15.06.2020
In Erinnerung an Sarah: Über Gewalt, Angst und Schmerz
Sarah Hegazi bei dem Mashrou' Leila Konzert in Kairo 2017.
Sarah Hegazi bei dem Mashrou' Leila Konzert in Kairo 2017.

Weil sie eine Pride-Fahne schwenkte, wurde Sarah Hegazi verhaftet, gefoltert und ins Exil gedrängt. Nun fand man die Leiche der ägyptischen Aktivistin. Und einen Abschiedsbrief. Darin vergibt sie der Welt. Wer zurückbleibt, kann das nicht.

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Staatliche Gewalt tötet und das Exil vernichtet.

Die ägyptische queere und sozialistische Aktivistin, Sarah Hegazi, hat in ihrem erzwungenen Exil in Kanada Selbstmord begangen. Sarah hatte Ägypten verlassen, nachdem sie für „Ausschweifungen“ verurteilt wurde: Sie hatte gegen die öffentliche Ordnung verstoßen, indem sie während eines Konzertes der Band Mashrou‘ Leila in Kairo 2017 eine Regenbogenflagge schwenkte. Die Erinnerungen an Folter, Gefangenschaft und eine zerbrochene Würde, die von widerlichen Medienkampagnen mit den Füßen getreten wurde, haben Sarah auch im Exil verfolgt: Sie wurde Opfer einer anhaltenden, schweren Depression.

Kanada ist multikulturell und LGBT-freundlich und trotzdem ist es – wie jedes erzwungene Exil – nicht sicher genug, um Depressionen loszuwerden und um Verluste und die eigene Bitterkeit zu verarbeiten. Sarah verlor ihre Mutter kurz nachdem sie Ägypten verlassen hatte und konnte nicht zurückkehren, um sich von ihr zu verabschieden. Ohne Gesichter und Orte um sich herum, die sie an ihre Mutter erinnert hätten, musste Sarah wohl ohne die vertraute Nähe trauern, die ihren Schmerz hätte lindern können. Sarahs Gefühl des Verlusts war vielfach. Sie war von den hassverblendeten Massen verstoßen worden; von einer unterdrückten Gesellschaft, die die Unterdrückung internalisiert und im Gegenzug verlernt hat, empathisch zu sein.

Für Unterstützer*innen des Regimes und patriarchale Moralisten gleichermaßen, war Sarahs Leben als Preis nicht hoch genug. Seit die Nachricht ihres Todes veröffentlicht wurde, sind die sozialen Medien voll von hasserfüllten Kommentaren, die sie verleugnen und ihr sogar den himmlischen Segen verweigern.

Wie oft wollen sie Sarah töten?

Doch auch Aufrufe zur Unterstützung und Solidarität sind überall. Sarahs Tod hat die oft übersehenen Probleme der ägyptischen Queer-Szene wieder ans Licht gebracht, sie können als Analogie gelesen werden zur weitverbreiteten staatlichen Gewalt. Diese Lesart war auch ein immer wiederkehrender Teil von Sarahs Schriften und ihres Aktivismus.
Dasselbe Regime, das seine Legitimität daraus zieht, Ägyptens säkulare Identität vor islamistischen Fanatiker*innen zu schützen; dasselbe Regime, das sich selbst als Europas unverzichtbares Bollwerk gegen die Wellen von Geflüchteten und islamistischem Terror darstellt, terrorisiert und verfolgt täglich queere und Transpersonen. Angeblich um die moralische Rechtschaffenheit aufrechterhalten. Ja, das Patriarchat ist auch säkular.

„Es gibt keinen Unterschied zwischen einem islamistischen Terroristen mit struppigem langen Bart, der dich in der Hoffnung auf einen besonderen Platz bei seinem Gott im Himmel töten möchte; eine Hoffnung für die er glaubt alle töten zu können, die nicht so aussehen wie er – und einem bartlosen, eleganten Typen mit einem modernen Handy und einem luxuriösen Auto, der foltert, quält und einsperrt, weil ihn sein Boss dadurch auf eine höhere Position hieven wird - wiederum um alle zu foltern und einzusperren, die nicht in die Herde passen“ schreibt Sarah 2018 für Mada Masr.

Nach dem erwähnten Zwischenfall mit der Regenbogenflagge erlebte Ägypten seinen wahrscheinlich schlimmsten Schlag des Sicherheitsapparats gegen queere und Transpersonen. Die massenhaften, zufälligen Verhaftungen und die homophoben Medienkampagnen, so explizit hasserfüllt wie nie, hinterließen eine angsterfüllte Stimmung; eine Angst, die uns bis heute den Atem nimmt.

Sarah wurde durch Angst getötet.

Queere Angst ist manchmal ansteckend und gnadenlos. Sie kann zeitweise beruhigt werden, eingeschläfert werden. Die physischen Bedingungen, die sie wachsen lassen, können geändert werden, aber die Angst nagt doch weiter, wenn auch an anderer Stelle. Sie bleibt weiter unter der Haut. Du riechst sie manchmal in der kalten Luft deines Exils, fühlst sie immer wieder an der Oberfläche von Dingen und Körpern, die du berührst. Sie kann plötzlich in einer Ecke der Stadt auftauchen, wenn du realisierst, dass sie dir immer fremd bleiben wird, egal wie oft du durch ihre Straßen gegangen bist und egal, wie sehr du die Gesellschaft ihrer Bewohner*innen schätzt. Die Angst wohnt auch in unseren Gedanken über Verlangen und Verluste, sie manifestiert sich in der bloßen Abwesenheit eines Zuhauses, das Zuhause, das wir – ironischerweise – aus Angst verlassen haben.

Sarah wurde durch Schmerz getötet.

Queerer Schmerz ist wie queere Liebe. Er ist schwer zu beschreiben, verkompliziert Narrative, löst Grenzen auf und widersteht Vereinnahmung. Der queere Schmerz tötet seine Subjekte, aber er stört und destabilisiert auch seine Zeugen; er stachelt die Hassenden an, statt ihren Hass zu beschwichtigen. Diejenigen, die leiden, bringt er dazu, Dinge laut auszusprechen; er führt zu mitfühlendem Aktivismus und dem Kampf für Gerechtigkeit. Queerer Schmerz erlaubt uns, bekannte Muster von Gewalt zu hinterfragen, ihren Ursprung zu erkunden, ihre impliziten Formen und die feinen Mechanismen ihrer Aufrechterhaltung zu analysieren.

Sarahs Tod ist nicht umsonst, wie auch ihr Leben es nicht war.

In ihrem Abschiedsbrief klagt sie über eine Welt, die grausam zu ihr war und doch war sie großzügig genug, dieser Welt zu vergeben. Ich kann jetzt, während ich ihren Tod betrauere, nicht so großzügig sein. Von Angst verfolgt und von Schmerz geschüttelt, ist meine Trauer voller Wut. Diese Trauer kann nicht getröstet werden solange die Grausamkeit alltäglich ist.

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Kreisen deine Gedanken um Selbstmord? Spreche mit anderen Menschen darüber. Hier findest du – auch anonyme – Hilfe in vermeintlich ausweglosen Lebenslagen: Telefonseelsorge: 0800 / 111 0 111. In Ägypten kannst du +20 7622381 - 7621602 - 7621603  anrufen oder hier einen Termin vereinbaren. Für alle weiteren Länder findest du hier Unterstützung: www.befrienders.org

 

Iskandar Abdalla, geboren in Alexandria, Ägypten, studierte Geschichte und Nahoststudien an der Ludwig-Maximilian-Universität München und Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zurzeit promoviert er an der „Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies“. In seiner Forschung beschäftigte er sich mit dem Islam in Europa, aber...
Übersetzt von Clara Taxis, Ulrich Berger