion darstelle und dass eine Kritik am Islam gleichbedeutend mit einer Kritik an der Religion schlechthin sei?
Anthropologie der Philosophie und Vernunft
Diese und ähnliche Fragen können weder von der Philosophie noch von der Anthropologie allein adäquat beantwortet werden. Notwendig ist vielmehr eine Anthropologie der Philosophie! Philosophie hingegen ist nicht einfach eine Übung im Geiste beziehungsweise des Intellekts, wie auch immer begabt die einzelne Person. Ebenso wenig ist eine inspirierende Anthropologie als die bloß methodische Umsetzung eines lebhaften Empirismus zu verstehen, die voreilig über ihre ethnografischen Objekte urteilt.
Wenn wir moderne Ideengeschichte, einschließlich der europäischen Aufklärung, als eine sozialkulturelle Praxis verstehen und dieselbe aus dem Prisma der politischen Anthropologie betrachten, wird deutlich, dass dieses Denken auch ein umfassendes Sicherheitsprojekt darstellt. So hält zum Beispiel Michael Dillon in seinem Buch „Politics of Security“ zu Recht fest, dass das politische Denken des Westens von seinem metaphysischen Bestreben angetrieben wird, jene theoretisch und instrumentell notwendigen Gründe zu sichern, um Sicherheit zu gewährleisten, die wiederum metaphysisch und politisch zugleich ist.
Eine politische Anthropologie der Aufklärung ermöglicht es uns daher, ihre dezidiert ethnische Identität offenzulegen. Innerhalb der Anthropologie wie auch in verwandten Disziplinen wird die Kategorie der Ethnizität verwendet, um kulturelle Unterschiede zu analysieren und hierdurch Grenzen zwischen zwei oder mehreren Gruppen zu ziehen – häufig ist diese Kategorisierung jedoch auf den Raum außerhalb Europas begrenzt. Es gibt jedoch hinreichende Gründe, den analytischen Blick auf Europa zu richten und die Funktionsweise der Ethnizität im Kontext der europäischen Philosophie zu untersuchen.
Wie bereits gezeigt, war der Islam sowohl für „Aufklärer“ in Deutschland als auch in Frankreich ein wichtiger außer-europäischer „Andere“ (nicht der einzige), gegen den diese ihre Vorstellungen von Vernunft formulierten, die auch mit dem europäischen Christentum einherging.
Anthropologen jedoch, die eigentlich ein geeignetes analytisches Rüstzeug besitzen, die ethnischen Mechanismen der Aufklärung zu identifizieren und zu kritisieren, haben sie hingegen reproduziert. In dem Michael Fischer und Mehdi Abedi ihr Buch zum Beispiel mit „Debating Muslims“ betiteln, gehen sie davon aus, dass Muslime zwar debattieren, aber nicht kritisieren könnten, weil die Offenbarung stets der Referenzrahmen bleibt. Während sie einerseits den Koran, die Hadithe und die Rituale wie den Haddsch besprechen, gehen sie weithin von der Annahme aus, dass es zwar Raum für Kritik gäbe, jedoch keinen Raum für Kritik als Kritik.
Das heißt, Muslim:innen könnten sich in ihrem Buch zwar einer kritischen Hermeneutik widmen, nicht aber eine epistemologische Kritik formulieren, dessen Referenzpunkt, wie es heißt, ausschließlich die säkulare Vernunft der Aufklärung sein kann.
Noch deutlicher wird diese Argumentationslinie in Fischers Buch „Anthropology as Cultural Critique“, welches er gemeinsam mit George Marcus verfasst hat. Zahlreiche Anthropologen, wie zum Beispiel Dale Eickelman („Knowledge and Power in Morocco“), John Bowen („Muslims through Discourse“) oder Magnus Marsden („Living Islam“), die in so unterschiedlichen Kontexten wie Marokko, Indonesien und Pakistan ethnografisch gearbeitet haben, schlagen analytisch einen ähnlichen Weg ein.
Die Konstellation der Kritik jenseits der religiös-säkularen Trennung
Das ist der Kontext - theoretisch, methodisch, philosophisch und die Disziplin der Anthropologie betreffend - in dem „Religion as Critique“ interveniert, um über Islam als eine Form der Kritik zu schreiben.
Der Titel dieses Aufsatzes, ähnlich wie Nietzsches Idee, Philosophie mit einem Hammer zu betreiben, bestreitet die selbstgefällige Erzählung der Aufklärung und problematisiert ihre Vorurteile gegenüber dem Islam, um stattdessen zu demonstrieren, wie Kritik innerhalb der islamischen Traditionen funktioniert. Zu diesem Zweck und unter Berufung auf das inspirierende Oeuvre von Talal Asad, wird die eurozentrische Polarität zwischen religiös und säkular aufgehoben.
Edward Saids Denken ist als sinnbildlich für diese Polarität zu verstehen, die auch von anthropologischen Wissenschaftler:innen, die Asad unaufmerksam gegenüberstehen, unkritisch reproduziert wurde, indem sie das Diktum der Aufklärung als Kritik aufrechterhielten. Es ist wichtig hervorzuheben, dass bemerkenswerte Arbeiten, wie die von Charles Larmore und Peter Berger, den Säkularismus als charakteristisch christlich deuten, weil er für die inneren Grundsätze des jüdisch-christlichen Monotheismus einzigartig und deshalb anderen Glaubensrichtungen fremd ist.
Betrachten wir Kritik und Reflexivität jedoch aus der Perspektive des longue durée, ist es unsinnig, beide als alleinige Eigenschaften der europäischen Aufklärung und der Moderne zu sehen. Kritik geht vielmehr der Aufklärung voraus und lässt sich auf das Axialzeitalter (800 bis 200 v. Chr.) zurückführen, die von Arnaldo Momigliano als das Zeitalter der Kritik bezeichnet wird.
So war zum Beispiel Buddha ein Kritiker; er forderte die auf hierarchischer Grundlage basierende Ordnung, die durch die religiöse Logik des jati (Kastenwesen) sanktioniert wurde, heraus. Ähnliches gilt auch für die Propheten Musa (Moses) und Isa (Jesus), in deren Traditionslinie auch der Prophet Muhammad steht. In der Sprache und Begrifflichkeit des Koran erkennen wir, dass die Mission aller Propheten, die Allah sandte, darin bestand, Reformen durchzuführen (islaḥ). Und zu reformieren, bedeutete auch zu kritisieren.
In der islamischen Tradition stimmt diese Mission der Reform gut mit dem überein, was der Talmud und die Bibel sagen. Die Propheten von Bani Israel (Kinder Israels) bemühten sich um eine Reform der Gesellschaften, indem sie die Macht ihrer Zeit kritisierten (Substantiv: tanqīd/naqd). Der Prophet Muhammad war ein prominenter Kritiker der mekkanischen Gesellschaftsordnung, da er sich der Reform jener Gesellschaft widmete, dessen Machteliten ihn so wenig mochten, dass sie seinen Mord planten.
Dennoch verleugnete er die Mekkaner:innen nicht. Als er gezwungen wurde, Mekka zu verlassen, verzieh er bei seiner Rückkehr sogar denen, die ihn töten wollten. Dies war Mohammads Liebe zu den Menschen in Mekka, also jenen, die er zu kritisieren und zu reformieren suchte.
Da Muslim:innen glauben, dass Mohammad der letzte Prophet war, lag die Mission der Reform und der Erneuerung (tajdid) der Botschaft Gottes nach Mohammeds Tod bei den Ulema, die als Erbe der Propheten angesehen wurden. Fälschlicherweise als Geistliche oder Theologen übersetzt, sind Ulema korrekterweise als Gelehrt:innen jenseits eines säkular-religiösen Dualismus zu verstehen.
Bevor ich gleich die wichtigsten Thesen des Buches zusammenfasse, scheint mir zunächst ein Hinweis zu Thema und Methodik angebracht. Das Thema der Kritik, das mein Buch verfolgt, ist die Darstellung des Islam durch Abul Ala Maududi (1903–79), dem Begründer der Jamaat-e-Islami (im Folgenden: Jamaat). Hierbei diskutiere ich ausführlich die vielfältigen Kritiken gegenüber seinen Darstellungen, geäußert durch ehemalige Mitglieder und Sympathisanten der Jamaat wie auch durch den Studentenflügel der Jamaat, der Student Islamic Organization.
Das heißt, der Hauptfokus liegt auf der immanenten Kritik derer, die mit der Jamaat in Verbindung standen oder stehen. Die Formen, Modalitäten und Mechanismen der Kritik werden anhand der muslimischen Auseinandersetzung mit der „Frauenfrage“ wie auch der Frage, ob der islamische Staat ein integraler, zufälliger oder gar entbehrlicher Teil des islamischen Glaubens darstellt, eingehend und ausführlich beschrieben. Währenddessen werden ebenso Themen wie Demokratie, Gerechtigkeit, Sprache, Identität und vieles mehr erörtert.
Aufgrund des ethnografischen Kontextes Indiens gilt es auch, herauszuarbeiten, was die Minderheitenkonstellation der indischen Muslim:innen für ein muslimisches Leben in Indien bedeutet. Das Indien, von dem „Religion as Critique“ spricht, unterscheidet sich radikal von dem Indien, das von Gelehrten wie Amartya Sen diskutiert wird, bei dem Muslim:innen lediglich eine statistische Größe bilden, anstatt als denkende Subjekte aufzutauchen, die eine eigene Tradition des Begründens wie auch des Argumentierens besitzen. Das letzte Kapitel diskutiert Kritik als tagtägliche soziokulturelle Praxis.
Betrachtet und analysiert wird hierbei eine der spektakulärsten Friedensbewegungen, die von Abdul Ghaffar Khan (1890–1988) initiiert wurde. „Religion as Critique“ erörtert die Ḳhudai Khidmatgar Bewegung (Gottes Diener) als Bewegung der Kritik. Abschließend wird alltägliche Kritik anhand von Urdu-Sprichwörtern analysiert. Diese Beschreibungen machen offenkundig, wie unterschiedliche Modi der Kritik sich auf Macht und Ohnmacht bzw. sich sowohl auf die reale als auch auf eine mögliche Welt beziehen.
Als ausgesprochen historisch-ethnografisches Buch stützt sich „Religion as Critique“ auf die Erkenntnisse aus so unterschiedlichen Disziplinen und Bereichen wie die der Islamwissenschaft, Literaturwissenschaft, Religionswissenschaft, Urdu-Literatur, Anthropologie der Philosophie, des euro-amerikanischen Denkens und der Südasienkunde.
Vier Thesen
„Religion as Critique“ führt bewusst vier miteinander verwobene Argumente an. Da jedes dieser Argumente wiederum verschiedene Unterargumente voraussetzt und hervorbringt, enthält jede dieser Thesen offensichtlich Unterthesen, die selbst auf anderen Thesen aufbauen.
Erstens: Gegen die fast einvernehmliche Ansicht, dass der Islam keine Vernunft kenne und noch nicht modern sei, argumentiert „Religion as Critique“, dass Kritik in verschiedenen Formen und in unterschiedlichem Ausmaß schon immer ein wesentlicher Bestandteil des Islam gewesen ist.
Die Aufklärungsidee der Kritik ist hingegen das historische Ergebnis einer dezidiert abgrenzbaren, provinziellen und politisch-anthropologischen Formation, dessen analytische Verallgemeinerung für andere Kontexte nur bedingt möglich ist.
Ein wichtiges Argument hierbei ist, dass die Aufklärung – verstanden als der Bezugspunkt für Kritik und den Gebrauch der Vernunft - ein ethnisches Projekt war, weil Europa seine Identität im Namen der Vernunft gegen eine Reihe „Anderer“ einschließlich des Islam konstituierte. Entgegen der vorherrschenden Annahme und Meinung, wonach Islam und Kritik zwei sich ausschließende Bereiche seien - Islam und Kritik -, wird vorgeschlagen, den Islam als Kritik neu zu betrachten.
Zweitens: An und für sich genommen, ist die Vernunft weder ausreichend noch absolut autonom, um zu Urteilen zu gelangen. Eine von anderen Dingen und Kriterien getrennte, isolierte, losgelöste oder autonome Vernunft existiert nicht. Auf sich allein gestellt, ist sie in vielerlei Hinsicht hilflos, die ersten Prinzipien einer Tradition oder einer Weltanschauung zu erklären – die säkulare Weltanschauung miteingeschlossen. In anderen Worten: Die Vernunft ist mit Kultur und Tradition verwoben wie auch in der Politik verankert, wo sie weit über die Logik und Axiome der Parteipolitik oder der Wahlarithmetik hinausreicht.
Drittens: Der Islam schätzt die Vernunft (aql). Gleichzeitig steht dieselbe aber nicht in einem Dualismus mit Emotionen und Affekten beziehungsweise versucht diesen entgegenzuwirken, sondern ist mit den islamischen Vorstellungen von qalb oder dil (Herz) geeint. Die Gleichzeitigkeit von Herz, Vernunft und Verstand kommt in den Vorworten von Urdu Büchern deutlich zur Geltung.
Wie zum Beispiel Abul Kalam Azad argumentiert, spricht der Koran sofort das Herz (dil) und den Verstand (dimag̣h) seiner Leser:innen an, anstatt lediglich eine dieser Modalitäten der Wahrnehmung zu forcieren. Sowohl in der arabischen als auch in der Urdu-Tradition ist der Ort des Intellekts oder der Vernunft qalb. Selbst für Sayyid Ahmad Khan, dem größten Verfechter der Vernunft in Britisch-Indien des 19. Jahrhunderts, war das Herz der Ort des Zweifels und der Befriedigung hinsichtlich philosophischer Argumente.
Schließlich und letztlich: Das Buch macht das Argument stark, die Praxis der Kritik auf gewöhnliche und ungebildete Subjekte zu erweitern, anstatt sich auf Eliten zu beschränken. Somit waren Nichtintellektuelle wie Khan Abdul Ghaffar Khan und Zehntausende gewöhnliche:r Anhänger:innen seiner antikolonialen Ḳhudai Khidmatgar-Bewegung ebenfalls Kritker:innen von Macht- und Herrschaftsverhältnissen.
Ebenso konzentriert sich das Buch auf südasiatische Sprichwörter, die als Schauplätze einer alltäglichen Kritik auftreten und mit dem Tod verflochten sind. Letzteres ist gerade deshalb wichtig, da jenseits des Eurozentrismus der Tod nicht in privatisierter und gesellschaftlich unsichtbarer Form verhandelt wird, wie zum Beispiel im Rahmen des Eurozentrismus.
Sozialwissenschaftliche Theorien des Alltagslebens oder der Lebenswelt untermauern diese eurozentrische Hinwendung zum Leben, die gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit dem Tod ins Private verdrängt hat. Über Kritik als alltägliche Praxis zu schreiben, bedeutet, von einer seit langem etablierten eurozentrischen Tradition abzuweichen (die, wie Raymond Williams feststellte, seit dem 17. Jahrhundert existiert), die Kritik auf literarische Texte und Figuren beschränke. Erst im Jahr 2009 erweiterte zum Beispiel das Oxford English Dictionary die Bedeutung der Literaturkritik als Urteil auf ein „nicht-textuelles Subjekt“.
Wenn Kritik in ihrer alltäglichen Form weit über die Welt der beruflichen Intellektuellen hinaus sichtbar werden soll, ist damit nicht gemeint, dass gewöhnliche Menschen wie Straßenhändler:innen oder Prostituierte und Spezialist:innen - zum Beispiel diejenigen mit Doktortitel – Kritiker:innen der gleichen Art seien. Als Antonio Gramsci feststellte, dass jeder ein Intellektueller sei, bemerkte er ebenfalls, dass wir alle Rührei machen könnten und es auch oft täten. Trotzdem mache uns das aber nicht unbedingt zu Chefköch:innen.
Zu beachten ist, dass Kritik so verstanden werden sollte, wie wir es noch nicht gewohnt sind. Als eine Aktivität, Praxis und Idee innerhalb der südasiatischen Urdu / islamischen Tradition wird unter dem Begriff der Kritik (tanqid / naqd) gemeinhin zu bewerten verstanden, das auf die Unterscheidung zwischen originalen und gefälschten, zwischen guten und schlechten oder nicht so guten Münzen (janchnā / parakhna) zurückgeht.
Kritik beschränkt sich also weder auf die Wissenschaft oder Intellektuelle außerhalb von Hochschulen und Universitäten, noch auf geschriebene Texte. Anders ausgedrückt, führt „Religion as Critique“ die Kritik wieder dorthin, wo sie zu Recht hingehört – nämlich wo das Leben mit dem Tod verflochten ist.
Zurück zu und gegen Sloterdijk: Trotz der Existenz der Life Insurance Cooperation, einer staatlichen und der größten Versicherungsgesellschaft in Indien (ihre Geschichte reicht bis in das frühe 19. Jahrhundert), ist Religion in Indien weiterhin von herausragender Bedeutung und, wie Sloterdijk es nennt, „unter uns“.
Und sowohl gegen Sloterdijk als auch gegen Said muss angeführt werden, dass die Religion unbemerktes Potenzial, Ressourcen und Kreativität besitzt, um als wichtiges Medium von und für Kritik zu dienen, aber von der Aufklärung stigmatisiert wurde. „Religion as Critique: Islamic Critical Thinking from Mecca to the Marketplace” stellt eben diese These in den Vordergrund. Zu diesem Zweck und um diesem Unternehmen gerecht zu werden, müssen ebenso die Grenzen und die Vitalität der Anthropologie festgelegt und neu betrachtet werden.