„Eine seltsame junge Frau“: Das Werk der surrealistischen ägyptischen Dichterin Joyce Mansour (1928-1986) setzt sich mit der Macht weiblicher sexueller Fantasien auseinander. Ihre subversiven Texte verhandeln Tod, Leben und weibliche Lust.
Joyce Mansour: Schon ihr Name ist uneindeutig und ein Verweis auf ihre vielseitigen Identitäten. Als Tochter einer gehobenen jüdisch-ägyptischen Familie wurde sie in England geboren, wuchs ihre beiden ersten Lebensjahrzehnte unter den Bedingungen des zweiten Weltkriegs in Kairo auf und verlegte schließlich ihren Lebensmittelpunkt nach Paris.
Nachdem sie unter anderem ägyptische Meisterin im Springreiten und Hundert-Meter-Lauf geworden war, wurde sie später besonders als frankophone surrealistische Dichterin bekannt. Sie war Autorin zahlreicher Gedichtbände und eines Theaterstücks. Ihr Oeuvre ist ein poetisches Werk weiblicher Gewalt, das Normen und Vorstellungen von Frauen hinterfragt, und eine gegen die Vereinnahmung erotischer Fantasien durch Männer rebelliert.1
Mansours Texte sind voller Wortneuschöpfungen. Traumbilder und Realität verschwimmen miteinander. Wer ihre Zeilen liest, ist schockiert und fasziniert zugleich: Ihre Sprache ist eine Ballung gewaltvoller erotischer Phantasmen und mythischer Bildnisse, die der Frage der Beziehung zwischen Tod und Lust bis in die tiefsten Abgründe nachgehen. Zerstörung, Gewalt und weibliche Lust finden bei ihr einen Ausdruck. Dabei wirft sie immer wieder die Frage auf, welche Position sie selbst, Joyce Mansour, als Frau und Dichterin in den von Männern dominierten surrealistischen Kreisen einnimmt.
In Kontakt mit surrealistischer Kunst kam sie zuerst in Kairo durch die ägyptische Gruppe Art et liberté (arab. Jamiat al-Hurriya wa al-Fann). Künstler*innen, Journalist*innen, Schriftsteller*innen und Anwält*innen aus Kairo hatten sich zusammengeschlossen und im Dezember 1939 das Manifest „Lang lebe die entartete Kunst“ veröffentlicht. In der auf Französisch und Arabisch erschienenen Erklärung solidarisierte sich die Gruppe mit Intellektuellen und Künstler*innen, die dem Schrecken und der Verfolgung totalitärer Diktaturen in Europa ausgesetzt waren – allem voran dem Nationalsozialismus.2
Surrealismus – eine neue Wirklichkeit
Mitbegründer des Surrealismus in Ägypten war Georges Henein, der während seines Kunststudiums in Paris auf André Breton traf, den Wegbereiter des Surrealismus in Frankreich. In Ägypten entwickelte sich eine eigenständige Bewegung, die sich im Laufe der Zeit immer weiter marxistisch positionierte.
Der Surrealismus (wörtl. „Über dem Realismus“) entstand nach dem ersten Weltkrieg in den 20er-Jahren in Europa als eine genreübergreifende Kunstströmung. Er forderte einen Bruch mit traditionellen Normen und Formen der bürgerlichen Gesellschaft und sah in der Kunst einen Katalysator, um die Gesellschaft nach marxistischen Ideen umzubauen. In der surrealistischen Literatur werden Traum und Realität zu neuen Sprachbildern zusammengefasst, herkömmliche Wortbedeutungen gesprengt.
Eigene Strömung in Ägypten
Auch wenn die Sprache der Surrealist*innen in Ägypten vornehmlich Französisch war, behandelte Art et liberté Umbrüche und Themen Ägyptens, auch die Bildsprache schöpfte aus koptischer Kunst oder ägyptischer Mythologie. Fast alle Künstler*innen der Gruppe kamen aus der Kairoer Oberschicht, ihr Interesse lag jedoch in den politischen Kämpfen für das Proletariat. Während der Kriegsjahre nahm die Bedeutung ihrer Ausstellungen zu. Mit der steigenden wirtschaftlichen Instabilität kam es zu wiederkehrenden politischen Unruhen und Demonstrationen, von denen einige von den Surrealist*innen mitinitiiert wurden.
Durch das Aufkommen der Muslimbruderschaft und den Zuwachs an sozialistischen Stimmen in der Parlamentswahl 1945 wurde die politische Verfolgung linker Akteure durch König Fuad zur Tagesordnung. Kommunistische und sozialistische Akteure wurden überwacht, linke Cafés und Journale verfolgt und attackiert. Fast alle Mitglieder der Gruppe Art et liberté sahen sich nach Inhaftierungen und Drohungen mit der Zeit gezwungen, Ägypten zu verlassen. Unter Nasser setzte sich die Verfolgung von antinationalistischen Linken und Surrealist*innen fort.
Mansour, bis dahin im Untergrund, verließ in der Anfangszeit von Nassers Herrschaft Ägypten. Ab ihren zwanziger Jahren lebte sie mit ihrem zweiten Ehemann in Paris. Hier fuhr sie mit dem Schreiben fort. Fast wie im Rausch hatte Mansour stoßartige Phasen, in denen sie sich ausschließlich in ihrem Schreibprozess bewegte. Sie schloss sich surrealistischen Kreisen um André Breton an, mit dem sie zeit ihres Lebens eine Freundschaft verband. 1953 erschien ihr erster Gedichtband „Cris“ (dt. „Schreie“), editiert vom französischen Dichter und Widerstandskämpfer Pierre Seghers.
„Cris“ und die Frage des kreativen Aktes
Ich sah dich durch meine geschlossenen Augen
Wie du aus Angst vor deinen Träumen die Mauer umfasst
Deine Schritte gleiten aus auf dem Moos
Deine Augen hängen sich an Nägel
Während ich schreie mit verschlossenem Mund
Um deinen Kopf zu öffnen in der Nacht
(Übersetzung Mona T. Feise)
„Cris“ ist ein Beispiel für Mansours Umgang mit ihrer eigenen Lust, die ihre Höhepunkte in der Zerstörung des Anderen findet. Immer wieder tauchen Anspielungen auf ägyptische Gottheiten wie Hathor auf, Sinnbild für Liebe, aber auch für den Tod.3 Joyce Mansour bricht das Korsett einer männlichen Sprache auf, sie verbalisiert ihr eigenes sadomasochistisches Begehren und ihre sexuelle Fantasien. Sie verbindet Gegensätze und bringt so Zerstören und Erschaffen in Einklang.
Der Schrei, ein Ausdruck von Schmerz, Drohen und Angst, eine Aufforderung zum Handeln, explosiv, anklagend, verzweifelt. Der Schrei, Ausdruck während der Geburt: wo Tod, Schmerz und Neubeginn in der Erfahrung des weiblichen Körpers so nah beieinander liegen. Der Schrei, das Ausbrechen aus der Stummheit, das Verlauten der weiblichen Stimme, findet sich als Motiv in Joyce‘ Werk immer wieder. Antagonismen wie im obigen Gedicht: Das Sehen mit geschlossenen Augen und das Schreien mit verschlossenem Mund verdeutlichen die Ambivalenz zwischen Ausbrechen und Gefangensein.
Mansours Sprache ist dabei unglaublich direkt, immer wieder verwendet sie Geschlechtsorgane und Körperteile, die in ihren Texten Gewalt und Zerstörung erfahren. Sie adressiert den Anderen, das Du, dessen Körper zerstört wird oder tot ist. Mansour bricht mit ihrer morbiden Poesie die Vorstellung von sozialen Normen. Sie schockiert und verändert die Wahrnehmung von Frauen und Gewalt. Durch ihre eigenen Gewaltfantasien wird die Frau zum selbstbestimmten Subjekt mit Wirkungsmacht, das Schreiben ist ein Akt der Rebellion gegen die Dominanz von Männerfantasien.
Ich hebe dich empor in meinen Armen
Zum letzten Mal
Eilig lege ich dich in deinen billigen Sarg
Vier Männer schultern ihn zugenagelt
Über dein aufgelöstes Gesicht deinen gebrochenen Körper
Sie steigen fluchend die schmale Treppe herab
Und du bewegst dich in deiner engen Welt
Dein Kopf abgetrennt von deiner aufgeschnittenen Kehle
(Übersetzung Mona T. Feise)
Une étrange demoiselle – eine seltsame junge Frau
In surrealistischen Zirkeln verkehrten nicht viele Frauen, Joyce Mansour war eine Ausnahme. Für gewöhnlich hatten Frauen eine marginalisierte Rolle. Sie wurden von den Surrealisten zu Objekten, mythischen Wesen, zu naturnahe Musen oder kriminellen Männerverführerinnen degradiert – letzteres schlägt sich im surrealistischen Motiv der Gottesanbeterin nieder.
Nirgendwo dazugehörend, eine seltsame Frau, die keinen Platz hat und in verschiedenen Welten wandelt, so beschreibt Mansour sich selbst. Eine Kosmopolitin, die bürgerliche Vorstellungen der Kleinfamilie und der Frau aufbricht. Mansours Werk über Frauen und Gewalt stellt den surrealistischen Diskurs in Frage, der vom Bild der Frau als Muse und Verführerin geprägt wird. Ihre Texte wehren sich gegen sexuelle Normen und gesellschaftliche Vorstellungen und finden eine Sprache, die Erotik, Gewalt und kreatives Schaffen poetisch verbindet.4
1 Preckshot, J. 1991. „Identity Crises in Joyce Mansour Narratives.“ In Surrealism and Women, edited by Mary A Caws, Rudolf Kenzli, and Raaberg Raaberg. Massachussets: MIT Press, 98.
2 Shafaieh, C. (2018, 7. Februar). Art et Liberté: Egypt’s Surrealists | Daily. Abgerufen 27. Februar 2020, von https://www.nybooks.com/daily/2018/02/03/art-et-liberte-egypts-surrealists/
3 De Julia, M. 1991. „Joyce Mansour and Egyptian Mythology.“ In Surrealism and Women, edited by Mary A Caws, Rudolph Kuenzli, and Gwen Raaberg. Massachussets, 117.
4 Moorhouse, E. (2019, November 18). Translating Desire: The Erotic-Macabre Poetry of Joyce Mansour. Abgerufen 26. Februar 2020, von https://therumpus.net/2019/11/translating-desire-the-erotic-macabre-poet...