18.02.2018
Der Streit um den Familiennachzug: Chance für Integration oder neue Angst-Debatte?
Ob der Kompromiss von SPD und Union überhaupt vor europäischen Gerichten Bestand hat, ist noch unklar. Foto "Refugee Welcome Center Hamburg": Rasande Tyskar/Flickr (https://flic.kr/p/naZTcR), Lizenz: CC-BY-NC 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/)
Ob der Kompromiss von SPD und Union überhaupt vor europäischen Gerichten Bestand hat, ist noch unklar. Foto "Refugee Welcome Center Hamburg": Rasande Tyskar/Flickr (https://flic.kr/p/naZTcR), Lizenz: CC-BY-NC 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/)

Der Kompromiss zum Familiennachzug gehört zu den umstrittensten Ergebnissen der Koalitionsverhandlungen von Union und SPD. Kirchen und Nichtregierungsorganisationen sind entsetzt, Juristen sind geteilter Meinung. Klar scheint vor allem: Gelöst ist der Konflikt damit nicht.

In den Koalitionsverhandlungen haben sich CDU/CSU und SPD beim Familiennachzug von subsidiären Flüchtlingen Ende Januar auf einen Kompromiss geeinigt: danach sollen ab Anfang August pro Monat 1.000 Syrer die Möglichkeit haben, ihre engsten Familienangehörigen nachzuholen, oft nach mehrjähriger Trennung. Trotzdem bleibt der Familien-Nachzug ein politischer Zankapfel. So kritisieren Kirchen, Menschenrechts-Organisationen, Juristen und Anwälte, dass die Regelung gegen bestehendes Recht verstoße und die praktische Integration der Betroffenen verhindere.

Einen Kompromiss auf dem Rücken der Betroffenen. So nennt Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl, die Vereinbarung zwischen CDU/CSU und SPD. Existierende humanitäre Praktiken beim Ausländer- und Völkerrecht würden so ausgehebelt, vor allem bei den internationalen Kinderschutz- und Familien-Konventionen. „Familiennachzug ist ein Grundrecht“, so Burkhardt. Er findet, dass Deutschland kaltherzig und kleinmütig reagiere, wenn es einen Rechtsanspruch im Zuge eines Kontingents in ein Gnadenrecht umfunktioniere.

„Ich höre Argumente aus Kreisen der Unions-Vertreter in Nordrhein-Westfalen: Da wird argumentiert, dass an Schulen nicht genug Lehrer da seien und Kinder und Familien deshalb nicht zusammengeführt werden könnten. Da werde ich sehr hellhörig. Denn mit so einer Argumentation kann man jedes Grundrecht aushebeln. Da könnte man auch argumentieren: Es gibt kein Recht auf Krankenversorgung, weil nicht genügend Geld für Krankenhäuser da ist. Oder kein Recht auf Sicherheit, weil nicht genug Geld für die Polizei da ist.“

Wer darf nachholt werden?

Nach Artikel 6 des Grundgesetzes genießen Ehe und Familie besonderen Schutz. Pro Asyl, Kirchen und Menschenrechts-Verbände sind sich einig, dass dies eng auszulegen ist. In der Regel ist damit der jeweils andere Elternteil und die eigenen Kinder gemeint. Nicht dagegen Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, Schwager oder Schwägerinnen.

Trotzdem oder gerade deswegen kursieren sehr unterschiedliche Zahlen, wie viele Syrer mit einem Anspruch auf Familiennachzug die Regelung eigentlich betrifft. Betroffen sind mit der aktuellen Regelung ausschließlich Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz nach §4 des Asylgesetzes.

Danach ist schutzberechtigt, wem im Heimatland ein ernsthafter Schaden droht durch Todesstrafe, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung infolge willkürlicher Gewalt, Krieg oder eines internationalen Konflikts. Anerkannte Asylbewerber dagegen gelten als politisch verfolgt oder als verfolgt aufgrund von Ethnie und/oder Religion. Ende September 2017 traf dies auf 124.707 syrische, 16.335 irakische und 11.014 afghanische Flüchtlinge zu, so Berechnungen der Fraktion der Linken im Bundestag.

Die Frage nach den Zahlen

Das Institut für Arbeit und Berufsforschung, das der Bundesagentur für Arbeit nahesteht, geht von bis  zu 60.000 Personen aus, die nachziehen würden. Politiker, die einen weiteren Zuzug fürchten, haben dagegen Zahlen von mehreren Hunderttauschend Personen ins Spiel gebracht, Vertreter rechts-populistischer Parteien und Gruppen gar von über einer Million. Sie setzen auf Angstmache.

Bundesinnenminister de Maizière hat im Zusammenhang mit dem Asylpaket II unlängst vor einer „Verdoppelung bis Verdreifachung“ der Flüchtlingszahlen durch Familiennachzug gewarnt. Das wäre ein Faktor von 1 bis 2 Personen pro subsidiär Schutzberechtigtem. Praktische Erfahrungen mit dem Nachzug seit 2015 scheinen allerdings eher einen Nachzugsfaktor von 0,4 pro Person oder darunter nahezulegen.

„Keinerlei Bedrohungs- und Überlastungseffekte“

Klaus Barwig, Leiter der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, kritisiert dieses Spiel mit Zahlen als unwürdig und als Phantom-Debatte. „Was ist das für eine Diskussion, wo politisch Verantwortliche solche Zahlen benutzen? Wo die Profis, die damit zu tun haben, Zahlen benennen, die nicht einmal ein Zehntel der realen Größenordnung betreffen? Das ist unsäglich und zeigt die Vergiftung, in der wir uns befinden. Die Kirchen, und zwar beide Kirchen, sind hier mit ihren Wohlfahrtsverbänden klar einer Meinung: Angesichts der zu erwartenden Größenordnung sind keinerlei Bedrohungs- und Überlastungseffekte aufs Ganze zu sehen.“

Barwig zufolge müsse man eher überprüfen, ob Verteilungsmechanismen wie der Königsteiner Schlüssel, nach dem Flüchtlinge in Deutschland seit Jahrzehnten verteilt werden, noch angemessen seien. Bestimmte Landkreise sehen sich hier Mehrlasten gegenüber. Auch drängen Flüchtlinge – vor allem aus dem Osten der Republik – seit geraumer Zeit verstärkt in die Industriestädte im Westen von Deutschland.

Klaus Barwig ist eine Autorität in der Diskussion um Familien-Nachzug. Seit 33 Jahren leitet er die  Hohenheimer Tage zum Migrationsrecht, eine Art inoffizieller Juristentag zum Asylrecht, auf denen Juristen, Wissenschaftler, Richter und Anwälte, Behördenleiter und Unternehmer in diesem Jahr für ein humanitäres Asylrecht plädiert haben. Dem gegenüber stehen mehr als zwanzig Änderungen im deutschen Aufenthalts- und Ausländerrecht in den vergangenen drei Jahren, die meisten davon Verschärfungen.

Katholische und evangelische Kirche üben angesichts dessen den Schulterschluss. Beide reden von einer relativ geringen Belastung, die durch den Nachzug auf Deutschland zukomme. Sie betonen vielmehr das Potenzial, die Notwendigkeit und die Möglichkeiten einer wachsenden Integration, die der Familiennachzug zur Folge hätte. Und sie verweisen auf die langen Wartezeiten bisher: Depression und Suizid-Gefahr seien nicht selten die Folge. Das Durchlaufen von Integrationskursen oder der Erwerb eines Ausbildungsplatzes würden dagegen erschwert.

„Das muss mich blockieren als Mutter. Und das tut es.“

Das meint auch Irme Stetter-Karp, Ordinariatsrätin der Diözese Rottenburg-Stuttgart und Vizepräsidentin des Deutschen Caritas-Verbandes. „Ein Beispiel aus der Praxis: Ich soll als Frau und Geflüchtete, die hier anerkannt ist, mit Erfolg einen Sprachkurs machen. Ich bemühe mich auch darum. Zugleich bin ich aber über Monate am Zittern, ob mein Kind es schafft hier nachzukommen oder nicht. Das muss mich blockieren als Mutter. Und das tut es. Hier liegt die Schwierigkeit.“

Stetter-Karp sitzt in einer Kommission für sogenannte Härtefälle beim Familien-Nachzug. Sie sieht die Politik in der Pflicht. Gegenüber allen, vor allem aber bei betroffenen Syrern, meint sie, gelte zudem der Vertrauensschutz. Konkret haben nämlich deutsche Behörden Flüchtlingen mit subsidiärem Schutz vor Jahresfrist bereits nahegelegt, Anträge auf Familien-Zusammenführung zu stellen.

Mit der geplanten Regelung, so Stetter-Karp, müssten Kinder wie Familien trotzdem fürchten, nicht wirklich zusammenzukommen: „Nehmen wir an ich habe eine 16-einhalb jährige Tochter. Es könnte eine Chance geben für sie, obwohl die Verfahren bekanntermaßen lange dauern. Bis eine Entscheidung getroffen ist, ist die Tochter dann womöglich schon 18 Jahre. Mit 18 aber hat sie kein Recht mehr, dass ihre Eltern hierherkommen. Das heißt, die geplante Regelung bedeutet für dieses Mädchen einen negativen Einschnitt. Sie wird ihre Eltern hier nicht legal wiedersehen können.“

Ist Deutschland ein Einwanderungsland?

In der Debatte fällt auf, wie sehr Kirchenvertreter und CDU/CSU-Politiker, also die sogenannten C-Parteien, in der Sache auseinanderliegen. Nicht zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte geht ein Riss durch die deutsche Öffentlichkeit. Einmal mehr dreht sich die Frage darum: Ist Deutschland ein Einwanderungsland oder nicht, und was bedeutet dies für das praktische Handeln?

Die Deutsche Bischofskonferenz betont außerdem, dass die effiziente Familien-Zusammenführung den Schleppern ihr Handwerk erschwere. Ein Argument, das man unter Unions-Politikern vergeblich sucht. „Die Schlepper bringen die Menschen ja auf irregulärem und gefährlichem Wege hierher. Der Familiennachzug dagegen ist eine der besten und auch am besten zu steuernden Formen sicherer und legaler Zugangswege“, so ein Vertreter aus dem Bereich Weltkirche und Migration der Bischofskonferenz, der für das Interview anonym bleiben möchte. „Wer sichere und legale Zugangswege versperrt, der stärkt dagegen das Geschäft der Schlepper.“

Die Sorgen der Kommunen

Zwischen zwei Stühlen fühlen sich in der Debatte Städte, Gemeinden und Landkreise. Nicht wenige haben Angst, ein Recht auf Familien-Nachzug könne die Kommunen überfordern. Sie argumentieren mit Mehrbelastungen in Milliarden-Höhe. Umgekehrt wollen Städte und Gemeinden aber auch nicht als Buhmänner in der Debatte gelten, zumal nicht alle Stadtvorsteher und Bürgermeister in Deutschland den Parteien der Großen Koalition angehören.

In der jüngsten Anhörung im Deutschen Bundestag, Ende Januar, haben Städte- und Gemeindebund immerhin ihr Einverständnis für die Kontingent-Lösung signalisiert. Juristisch stehen sie dabei eher Staatsrechtlern wie Daniel Thym nah, Professor der Universität Konstanz.

Thym argmentiert. „Was juristisch relevant ist, das sind die Menschenrechte. Und es gibt ein Menschenrecht auf Familieneinheit. Aber es gibt kein Menschenrecht darauf, die Einheit in einem ganz bestimmten Land zu regeln. Das heißt, bei den ganzen Fragen geht es neben dem Grundrecht auf Familieneinheit immer auch um Migrationssteuerung. Und das erkennt auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte an, wenn er sagt, dass nicht zwingend jeder Antrag genehmigt werden muss, sondern man muss im Einzelfall schauen, ob gewisse Härtelagen vorliegen, die dann erfordern, es doch zu genehmigen.“

Thym meint, der deutsche Staat müsse Einwanderung und Zuzug steuern, um  souverän zu bleiben. Tue er das nicht, gebe er das Heft des Handelns aus der Hand. Die Konstanzer Universität, an der Thym lehrt, ist bekannt für eine konservative Rechtsauslegung. Wie so oft, sind sich Richter und Juristen bundesweit allerdings nicht einig.

Jene, die sich auf ein humanitäres Asylrecht stützen, betonten vielmehr den rechtlichen Anspruch aufgrund bestehender Konventionen zum Kinder- und Familienschutz. Deutschland drohe hier gegebenenfalls eine Klage vor einem der internationalen Gerichtshöfe. In 15 von 28 EU-Staaten, der Mehrheit der EU-Länder also, genießen subsidiär geschützte Flüchtlinge beim Familiennachzug übrigens die gleichen Rechte wie anerkannte Asylbewerber, so Experten.

Der Streit ist damit nicht beendet

Man braucht kein Prophet zu sein: Die Kontingent-Regelung wird, wenn sie denn in Kraft tritt ab August, weiterhin für Streit sorgen. Kritiker meinen, die Parteien der großen Koalition hätten mit dem Kompromiss ihre christliche beziehungsweise sozialdemokratische Seele aufgegeben. Statt pragmatisch auf eine bessere Integration hinzuarbeiten und die Chancen von Familien-Nachzug zu betonen, werde der nötige Kulturwandel, der mit der Integration Hundertausender Flüchtlinge einhergeht, verhindert.

Tatsächlich bleibt die Debatte überschattet vom Streit über eine sogenannte „Obergrenze“, das große Unwort in der Diskussion um Flüchtlinge und neue Mitbürger. Denn realistischerweise – dies bestreiten auch Politiker aus dem konservativen Spektrum nicht – lassen sich Flüchtlinge und Migranten aus den betreffenden Kriegs- und Konfliktländern mit dem aktuellen Kompromiss nicht abschrecken. Genauso wenig wie die bisherigen Verschärfungen im Ausländerrecht Hilfe und Lösungen für die Probleme in den Herkunftsländern anbieten.

Die bisher als Meldelager operierenden Hotspots an den Außengrenzen Europas und demnächst in Nordafrika und Nahost, die verhindern sollen, dass die Flüchtinge europäisches Festland erreichen, scheinen hier ebenso wenig Abhilfe zu versprechen. Und ob die neuen zentralen Sammelstellen mit Namen Anker, die künftig in Deutschland den Umgang mit Flüchtlingen praktischer und effizienter machen sollen, dies tatsächlich erfüllen, darf ebenfalls bezweifelt werden. Vielmehr könnten sie neue Abschottung mit sich bringen.

Martin Gerner ist freier ARD-Korrespondent und Alsharq-Autor. Er berichtet regelmäßig aus Konflikt- und Krisengebieten, Nahen und Mittlerem Osten, der arabischen Welt und Afghanistan. Sein Dokumentarfilm „Generation Kunduz“ wurde international ausgezeichnet.