In der südosttürkischen Stadt Gever sind einige Viertel seit Monaten verbarrikadiert und bewaffnete Jugendliche verteidigen sie gegen die türkische Armee. PKK-nahe Organisationen versuchen trotz des in der Region eskalierenden Krieges eine demokratische Selbstverwaltung aufzubauen. Derweil liegt ein tiefer Winter über der Stadt - im Frühling erwartet man auch hier einen großen Krieg. Aus Gever berichtet Hélène Debande
Wir sitzen in einem Zelt in Gever, im äußersten Südosten der Türkei. Hier wird jede Nacht Wache gehalten, weil der türkische Staat immer wieder versucht, in die verbarrikadierten Viertel einzudringen. Hekim, ein junger Mann, der tagsüber als Friseur arbeitet, wärmt sich die Hände am Ofen.
„Ihr in Europa geht zur Uni und studiert Soziologie. Die Türken studieren ihre Turkologie. Bei uns studiert man nur noch Tak-tak-ologie“, sagt Hekim lachend und imitiert dabei ein Gewehr.
„Wenn der Frühling kommt, fällt die Entscheidung – entweder ein freies Kurdistan oder ein großer Krieg. Wir haben alles versucht! Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu kämpfen.“
„Also wird der Guerillakrieg auf die Städte übergreifen?“, frage ich Hekim.
„Bisher ist es nur die Jugend, die kämpft, nur ein paar Zivilisten. Bald werden wir alle schießen lernen. Viele Guerillas sind schon hier, aber sie bilden bisher nur die Jugendlichen aus.“
Das Zelt steht direkt hinter den Barrikaden im Kişla-Viertel. Kişla ist eines von mehreren völlig verbarrikadierten Vierteln in der Stadt, die vom türkischen Staat Yüksekova genannt wird. Vor vier Monaten haben die Menschen hier, wie auch an mehreren anderen Orten des Süd-Ostens, Straßensperren errichtet, Gräben ausgehoben und Steinwälle aufgeschichtet, um die gepanzerten Fahrzeuge der Polizei und Armee fern zu halten. Das Zelt ist dabei gleichzeitig zu einem generationsübergreifenden Treffpunkt für die Familien von politisch Aktiven geworden. Seit einigen Tagen gibt Mehmet, ein junger Lehrer des Sprachinstituts "Kurdi-Der", hier abends Kurdischunterricht für Anfänger_innen und Fortgeschrittene.
Ich frage Hekim, warum er zum Unterricht geht, obwohl Kurdisch doch seine Muttersprache ist.
„Unser Kurdisch ist voll von Fremdwörtern“, meint er. „Viele hier können außerdem nur Alltagsfloskeln, aber keine wissenschaftlichen oder politischen Gespräche führen. Der Staat hat unsere Kultur assimiliert und wir versuchen sie uns wieder anzueignen.“
„Selbstverteidigung bedeutet nicht nur, Barrikaden zu bauen, sondern auch, die eigene Kultur nicht zu vergessen“, erklärt Mehmet, der neben seiner ehrenamtlichen Lehrtätigkeit Steuerberater ist.
Die Jugendlichen führen uns durch die Viertel, in denen sie nun selbst für Sicherheit sorgen. Sie liegen tief unter dem Schnee begraben und auf den Straßen kommt man nur langsam voran. Ein Kind, das gerade aus der Schule kommt, rät uns, vorsichtig um einen der Verteidigungsgräben herumzugehen: Die YDG-H (Yurtsever Devrimci Gençlik Hareketi, dt.: Patriotisch revolutionäre Jugendbewegung) habe gerade gestern erst eine Bombe darin platziert.(Anm.d. R.: Die YDG-H wurde 2013 von PKK-Sympathisanten gegründet und gilt als Jugendbewegung der PKK.)
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Der eingefrorene Kampf um Autonomie
Seit in den letzten Monaten der Konflikt um die von kurdischen Organisationen geforderte Autonomie in verschiedenen Städten der Osttürkei eskaliert ist, versinkt Gever mehr und mehr unter Bergen von Schnee und Eis. Selbst die massiven Barrikaden sind mittlerweile kaum noch zu erkennen. Der Krieg, der in dieser seit Jahrzehnten von der kurdischen PKK (Partiya Karkerên Kurdistanê, dt.: Arbeiterpartei Kurdistans) dominierten Stadt im Herbst schon bedrohliche Dimensionen erreicht hatte, ist vom Winter in eine unruhige Starre gezwungen worden. Die ganze Stadt befindet sich in einem Zustand nervösen Abwartens, der immer wieder durch kurze, gewaltsame Zwischenfälle unterbrochen wird.
Sibel Çapraz, eine der beiden Vorsitzenden des Stadtrates, wurde Ende November von der Polizei angeschossen, als sie vermittelnd in einen Konflikt zwischen staatlichen Sicherheitskräften und bewaffneten Jugendlichen eingreifen wollte. Sie wurde von drei Kugeln niedergestreckt und musste seitdem mehrmals in Ankara operiert werden.
Alle zwei, drei Wochen wurden in der letzten Zeit nachts - trotz der täuschenden Ruhe - Jugendliche erschossen. Größtenteils waren sie Mitglieder der YDG-H. Ihre letzten Schritte können wir auf Youtube-Handyvideos verfolgen, die uns immer wieder gezeigt werden: Die Jugendlichen wurden aus den Panzern der Armee gefilmt, während sie durch die Straßen schlichen und schon längst im Visier eines schweren Maschinengewehrs waren...
In der Nacht zum 8. Dezember 2015 wurde plötzlich eine Ausgangssperre über die gesamte Stadt verhängt. Der Erlass war nicht, wie sonst üblich, über die Lautsprecher der Moscheen verkündet, sondern kurz vor der Umsetzung über staatliche Medien erklärt worden, die hier kaum jemand verfolgt. Das untrügliche Zeichen für eine Ausgangssperre in dieser Gegend ist, dass nicht nur der Strom gekappt wird (was mehrmals am Tag geschieht) sondern auch das Internet. In jener Nacht im Dezember drangen mehrere Fahrzeuge der Armee in die verbarrikadierten Viertel ein, indem gepanzerte Bagger die Steine zur Seite schoben. Sie brannten das Versammlungszelt nieder und zerstörten die Front eines Volksratsgebäudes. Eines der Armeefahrzeuge wurde von einer ferngezündeten Bombe beschädigt und abtransportiert. Der Besitzer eines Cafés, in dem wir noch am Tag zuvor gesessen hatten, wurde in der Nähe seines Hauses von den Spezialeinheiten erschossen.
Mehr als tausend Menschen strömten am nächsten Tag auf einen Hügel über der Stadt, auf dem jener Cafebesitzer, Ersin Aydın, beerdigt wurde. Die YDG-H, die in einem leerstehenden Gebäude neben dem Friedhof mit Scharfschützengewehren Stellung bezogen hatte, feuerte drei Salutschüsse in den Winterhimmel.
„Er war ein Zivilist, der einfach vor seinem Haus gestanden hat“, erklärte uns ein 15-jähriger Junge, während er uns das Blut im Schnee zeigte, wo der Mann in der Nacht zuvor gelegen hatte. Der Junge hielt jede Nacht mit einer Skimaske auf dem Kopf in der Gegend um das Zelt herum Wache. Er hatte die Schießereien in der Nacht miterlebt.
„Er war ein Guerilla“, meinte am Abend ein junger Mann im Zelt.
Später fragte ich noch einmal eine Gruppe von YDG-H-Kämpfern: „War er ein Guerilla?“
„Nein“, sagten sie.
„Also war er unbewaffnet?“
„Nein, unbewaffnet war er nicht. Wie überall in Kurdistan kämpft hier jetzt die Zivilbevölkerung, die YPS – die Zivilen Verteidigungseinheiten.“
Praktische Autonomie und das Warten auf den „kurdischen Frühling“
„In Gever gibt es elf Viertel und neun von ihnen haben Räte gegründet“, erklärt uns der Vorsitzende eines dieser Volksräte. „Die Räte treffen sich regelmäßig, um ihre eigenen Angelegenheiten zu besprechen und lokale Probleme zu lösen.“ Allerdings sei dieser Prozess durch den Krieg wieder ins Stocken geraten, denn die Leute fürchteten sich und die Treffen könnten oft nicht stattfinden.
Der Vater des Kurdischlehrers Mehmet war zehn Jahre lang im Volksrat seines Viertels aktiv. In den 1990er Jahren war der Rat unter dem Einfluss der PKK-Guerilla gegründet worden, um die eigene Versorgung sicher zu stellen. Mittlerweile hat diese Bewegung in Gever eine breitere Basis in der Zivilbevölkerung. Seit 2005 der DTK (Demokratik Toplum Kongresi, dt.: Demokratischer Gesellschaftskongress) als Dachorganisation der zivilen kurdischen Bewegung gegründet wurde, arbeiten verschiedene der PKK nahestehende Parteien und Organisationen am Aufbau eines Systems, das vom inhaftierten Guerillaführer Abdullah Öcalan „Demokratischer Konföderalismus“ genannt wurde. Dieses System sieht vor, dass der Maßstab politischer Organisierung grundsätzlich eine rätegestütze Basisdemokratie, ökologische Wirtschaftsformen und Geschlechterbefreiung sein sollen.
„Solange die Räte der Viertel nicht arbeiten können“, erklärt Mehmet, „bauen wir die kleinste Einheit der Selbstverwaltung auf: die Räte auf der Straßenebene. Wir hoffen, die Menschen so noch besser erreichen zu können, sodass sie sich aktiver an der Selbstverwaltung beteiligen.“
Am 26. Dezember 2015 berief der Demokratische Gesellschaftskongress eine Notversammlung in Diyarbakır ein, wie das Onlinemagazin Al-Monitor berichtet. Selahattin Demirtaş, einer der Co-Vorsitzenden der pro-kurdischen HDP (Halklarin Demokratik Partisi, dt.: Demokratische Partei der Völker), verkündete öffentlich: „Dieser Widerstand wird zum Sieg führen. Die Kurd_innen werden von jetzt an über die Politik in ihrem eigenen Land entscheiden. Die Kurd_innen werden vermutlich einen unabhängigen Staat, einen föderalen Staat, Kantone oder autonome Regionen haben“. Diese Aussage, mit der Demirtaş deutlich von seiner früheren versöhnlichen Haltung gegenüber dem Staat abweicht, wurde weiter gestützt durch eine Erklärung von 14 Punkten, in denen der DTK die grundlegenden Forderungen für die Selbstverwaltung der autonomen Regionen offiziell erklärte. Mittlerweile strebt die regierende AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, dt.: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ein strafrechtliches Verfahren wegen verfassungsfeindlicher gegen Demirtaş an.
In einer Apotheke fragen wir den Verkäufer, was er über die Kommissionen wisse, die im System des Demokratischen Konföderalismus vorgesehen sind und in denen wichtige organisatorische Aufgaben auf der Stadt- und Quartierebene verteilt werden sollen, wie zum Beispiel Bildung und Gesundheit. „Die Kommission ist im DBP-Büro“, antwortet der Mann, der offensichtlich von keinem Rat in seiner Nachbarschaft weiß. Für ihn scheint die „Kommission“ nach wie vor eine Parteikaderinstitution zu sein, die mit dem gewöhnlichen Volk nichts zu tun hat.
Die DBP (Demokratik Bölgelerin Partisi, dt.: Partei der demokratischen Regionen) ist eine Schwesterpartei der HDP. Sie ist innerhalb des Selbstorganisationssystems der kurdischen Bewegung für Bildung und lokale Verwaltung zuständig. Ihre genaue Rolle ist aber von Ort zu Ort verschieden. Im Gebäude der DBP treffen wir auf eine Gruppe älterer Männer, die bereitwillig auf unsere Fragen antworten. Wir erfahren, dass die DBP in Gever nicht nur eine politische Partei, sondern auch eine die Rechts- und Moralkommission ist. Ein Rat von 9 Männern und 2 Frauen übt hier eine Art Gerichtsfunktion aus und entscheidet bei Konflikten.
„Die Kurd_innen in Gever vertrauen uns“, erklärt eines der Mitglieder der Kommission. „Sie kommen mittlerweile fast alle hierher, anstatt die Institutionen des Staates in Anspruch zu nehmen. Wenn wir einen Fall nicht lösen können, wird er an eine Kommission in der Guerilla weitergegeben, an die wir direkt angeschlossen sind. Die Mitglieder unserer Kommission werden auf demokratischem Wege von den Delegierten aus allen Vierteln Gevers gewählt. Alle sechs Monate veranstalten wir einen Kongress, in dem uns die Bevölkerung kritisieren und, wenn nötig, abwählen kann.“
Währenddessen tobt der Krieg in Cizre, Şırnak, Silopi und der Altstadt von Diyarbakır. „Straße um Straße, Gasse um Gasse“, solle von „Terroristen gesäubert“ werden, wie der türkische Ministerpräsident Davutoğlu es im Dezember formulierte. „Ihr werdet nur die Kanalisation säubern“, hatte Demirtaş darauf geantwortet.
Am 12. Januar 2015 wurde dann auf einer der Hauptstraßen von Gever ein älterer Mann mehrmals von einem Wasserwerfer überfahren, woraufhin die bewaffnete Jugend einige vorbeifahrende Polizeifahrzeuge in die Luft sprengte. In den darauffolgenden Nächten kam es zu Feuergefechten in den Randbezirken der Stadt. Trotzdem bleibt es bisher noch vergleichsweise ruhig in den verbarrikadierten Vierteln von Gever.
Eine Entscheidung über die Zukunft der Selbstverwaltung in Gever wird fallen, wenn der Schnee schmilzt. Vielleicht wird es ein kurdischer Frühling...
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