Der libanesische Intellektuelle, Aktivist und Verleger Lokman Slim wurde erschossen. Sein Lebenswerk war es, die libanesische Gesellschaft mit sich selbst zu konfrontieren. Ein Nachruf.
Das Unbequeme kann manchmal wunderschön sein. Etwa ein Film voller ästhetisch großartiger Bilder, die schlaflose Nächte bereiten. Beeindruckende Fotos, die zum Grübeln bringen. Klare Worte, die dazu zwingen, die Realität neu zu betrachten.
Lokman Slim war ein Meister des Wunderschönen – und des Unbequemen. Die Organisation UMAM, die er gemeinsam mit seiner deutschen Frau Monika Borgmann gegründet hatte, sorgt mit Ausdruck für Eindruck, sorgt mit eindeutigen Botschaften für Zweifel.
Am Donnerstagmorgen wurde Lokman im Süd-Libanon gefunden, erschossen in seinem Auto. Wer ihn getötet hat, ist unbekannt und wenig spricht dafür, dass die Verantwortlichen jemals zur Rechenschaft gezogen werden. Viele verdächtigen die Hisbollah – sie kontrolliert das Gebiet, in dem er gefunden wurde. Die Hisbollah wiederum hat Lokmans Ermordung verurteilt, was auch immer das heißen mag.
Der Sohn von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah twitterte am Donnerstag: „Was für manche Leute ein Verlust bedeutet, ist in Wirklichkeit ein Gewinn und eine unerwartete Güte #KeineReue“. Später löschte er den Tweet und erklärte, nicht Lokman Slim gemeint zu haben.
— Timour Azhari (@timourazhari) February 4, 2021
Rückkehr zur Zeit der politischen Attentate
Fest steht: Lokman kritisierte die Hisbollah, aber die einfache Zuschreibung als „Hisbollah-Kritiker“ wird ihm nicht gerecht, denn er griff noch viel mehr an: den Umgang der libanesischen Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit, die Machthaber im politischen System und die „konfessionelle Geiselhaft“, in der sich das Land seit seiner Gründung befinde. Er hatte viele Unterstützer:innen, aber auch viele Feind:innen.
Einige sehen in Lokman Slims Ermordung eine Rückkehr zum Zeitalter der politischen Attentate im Libanon, als ab 2005 mehrere kritische Intellektuelle wie Samir Kassir und Gebran Tueni getötet oder wie die Journalistin May Chidiac schwer verletzt wurden, beziehungsweise einfach eine Fortschreibung der Straflosigkeit für politische Verbrechen im Land.
— Lara Bitar (@LaraJBitar) February 4, 2021
Wunderschön und unbequem – das ist auch der Ort, an dem Lokman Slim wirkte. Schon die Fahrt nach Haret Hreik ist besonders, ein Stadtteil im Süden Beiruts, in den sich praktisch nie Tourist:innen verirren – wofür auch die Soldat:innen an den Checkpoints sorgen. Sie senden die Botschaft: In diesem Gebiet haben politische Gruppen das Sagen, die der libanesische Staat nicht kontrolliert, allen voran die Hisbollah. Doch kurz darauf öffnet sich zur Rechten ein Torbogen, und dahinter eine der letzten Villen in dieser Gegend, umgeben von Bäumen und einem kleinen Gärtchen. Plötzlich ist es ruhig.
Die Villa beherbergt die Arbeitsplätze von Monika und Lokman und das physische Archiv von UMAM, ein kleines und doch einzigartiges Gedächtnis der jüngeren libanesischen Geschichte. Mit den preisgekrönten Dokumentarfilmen „Massaker“ und „Tadmor“ , mit Ausstellungen und Diskussionsveranstaltungen kämpft UMAM dagegen an, dass die Gesellschaft die Schrecken des Bürgerkriegs verdrängt,wie Monika Borgmann vor ein paar Jahren im Interview mit dis:orient (damals noch Alsharq) ausführt.
Trailer "Tadmor" from UMAM Documentation & Research on Vimeo.
Lokman und Monika setzen sich für eine mutige Erinnerungskultur und für die Aufarbeitung der gewaltvollen Vergangenheit des Libanon und seiner Nachbarstaaten ein, um den Teufelskreis der Gewalt und Instabilität zu durchbrechen. Ein wichtiges Projekt ist dabei das digitale Archiv „Memory at Work“, eine Art digitales Gedächtnis zum Bürgerkrieg, das die Brücke zur Gegenwart schlägt.
Ein paar Schritte von der Villa entfernt liegt der „Hangar“ – ein Gebäude, in dem in den 50er Jahren das Bordessen für die Flugzeuge von Middle East Airlines zubereitet wurde und in dem UMAM heute Veranstaltungen, Diskussionen und Ausstellungen ausrichtet.
Wunderschön und unbequem findet all das statt, ausgerechnet in der Dahiyeh, den vielzitierten „südlichen Vororten Beiruts“. „Sie kriegen mich hier nicht raus“, sagte Lokman im Mai 2018, als er und Monika eine Reisegruppe des dis:orient-Partnerprojekts Alsharq Reise bei UMAM empfingen.
— Tobias Lang (@tob_la) February 4, 2021
Ziel ist es: Menschen in die Dahiye bringen
Im Gegenteil: Ziel von UMAM ist es, dass mehr Menschen nach Dahiyeh kommen, um den Charakter der Hisbollah-Hochburg zu verändern. „Wir werden mit Sicherheit gut beobachtet“, sagte Monika damals. Lokman wurde schmallippig, als es um die Konsequenzen für seine Arbeit ging. „Darüber möchte ich lieber nicht sprechen“, sagte er – nicht nur von Milizen oder politischen Parteien, auch vonseiten des Staats war die Organisation aufgrund ihrer Arbeit immer wieder unter Druck geraten.
„Selbst wenn es wirklich eine Revolution im Libanon geben würde, wäre noch gar nichts gewonnen. Es ist erst alles gut, wenn ich mich abends ins Auto setzen, nach Haifa oder Damaskus fahren kann, um ein Bier zu trinken und dann wieder zurückkommen kann“, hat Lokman Slim einmal gesagt.
— Till Küster (@KuesterTill) February 4, 2021
Wir trauern um einen Menschen, der die Welt, in der er lebte, nicht einfach akzeptierte, sondern besser machen wollte. Und zwar nicht auf die bequeme Art. Aber auf eine schöne.
Mitarbeit: Alexandra Haderlein
Weitere Nachrufe auf Lokman Slim:
Wahrheit als Provokation – medico
Der Furchtlose – Spiegel
Der Patron der Ideen – Zenith