Beirut hat seinen Stadtrat gewählt, mit sehr geringer Wahlbeteiligung und einem knappen Ergebnis für den Zusammenschluss der herrschenden und auf nationaler Ebene so uneinträchtigen Parteien. Als neue Kampagne hat Beirut Madinati dennoch für Wirbel gesorgt. Diana Beck hat mit einer Kandidatin über die Wahlen, demokratische Prozesse und zukünftige Projekte gesprochen.
Zum Interview trifft Alsharq Farah Koubaissy, Kandidatin der Liste Beirut Madinati (Beirut, meine Stadt) für den Stadtrat und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der American University Beirut, einer renommierten Privatuniversität. Nach den Sommerprotesten gegen die Müllkrise letztes Jahr hat sich in Beirut eine Alternative formiert, die versucht hat, die blockierten politischen Prozesse auszuhebeln. Beirut Madinati hat keinen einzigen Sitz errungen und dennoch mit einem Wahlergebnis von knapp 40 Prozent Erwartungen übertroffen. Doch sprachen der Schnitt der Wahlbezirke, das System an sich, Demographie, konfessionelle Propaganda, aber auch die Übernahme von Wahlkampfelementen gegen jedwede Konkurrenz der Byerte-Liste. Hinzufügen könnte man die verstärkte Verletzung von Richtlinien und der dokumentierte Kauf von Stimmen durch regierende Parteien.
Jan Altaner hat für Alsharq einen ausführlichen Bericht zu den Kommunalwahlen und Beirut Madinati geschrieben.
Alsharq: Glückwunsch zu dem Wahlergebnis: 40 Prozent sind herausragend für eine so junge Bewegung. War das eine Überraschung für dich?
Farah Koubaissy: Ich habe nicht erwartet, dass so viele Menschen für Beirut Madinati stimmen würden, aber es ist ein Indikator dafür, dass die Bürger_innen einen Wandel wollen, eine Alternative. Das ist der Grund, warum eine Kampagne, die erst ein paar Monate alt ist, es geschafft hat, eine so große Unterstützung zu erhalten. Sie trat an gegen eine Liste, die fast alle regierenden politischen Parteien vereinte; daher denke ich, dass es ein historischer Moment ist für uns, auf dem weitere Bewegungen aufbauen können.
Wie hat es Beirut Madinati geschafft, so viele Stimmen zu erhalten? Welche Alternative hat sie geboten, im Vergleich zu den anderen Listen?
Die Leute sind angewidert und überdrüssig der politischen Kräfte, weil diese den Bürger_innen nichts Neues gebracht haben. Es gab eine wachsende Unzufriedenheit im Land in den letzten Jahren, aber vor allem im Sommer 2015, als die Müllkrise die Menschen in ihrer Würde getroffen hat. Die Müllkrise ist keine Naturkatastrophe, sie ist das Ergebnis von Privatisierungspolitiken, die einhergehen mit Korruption. Im Zuge der Müllkrise forderten die Bürger_innen Wasser, Elektrizität und Wohnungen, Arbeit, all das. Ich denke, Beirut Madinati konnte so viel Unterstützung gewinnen, weil sie sich als eine Kampagne jenseits der politischen Kräfte präsentiert hat, als Kampagne, die die Interessen der Bürger_innen wahrt gegen diejenigen, die diese Rechte verletzen. Dabei ist es nicht einfach, die Unterstützung und das Vertrauen der Menschen zu bekommen. Viele Leute haben mich gefragt: Wie können wir sichergehen, dass ihr anders seid? Eine Alternative muss beweisen, dass sie der Unterstützung wert ist, und wir hatten keine Zeit, dies zu beweisen. Ich bin mir aber sicher, dass wir in den nächsten Jahren genügend Zeit dafür haben werden.
Wie ist es euch gelungen, die Bürger_innen zu überzeugen?
Beirut Madinati hat ein anderes Modell präsentiert, sogar in Form der Wahlkampagne. Die Leute sahen uns auf den Straßen, sprachen mit uns; wir haben öffentliche Diskussionen organisiert, in unterschiedlichen Stadtteilen. Tatsächlich kamen nicht viele Leute, weil das auch etwas Neues ist. Diejenigen, die kamen, merkten, dass sie frei sprechen konnten, dass wir einen offenen, demokratischen Raum boten und sie sagen konnten, was sie wollten, ohne dafür verurteilt zu werden. Sie sind es nicht gewohnt, dass die Kandidat_innen mit der Bevölkerung sprechen; das hat dazu beigetragen, dass die Bürger_innen uns vertrauten. Beirut Madinati hat so viele andere Mittel benutzt als die etablierten Parteien, weil es eine Graswurzelbewegung ist, mit Hunderten von Freiwilligen mit unterschiedlichem politischem oder ideologischem Hintergrund. Student_innen, Arbeiter_innen, Akademiker_innen, Aktivist_innen investierten ihre Zeit und Mühe, auch Geld, in dieses Projekt.
Was waren die wichtigsten Punkte, die ihr anders gemacht habt?
Zum ersten Mal hat eine Kampagne ein Wahlprogramm vorgestellt. Ob es nun Kritik daran gibt oder nicht, aber zum ersten Mal gab es eine Liste, die gesagt hat, in sechs Jahren wollen wir dies und jenes erreichen. Zweitens war keine_r der Kandidat_innen Teil der dominanten Parteien. Drittens schafften wir einen Durchbruch in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit; zwölf der Kandidat_innen waren Frauen, zwölf waren Männer. Das ist sehr neu und hob ebenfalls das Wahlkampfniveau an.
Überraschend war dann doch die niedrige Wahlbeteiligung, auch wenn sie sich nicht so sehr von den Wahlen 2010 unterscheidet. Warum gingen so wenige Bürger_innen an die Urnen?
Sehr viele Beiruter_innen leben nicht in der Stadt. Auch wegen der wirtschaftlichen Reformen nach dem Bürgerkrieg, die all diesen Immobilienhändler_innen und großen Firmen Privilegien verschafften. Die Stadt gehört nicht mehr ihren Bürger_innen, den Armen oder denjenigen mit niedrigem oder mittlerem Einkommen. Diese Leute wurden aus der Stadt vertrieben und sie fühlen sich nicht mehr dafür verantwortlich, was hier auf kommunaler Ebene passiert. Zweitens haben die Bürger_innen kein Vertrauen mehr in die politischen Kräfte. Drittens hat die Bevölkerung nicht das Gefühl, etwas verändern zu können. Deswegen ist es so wichtig, Bewegungen von unten aufzubauen, und darum ist Beirut Madinati so wichtig, als Kampagne, weil es gelungen ist, die Gesellschaft aufzurütteln. Die Reaktionen waren: Oh, wir können etwas bewegen, wir haben eine Stimme, wir können es diesen politischen Kräften zeigen.
Seid ihr vernetzt mit anderen Bewegungen, wie etwa Baalbek Madinati?
Nein; sie haben nur unseren Namen benutzt, auf unserem Erfolg aufgebaut. Unsere Kampagne hat andere Unabhängige dazu animiert, zu kandidieren, im Süden, im Libanon-Gebirge, im Norden. Sie hat auch Frauen dazu ermutigt. Wir haben aber bereits damit angefangen, andere Gruppen anzusprechen.
Was war deine persönliche Motivation, zu kandidieren?
Ich habe nie daran gedacht, weil ich als Studentin nicht an Wahlen geglaubt habe, aber dann habe ich festgestellt, dass Kommunalwahlen sich sehr von Parlamentswahlen unterscheiden, weil sie näher an der Bevölkerung sind; man kann in direkten Kontakt mit den Nachbar_innen treten. Ich bin seit langem Aktivistin, aber unseren Bewegungen gelang es nicht, Menschen in unterschiedlichen Gegenden anzusprechen. Diese Kampagne hat es uns zum ersten Mal ermöglicht, in die Stadtteile zu gehen und mit Leuten zu sprechen, die wir kennen und die uns erkennen. Ich habe kandidiert, weil ich der Meinung war, dass wir uns in einem historischen Moment befinden, in dem das Level an Unzufriedenheit sehr hoch ist und dass wir weiterführen sollten, was wir letzten Sommer begonnen haben. Wir müssen diesen Dinosauriern begegnen, sei es auf der Straße oder in den Wahlen oder anderswo.
Inwiefern ist Beirut Madinati dann mit der YouStink-Bewegung verbunden?
Viele Beteiligte an der Kampagne, ob Freiwillige oder Kandidat_innen, haben an den Protesten letzten Sommer partizipiert und ich glaube, dass es ohne diese Sommerbewegung keine Beirut Madinati geben würde. Unsere Kampagne benutzt aber andere Strategien und konzentriert sich auf die Kommunalebene, auch wenn das Müllmanagement eine sehr hohe Priorität auf der Agenda hat.
Wie funktioniert Beirut Madinati?
Es gibt unterschiedliche Komitees und Ausschüsse; es gibt einen Lenkungsausschuss, der die Kampagne vor acht Monaten startete. Wir haben die Agenda aufgesetzt und die Idee festgeschrieben. Es gibt eine Generalversammlung, die alle Leute vereint, und in der Entscheidungen getroffen werden, die dann im Lenkungsausschuss umgesetzt werden. Es gibt den politischen Ausschuss, der Stellungnahmen und Antworten auf Kommentare formuliert hat, und Komitees, die in den letzten Wochen für unterschiedliche Aufgaben gegründet wurden, etwa im Bereich Kommunikation, Medien oder für die Organisation öffentlicher Diskussionen. Letztendlich hatten wir aber keine Zeit mehr, Fragen und Entscheidungen in die Generalversammlung zu tragen; es war nicht klar, wer welche Entscheidungen treffen würde. Diese Organisationsfragen müssen wir jetzt, nach den Wahlen, überdenken, um die Prozesse klarer und demokratischer zu machen. Zudem wollen wir eine Evaluation durchführen.
Was ist die größte Herausforderung für Beirut Madinati?
Die größte Herausforderung in der näheren Zukunft wird die Frage sein, wie wir auf dem derzeitigen Momentum und den vielen Netzwerken aufbauen können, wie wir Mitglieder integrieren können. Wir müssen in den Stadtteilen Ausschüsse aufbauen und bei der Bevölkerung präsent bleiben. Wir können nicht einfach nur vor den Wahlen auftauchen, Versprechen machen und dann verschwinden. Das wird kein Vertrauen schaffen. Jetzt müssen wir den Stadtrat beobachten und all jene Projekte bekämpfen, die gegen das öffentliche Interesse sind. Das braucht viel Energie, Zeit und jede Menge Leute, die engagiert sind. All diese Netzwerke, die sich uns geöffnet haben, die wir gestartet haben, sind unbezahlbar.
Gibt es eine Strategie, wie der Stadtrat überwacht werden kann?
Wir haben darüber noch nicht nachgedacht, da wir keine Zeit hatten – vielleicht durch ein Schattenkabinett. Wir werden uns auf den Stadtrat fokussieren, nicht darüber hinausgehen; als Beirut Madinati werden wir, glaube ich, weiterhin Stadtbelange bearbeiten, die für die Bürger_innen von Bedeutung sind. Das Wahlgesetz zu den Kommunalwahlen etwa ist in sich höchst undemokratisch. Es gibt nicht der Bevölkerung, die hier wohnt, arbeitet, ihr ganzes Leben hier verbracht und Steuern bezahlt hat, das Recht, zu wählen. Wenn dein Großvater in Beirut registriert ist, dann kannst du hier wählen, egal, ob du selbst etwa in Saida wohnst. Das ist ein Mittel, mit dem sich das konfessionelle Modell reproduziert. Wir müssen dem etwas entgegensetzen.
Was sind die wichtigsten Projekte in Beirut, die ihr nun bearbeiten wollt?
Wir werden so weitermachen, als würden wir im Stadtrat sitzen. Wir werden besprechen, wie man Projekte umsetzen könnte, dann diskutieren wir mit der Bevölkerung und mobilisieren diese, um es zu realisieren. Wir müssen unsere Prioritäten auf denen der Bevölkerung aufbauen. Meinem Eindruck nach dreht sich einer der wichtigsten Punkte um die Frage nach Wohnraum. Durch ein neues Gesetz könnten bis zu 800 000 Familien, die schon lange in Beirut leben, aus ihren Wohnungen vertrieben werden, weil die Mieten angepasst werden sollen. Die Rolle des Stadtrats liegt darin, einzugreifen und Steuern auf leerstehende Wohnungen zu erheben. Dann sind die Besitzer_innen im Zugzwang, Wohnraum zu vermieten, günstigere Wohnungen zu bauen oder alte Häuser zu restaurieren und Sozialwohnungen zu errichten.
Werdet ihr als nächstes die Parlamentswahlen anstreben und die Kampagne ausweiten?
Das weiß ich nicht, aber ich bezweifle es. Für diese Kampagne sind wir auf dem Minimalkonsens der Kommune vereint, aber darüber hinaus haben wir nicht zwangsläufig eine gemeinsame Vision für das ganze Land oder die Gesellschaft. Wir sind keine Partei in dem Sinne. Mitglieder von Beirut Madinati werden sicherlich antreten, aber ich denke nicht, dass Beirut Madinati selbst über die Kommune hinausgehen wird. Durch die Kampagne haben wir gelernt, dass Politik aus den Stadtteilen, von der Straße und aus den Bürger_innen hervorgeht. Politische Fragen drehen sich nicht immer nur um beispielsweise Hisbollahs Waffen – das sind wichtige Fragen, auf die wir Antworten haben sollten, aber Politik ist auch Tagespolitik, basierend auf unserer Beziehung zu unserer Stadt und unter uns selbst. Da kommt die Frage auf nach Ungleichheit und Reichtumsverteilung, das Recht auf Wohnraum, sauberes Wasser und saubere Luft.
Die Frage stellte ich auch vor dem Hintergrund, dass die Lebanese Association for Democratic Elections (LADE), eine Organisation zur Wahlbeobachtung, nun aufgrund der relativ erfolgreichen Durchführung der Wahl schlussfolgerte, dass es keinen Grund mehr gäbe für eine weitere Verlängerung des Parlamentsmandats – so wie es auch einige der etablierten Politiker gesagt haben: Die Situation sei stabil genug, um Wahlen durchführen zu können.
Die Parlamentarier_innen haben keinen Grund mehr, aber sie hatten auch nie einen. Diese ganze konfessionelle Krise reproduziert nur weitere Krisen wegen all der Umstände – nicht nur im Libanon, sondern in der ganzen Region. Die Parteien wollen ihre eigene Macht festigen, keine Risiken eingehen, daher haben sie sich darauf geeinigt, ihr Mandat zu verlängern, aber sie selbst befinden sich in einer großen Krise. Die Wahlen machen mich nicht sehr enthusiastisch, sie werden nur deren Legitimität erneuern. Ich möchte Wahlen, die nicht auf dem derzeitigen Wahlsystem basieren, denn das Wahlgesetz wird nur die jetzt schon Mächtigen erneuern und reproduzieren.
Das Wahlgesetz soll aber diskutiert werden, richtig?
Sie wollen es diskutieren, ja, aber sie werden das konfessionellste, regressivste Gesetz annehmen, das möglich ist. Vor allem jetzt nach der Beirut Madinati-Kampagne und deren Erfolg. Sie haben Angst.
Du hast das Konfessionsproblem genannt; warum war es so bedeutend zu betonen, dass eure Liste zur Hälfte aus Muslim_innen und zur Hälfte aus Christ_innen bestand, wenn Beirut Madinati das konfessionelle System nicht forttragen möchte?
Das war kein Hauptpunkt unserer Kampagne, aber es war eine Strategie, um das Vertrauen der Bürger_innen zu gewinnen, indem wir sagten, als Kampagne repräsentieren wir die Vielfalt in Beirut, ob nun auf einem intergenerationellen Level, dem konfessionellen oder wenn es um Gender geht, etc. Wir haben dieses Element nicht benutzt, um Wähler_innen zu gewinnen, wie etwa das Establishment, aber wer danach suchte, konnte fündig werden.
Eine letzte Frage, es ist eine Wunderfrage (‘miracle question’): Stell dir vor, du wachst morgen auf und alles ist gut in Beirut. Was siehst du?
Oh, das ist sehr schwierig. Ich sehe viele Räume, in denen die Menschen sich treffen können, nicht unbedingt, um zu sprechen, sondern öffentliche Räume, die von Familien belebt werden. Die Stadt ist schon seit langem geteilt und es gibt keine Räume des Austauschs für Menschen aus unterschiedlichen Stadtteilen. Daher stelle ich mir vor, dass diese Menschen zusammen kommen und sich erholen können. Außerdem sehe ich auch weniger Verkehr und mehr Leute, die laufen oder ein Mofa oder ein Rad nehmen, weniger Stress – denn viele Menschen kommen nach einem langen Arbeitstag nach Hause, sind wütend und frustriert, von der Luftverschmutzung, vom Verkehr, der einer der Hauptpunkte für Stress ist.
Vielen Dank für das Interview!