Das Jahr 1967 gilt auch unter arabischen Linken und säkularen Nationalen als einschneidend: Die Niederlage im Krieg gegen Israel stürzte sie in eine tiefe Sinnkrise. Beispielhaft verschrieb sich der syrische Philosoph Georges Tarabischi in der Folge radikaler Kulturkritik und stellte fest: „Die ganze Kultur wurde salafistisch.“
Syrien, Mitte der 1950er Jahre. Der arabische Intellektuelle und Übersetzer Georges Tarabischi, geboren 1939 in Aleppo in eine christliche syrische Familie, steht vor einer Wahl: Syrien war 1954 von der französischen Kolonialmacht unabhängig geworden, doch Ausbeutung und Unterdrückung blieben bestehen, gepaart mit der Macht der alten nationalen Eliten. Getrieben von dem Bewusstsein der andauernden sozialen Ungerechtigkeit suchten viele junge Syrer_innen nach politischen Antworten: „Wir waren in einem Alter voll emotionalen Enthusiasmus, zwischen 16 und 18, als wir uns erstmals politisch engagierten. Wir konnten es nicht mehr ertragen, die Gesellschaft in eine arme und eine reiche Klasse getrennt zu sehen. Wir zögerten nicht lange, den sozialistischen Weg zu wählen.“1
Auf diesem sozialistischen Weg begegneten ihnen zwei Gruppierungen, welche die politische und begriffliche Arena des sozialen Kampfes beherrschten: Die Syrische Kommunistische Partei unter der Führung des in Moskau ausgebildeten Khalid Bakdasch, und die Baath-Bewegung, die nach der nationalen Einheit des arabischen Volkes strebte. Die Wahl bestand somit zwischen Internationalismus unter sowjetischer Vorherrschaft oder „nationalem Sozialismus“. Wie viele andere entschied sich Tarabischi für Letzteres: „Befragt über den Inhalt unseres Sozialismus, antworteten wir: Unser Sozialismus ist ein arabischer, ein nationalistischer, kein internationalistischer. Unser Sozialismus bekennt sich zum Geist und zur Materie. Den Spiritualismus begriffen wir als idealistischen Wert, nach dem wir Pubertäre strebten, und unseren Sozialismus verstanden wir als einen, der sich dem ganzen Volk und nicht nur dem Proletariat widmet. Wir glaubten, dass das Klassenbewusstsein dem Nationalbewusstsein und der arabischen Einheit widerspricht; unser Sozialismus – so betonten wir – bejaht das kleine Privateigentum und das Erbrecht.“2 Seine Generation war enttäuscht von der sowjethörigen, stalinistischen Doktrin der Kommunistischen Partei, die den lokalen Begebenheiten nicht gerecht werden konnte. So gewann die Baath-Bewegung – in Syrien wie auch in Ägypten, dem Libanon, und dem Irak – an Zulauf.
Sozialismus ohne Marx und Klassenkampf
Entstanden in den 1940er Jahren in einem größtenteils intellektuellen, beamtischen und kleinbürgerlichen Milieu, trumpfte sie vor allem mit fanatischem Nationalismus auf. Mit antikolonialen Metaphern propagierten ihre Vertreter die spirituelle Vereinigung von „Geist und Materie“ im mythischen arabischen Volk, sie hetzten gegen das Judentum und wollten bei aller sozialistischen Rhetorik die Besitzverhältnisse in den Grundfesten unangetastet lassen: Arabische Identität über alles. So verkündete der Parteigründer Michel Aflaq, er fühle sich einem „arabischen Ölscheich“ fraglos näher als einem „britischen Sozialisten“, und forderte, den Marxismus durch „arabischen Sozialismus zu ersetzen“, weil Marx den wissenschaftlichen Sozialismus „mit seiner hasserfüllten jüdischen Seele beträufelt“ habe3. Ein Sozialismus also ohne Marx und ohne Klassenkampf. Dieser fand seinen Höhepunkt in der Vereinigung Syriens und Ägyptens als Vereinigte Arabische Republik 1958, und riss – nach der Sezession Syriens 1961 – die (pan-) arabische Linke in eine tiefe Krise.
Enttäuscht zogen viele ihrer Anhänger radikale Konsequenzen: der Beginn einer Neuen Linken, zu der auch Tarabischi zählte: „Wir erkannten die schreiende Wahrheit: Wir müssen unsere sämtlichen Ideen, Auffassungen und unsere Lektüre einer Revision unterziehen. Wir fühlten, daß die Zeit der politischen Pubertät vorbei war; dass wir von der Rebellion zur Revolution übergehen mussten.“4 Er trat aus der Baath-Partei aus und forderte, den „orthodoxen“ Marxismus an die lokalen Verhältnisse anzupassen: „Der arabische Revolutionär steht vor der Aufgabe, den Marxismus neu zu entdecken: den lebendigen Marxismus.“5 Neben seiner Neulektüre von Marx wendet Tarabischi sich Freud zu, um die patriarchalen Strukturen der arabischen Kultur und Intelligentsia zu kritisieren.
Nur in diesem Spannungsfeld zwischen gebeutelten arabischen Nationalisten, sowjethörigen kommunistischen Parteien und kritischer Neubesinnung der Neuen Linken ist die Bedeutung von 1967 zu verstehen. Im Sechs-Tage-Krieg werden die ägyptische, jordanische und syrische Armee vernichtend geschlagen. Besonders die Niederlage Ägyptens unter dem charismatischen Führer und arabischen Nationalisten Gamal Abdel Nasser, ist dabei in ihrer emotionalen – und damit politischen! – Bedeutung nicht überzubewerten.
Psychoanalyse als Kritik der arabischen Linken
Tarabischi nutzt seine psychoanalytischen Kenntnisse, um die geradezu verschwörungstheoretische Reaktion auf die Ereignisse zu begreifen. Er argumentiert, dass Nassers Niederlage 1967 und sein Tod drei Jahre später das arabische kollektive Empfinden zutiefst erschütterte: „An orphaned nation had to mourn a humiliated and castrated father6”. Ergebnis dieser Trauer sei die Hinwendung zum (islamischen) Erbe (turāṯ), und ein Hass auf die gescheiterten nationalen und pseudo-linken Ideologien. Die Hinwendung zu Identität und Authentizität, die schon die arabischen Nationalisten eingeläutet hatten, wurde so weiter zementiert: In der Folge beschworen die nationalen Sozialisten 1967 als israelisch-jüdische Heimsuchung zum „semi-mythischen Ereignis“ (Sadiq al-Azm) und instrumentalisierten somit nicht nur die Leidensgeschichten vieler Menschen, sondern entzogen sich auch ihrer eigenen Verantwortung. Auch die Kommunistischen Parteien fokussierten sich zusehends auf ihre Version von turāṯ: ʾaṣāla (kulturelle Verwurzelung, Ursprünglichkeit) statt globaler Klassenidentität.
All dieses Pathos mündet in ein politisches Begriffsfeld, in dem „sozialer Kampf“ zusehends in kollektiven Identitätsbegriffen (arabische Sprache, islamische und/oder arabische umma) gefasst wurde. Ein Feld, in dem islamische religiöse Bewegungen von Anfang an einen Vorsprung innehatten und zunehmend vehement ihre Vorherrschaft beanspruchten: „Die arabische Welt und der arabische Weg wurden vollkommen demontiert, und die ganze Kultur wurde salafistisch“, so Tarabischi7. Seine Diagnose: Regression statt Trauerarbeit.
Tarabischi, der Ende der 1960er Jahre nach Beirut gegangen war, wurde dort 1975 vom libanesischen Bürgerkrieg ereilt – einer weiteren Ereigniskette, die das Scheitern arabischer Einheitsbestrebungen markiert. Die folgenden Jahre im kriegsgeschüttelten Beirut und im Pariser Exil verbringt er unter widrigen Umständen damit, das Gros des Freud’schen Werks ins Arabische zu übersetzen: „Als Christ geboren, im Denken progressiv, und als Syrer in Ost-Beirut gefangen, verbrachte ich den Krieg in einem autistischen Zustand: ich konnte nur verstummen. Freud bewahrte mich vor der völligen Isolation und dem Wahnsinn.“8 Zu seinen Übersetzungen veröffentlichte er zwischen Ende der 1970er und Anfang der 1980er eine Reihe von psychoanalytischen und literaturwissenschaftlichen Monographien, in denen er die „Ideologie der arabischen Männlichkeit” in Romanen und der intellektuellen Szene aufs Korn nimmt.
Das Ende des Bürgerkriegs im Libanon 1990 erlebt er im Pariser Exil, von wo aus er weiter schreibt, übersetzt und Zeit seines Lebens gegen den Islamismus, und für die gesamtgesellschaftliche Emanzipation kämpfte. Diesen Kampf teilt er mit vielen arabischen Denker_innen, die in der Folge von 1967 Ideologiekritik übten, und die Elizabeth Kassab in Contemporary Arab Thought: Cultural Critique in Comparative Perspective als „Radikalisierer der Kritik“ bezeichnet. Neben seinen zahlreichen Monographien zur arabischen und islamischen Geistesgeschichte übersetzte er über 200 Bücher, darunter Marx, Sartre, und de Beauvoir ins Arabische. Er starb am 16. März letzten Jahres in Paris.
Anmerkungen:
Ebenfalls in dieser Serie erschienen:
Alsharq-Serie „1967: 50 Jahre danach.“ Eine Art Vorwort.
Die Vorgeschichte: Wie es 1967 zum Krieg zwischen Israel und seinen Nachbarn kam
Die Kampfhandlungen: Wie Israel 1967 seine Nachbarn überrumpelte
Der Kriegsbeginn 1967 in der Nahost-Presse: Euphorie überall
Fortsetzung der Presseschau: Stell Dir vor, es ist Kriegsende und kaum einer schreibt es
Die Folgen des Juni-Kriegs 1967, Teil I: Israel