09.05.2016
Als wir den Baum vom Grab meines Vaters verbrannten
Neue Blätter brechen durch alte Rinde. Photo: Henrik Sachse/Wikimedia (CC BY-SA 3.0)
Neue Blätter brechen durch alte Rinde. Photo: Henrik Sachse/Wikimedia (CC BY-SA 3.0)

Die Stadt Deir Ezzor im Osten Syriens steht teilweise unter der Kontrolle des „Islamischen Staats“, teilweise unter der der Regimekräfte. Manche der Stadtviertel sind abgeriegelt, den Menschen fehlt es am Notwendigsten. Mohammed Hassan beschreibt in einer symbolträchtigen Geschichte, zu welchen Handlungen die Not Deir Ezzors Bewohner_innen verleitet.

Drei Jahre sind vergangen seit dem Tod meines Vaters „Abu Aref“, des Mannes, den alle Menschen in unserem Viertel liebten. Ich erinnere mich noch an sein Gesicht, seine starke Stimme. Er wurde grundlos getötet. Nur weil er sich im al-Jura Viertel aufgehalten hatte, als die Sicherheitskräfte des Regimes und die Armee dieses am 25. Juni 2012 stürmten, um die Revolution zu beenden. 370 Zivilist_innen töteten sie dabei, kaltblütig.

Trotz der Lücke, die der Tod meines Vaters in unsere Familie gerissen hatte, verließ uns sein Geist nicht. Ich musste die Verantwortung über die Familie übernehmen. Wir weigerten uns, das Haus zu verlassen, in dem ein_e jede_r von uns aufgewachsen war. Trotz unseres Leids wollten wir meinen Vater nicht alleine lassen.

Monate vergingen und wir besuchten regelmäßig sein Grab, das inmitten der Gräber all der anderen Märtyrer_innen lag. Es war ein kleiner Friedhof und neben jedem Grab wuchs ein Baum: Elkin, Zypressen, Palmen.

Meine Mutter pflegte jeden Freitag gemeinsam mit meiner kleinen Schwester zum Friedhof zu gehen und den Elkinbaum, der rechts vom Grab wuchs, zu gießen. Ich kann mich noch an den Tag erinnern, als wir diesen Baum für 100 Syrische Pfund von der Alqosour Baumschule gekauft hatten. Damals war der Baum winzig und passte in eine kleine schwarze Tasche. Doch inzwischen war er zu einem großen Baum geworden, so groß wie die Trauer über die Trennung, die Zerstörung, die Bomben und die Zahl der Märtyrer_innen, die unter der Erde lagen.

Alles wuchs so schnell – außer das Leben, welches nach und nach immer schmaler wurde. Um uns herum veränderte sich alles. Kein Geräusch war lauter als das des Feuers. Das al-Jura Viertel war sicherer als andere Viertel, obwohl es von den Regimekräften – den Feinden meiner Familie und vieler anderer Familien, welche Mitglieder verloren hatten – besetzt wurde.

Doch es wurde schlimmer. Sicherheit existierte nicht mehr, als der IS die Kontrolle über die befreiten Gebiete übernahm und dabei viele Revolutionär_innen tötete. Die IS-Kämpfer waren Monster oder etwas noch schlimmeres. Seit sie gekommen waren, war meine Stadt in schwarz gehüllt. Sie betraten die vom Regime gehaltenen Gebiete nicht, sondern sandten vielmehr ihre bösen Geister, um die 250.000 Zivilist_innen in diesen Gebieten zu belagern – auch meinen Vater in seinem Grab. Kein Essen, kein Heizmaterial, keine Medizin gelangte in al-Jura, Alqosour und Albaghlia. Das Assad-Regime, der Erschaffer des IS, hinderte die Menschen daran, ihre Gebiete zu verlassen und in die dunklen Teile der Stadt zu gelangen, wo immerhin Essen verfügbar war.

Seit Beginn der Belagerung begann ich, das Grab meines Vaters zu vergessen. Hunger, Durst, Stromausfälle, der kalte Winter und der Mangel am Notwendigsten zwangen uns zu vergessen. Meine Mutter und meine Schwester besuchten den Friedhof nicht länger und niemand kümmerte sich mehr um die Pflege des Grabs. Ja, wir konnten noch nicht einmal sehen, wie der Elkin-Baum während unserer Abwesenheit wuchs. Das einzig wichtige war, ein wenig Essen oder Heizmaterial zu finden. Das Leben wurde von Tag zu Tag härter.

Dann, einen Tag vor dem Jahrestag der Belagerung, es war bitterkalt. Im dritten Stock unseres Hauses zitterten meine Mutter und meine Geschwister vor Kälte. Wir hatten nichts mehr, das wir verbrennen konnten und auch kein Geld, um Holz oder Heizstoff zu kaufen. Wir hatten alles, was wir entbehren konnten, genutzt, um Feuer zu machen.

„Was tue ich?“ Es war mitten in der Nacht. Im Schlaf hatte ein Traum mich davon getragen. Ich träumte normalerweise davon, dass die Belagerung aufhören und wir wie normale Menschen leben könnten. Doch in jener Nacht besuchte mich mein Vater im Traum und bat mich, sein Grab zu besuchen. Dort würde er uns Sicherheit geben, so wie er es im Leben getan hatte.

Am nächsten Morgen erwachte ich und lief sofort aus dem Haus zum Friedhof. Dort waren viele Menschen, blass und erschöpft vor Hunger und Kälte. Doch etwas seltsames war im Gange: Sie alle fällten die Bäume, die neben den Gräbern gepflanzt worden waren.

Ich stand da, in Stille, dann setzte ich mich. Die Szenerie drehte sich um mich und ich verlor die Balance. Doch dann kam ich wieder zu Bewusstsein. Ich erinnerte mich an meinen Traum: Mein Vater hatte gewollt, dass ich diese Leute sah und er wollte uns den Elkin-Baum geben, der neben seinem Grab wuchs, um uns mit Wärme zu versorgen.

Ich lief zu einem der Menschen dort und lieh mir seine Axt. Der Baum war in der Zeit meiner Abwesenheit sehr schnell gewachsen. Ich fällte ihn, zerteilte ihn in Stücke und brachte diese nach Hause. Dort wunderten sich alle darüber, wo ich das Holz herbekommen hätte. Ich sagte ihnen, ich hätte es geregelt.

Zum Sonnenuntergang saßen wir um das Feuer. Die Wärme war in das Haus zurück gekehrt und meine Geschwister schliefen. Meine Mutter konnte nicht schlafen, etwas bedrückte sie. Schließlich fragte sie mich: „Bitte erzähl mir, woher du das Feuerholz hast. Ist es gestohlen?“ „Nein, Mama, ich stehle nicht.“ „Woher hast du es dann?“ „Von hier.“ „Was meinst du mit hier?“ „Offen gestanden ist es das Holz von dem Baum, den wir auf das Grab meines Vaters gepflanzt haben. Sei nicht traurig, Mama, ich bin nicht der einzige. Jede_r in den belagerten Gebieten hat die Bäume auf den Gräbern ihrer Märtyrer_innen gefällt.“

Artikel von Mohammed Hassan
Übersetzt von Laura Overmeyer