Ibrahim Nehme will die Revolution. Ganz ohne Straßenproteste oder Megaphon. Mit seinem panarabischen Independent-Magazin „The Outpost“ hinterfragt der Libanese starre Gesellschaftsstrukturen im Nahen Osten – und will seine Leser animieren, etwas daran zu ändern. Von Sally Eshun
Das Hamra-Viertel im Westen Beiruts – eine Brutstätte der Gewalt und Hotspot für Terroristen. Brüllende Kämpfer verjagen die Menschen von den Straßen, wenn der schwere Jeep eines Hisbollah-Führers durch die Straßen rollt. Vermummte kontrollieren jede Bewegung, das Maschinengewehr im Anschlag und immer zum Abdrücken bereit.
Diese Szene stammt aus der US-Serie „Homeland“; in der zweiten Staffel irrt Protagonistin und CIA-Agentin Carrie Mathison panisch durch ein Beirut, das es so gar nicht gibt.
Im echten Hamra sitzen Studenten und Geschäftsleute bei Starbucks oder schlendern mit Einkaufstüten durch die noch vom Regen durchnässten Straßen. Taxifahrer hupen möglichen Kunden hinterher, kleine Kiosks und Wechselstuben drängen sich aneinander. Ein schmaler, matschiger Weg führt in einen Hinterhof zum „Dar Bistro & Books“. Das Café ist ein Treffpunkt für junge Familien, viele unterhalten sich auf Englisch. Ibrahim Nehme, Gründer der Zeitschrift „The Outpost“ sitzt in der prallen Maisonne allein am Tisch, in Jeans und weißem T-Shirt, zwischen Macbook und Quinoa-Salat.
Die Szene aus „Homeland“ fällt ihm ein, als er auf die Herausforderungen zu sprechen kommt, denen der Libanon und auch er selbst gegenüberstehen. Die Folge habe nach der ersten Ausstrahlung große Aufregung in Beirut ausgelöst, sagt er: „Libanesen legen sehr viel Wert darauf, wie sie und das Land in der Welt rüberkommen“. Allzu oft werde die Stadt zur Kulisse für Terror-Folklore und Nahost-Stereotype. „Araber werden oft als dumm und primitiv dargestellt“, sagt Nehme. Er möchte der Welt einen anderen Nahen Osten zeigen. Einen intellektuellen und kreativen, der altmodische Gesellschaftsstrukturen aus sich heraus überwindet.
Ein anderer Naher Osten, intellektuell, kreativ und freier
Es sind die Ideale des arabischen Frühlings, die seine Überlegungen stets begleiten. Nur hat sich Nehme mittlerweile von Megafon und Straßenprotesten verabschiedet. Er will eine andere Revolution, eine friedliche aber ebenso tiefgreifende Veränderung. Er will eine Revolution auf Papier – und sein Medium dafür heißt „The Outpost“.
Das Magazin ist praktisch ein Luxusprodukt, gedruckt auf weichem Naturpapier, in warmen Farben ruhig und minimalistisch gestaltet. Typografie und Illustrationen ergänzen die Texte mit einer fließenden Natürlichkeit. Nicht nur in der Gestaltung, auch in der Themenwahl fühlt sich das Heft nach großer, weiter Welt an. Nehme publiziert Geschichten über homosexuelle Tänzer oder eine Tramfahrt durch die verschiedenen religiösen Viertel Jerusalems. Er erzählt auch von Krieg, Flucht und Korruption. Aber sein Fokus liegt auf Menschen, die in einer schwierigen Umgebung ihre Kreativität und ihren Mut entdecken. Die Texte handeln von syrischen Poeten und ägyptischen Feministinnen – sie alle finden ihr zu Hause in „The Outpost“. Jede Seite des Magazins atmet die Wunschvorstellung und Vision einer freieren arabischen Welt.
„The Outpost“ erscheint in englischer Sprache – und das aus gutem Grund: „Die arabische Sprache verschwindet immer weiter aus der Medienkultur der jungen Leute hier“, sagt Nehme. Zugleich ist Englisch auch ein Schutzmechanismus gegen die Zensur der libanesischen Behörden. „Wir sind noch ziemlich unter dem Radar“, sagt der 29-Jährige. In einigen der Nachbarländer wäre sein Heft womöglich längst verboten, doch im Vergleich zu Saudi-Arabien oder Ägypten gelten die Mediengesetze Libanons als weniger restriktiv. Trotzdem wird jede Ausgabe von eifrigen Zensoren überprüft.
Eine große Belastung und Versprechen für die Zukunft zugleich
In den Editorials des „Outposts“ bricht sich der Frust über die Situation in seinem Land und in den Nachbarländern manchmal eine Bahn. „Es ist anstrengend, in einer Welt zu leben, in der die Möglichkeiten des Lebens an das Unmögliche grenzen. Und es war von Anfang an klar, dass die bewusste Entscheidung, hier zu leben, eine Entscheidung für ein Leben in einem Land ist, in dem die einfachsten Mittel zum Überleben nicht existieren,“ heißt es zum Beispiel in der ersten Ausgabe.
Die Sätze passen zum melancholischen und manchmal erschöpften Blick, mit dem Nehme erzählt, und seinen tiefliegenden Augenlidern. Man merkt ihm die Belastung an, auch hier im Café in Hamra. „The Outpost“ ist für ihn längst mehr als ein gedrucktes Heft oder ein Magazinprojekt. Es ist seine Mission geworden – und das zehrt an ihm. Nach einer halben Stunde im Gespräch bittet er darum, sich in den Schatten zu setzen. Er nehme Medikamente, der Arzt könne nicht genau sagen, was mit ihm los sei. Vermutlich Stress.
„Das Magazin hat mein Leben so übermannt, dass ich es gar nicht mehr trenne. Meine persönlichen Ziele sind die des Magazins. Ob das so gesund ist, weiß ich nicht“, sagt Nehme. Und doch, wenn er von seinem Ideen für die nächste Ausgabe erzählt, von der Arbeit mit Autoren, Illustratoren, Grafikern, dann schwingt Begeisterung in seiner Stimme mit. Irgendwie schafft er es, fast jeden düsteren Gedanken in eine positive Vision umzukehren. Nicht umsonst trägt „The Outpost“ den Untertitel „Magazin der Möglichkeiten“ – zugleich eine Einschränkung für die Gegenwart und ein Versprechen für die Zukunft.
Dieses Magazin ist ein Versprechen an ein besseres Lebens, für seine Leser und auch an die Verantwortlichen. „Sein eigener World Maker zu sein ist manchmal anstrengend, aber alternativlos“, sagt Nehme. „World Maker“, das sind aus Nehmes Sicht Menschen, die etwas bewegen wollen. Die sich gesellschaftlichen Konventionen entziehen und ihre eigene Geschichte schreiben. Für sie macht er „The Outpost“. „Ich nutze das Wort Magazin auch so ungerne. Es macht das Projekt kleiner als es ist“, sagt Nehme. Lieber spricht er von „media vehicle“ oder „activist magazine“. Die Fortsetzung der arabischen Revolutionen also – mit anderen Mitteln.
Der „Arabische Herbst“
Nehme packt den Laptop ein, er hat noch einen Termin am anderen Ende der Stadt. Aus dem verwinkelten Hamra mit seinen schmalen Straßen und kleinen Restaurants läuft er in Richtung Downtown Beirut. Die Mittagssonne brennt heftig, spiegelt sich in den Glasfassaden der Bürogebäude. Ein Presslufthammer dröhnt, Kräne und Baufassaden überragen die fast menschenleeren Straßen.
Vor einem Sonnenbrillengeschäft sitzt eine Frau im Staub, die verschwitzen Haarsträhnen kleben an ihrer Stirn. Ein Kind liegt in ihrem Arm, windet sich und kneift die Augen zusammen. Für so viele hat sich mit den Revolutionen nichts verbessert, im Gegenteil: Heute sind mehr Menschen als vor den Unruhen auf der Flucht oder leben in Armut. Selbst der Tahrir-Platz in Kairo ist jetzt meistens abgesperrt – von der Revolution ist scheinbar nicht viel geblieben, und auch die Herrschaftsstrukturen in der arabischen Welt sind weitgehend intakt. Nehme spricht im Rückblick von einem „Arabischen Herbst“ – als wäre etwas zu Ende gegangen und nicht etwas Neues entstanden.
„Man muss den Dingen Zeit lassen, ein Umdenken muss erst einmal in den Köpfen stattfinden“, sagt er. Wie viele Gleichaltrige ist er skeptisch gegenüber Veränderungen, die Umstürze und Revolutionen versprechen. In den libanesischen Bürgerkrieg von 1975 bis in die frühen 90er Jahre wurde er hineingeboren und auch die Unruhen nach der Ermordung des libanesischen Präsidenten Rafik al-Hariri 2005 hat er noch klar im Kopf: „Mindestens einmal im Monat explodierte irgendwo in Beirut und Umgebung eine Autobombe. Viele trauten sich nicht mehr auf die Straßen. Man musste nur zur falschen Zeit am falschen Ort sein.“
An einer großen Einkaufsstraße ragt ein Büroturm in den Himmel, ein Springbrunnen plätschert davor. Es ist der Sitz der Tageszeitung An-Nahar. Nehme legt den Kopf in den Nacken. An-Nahar, auf Deutsch „Der Tag“, war einmal sein großes Vorbild. Chefredakteur Gebran Tueni wurde 2005 durch eine Autobombe getötet, auch Samir Kassir, Aktivist und prominenter Autor der Zeitung, starb nach einer Explosion. Seitdem „vertritt die Zeitung nicht mehr das, wofür sie einmal stand“, meint Nehme. Das Klima der Gewalt habe die Medienlandschaft im Libanon nachhaltig beschädigt. „Die Medien hier sind korrumpiert und extrem politisiert“, sagt Nehme. Vielfach seien sie abhängig von Zuwendungen einzelner Parteien oder von Großspendern.
Und dann kam die Revolution
Nehme wendet sich ab. Wie er da vor dem glänzenden Hochhaus steht, ein schlaksiger, junger Mann, sieht er doch etwas einsam aus. Aber dann läuft er auch schon wieder – das ist vielleicht auch das ganze Geheimnis hinter der unglaublichen Energie, die „The Outpost“ ausstrahlt: Einfach nicht stehenbleiben. Nicht Jammern. Probleme benennen, aber auf eine positive Art. „Wir müssen den Narrativen des Negativen und der Ausweglosigkeit positive Narrative der Möglichkeiten entgegensetzen“, sagt er um den eigentlichen Kern der Arbeit zu beschreiben.
Der „arabische Frühling“ hat jungen Menschen wie Ibrahim Nehme einen Möglichkeitsraum gezeigt. Denn mit Anfang zwanzig, vor den Protesten, hatte Nehme seine Heimat schon so gut wie abgeschrieben. „Ich habe mein ganzes Leben in dieser Stadt gelebt. Ich wollte auswandern, weil ich Neues sehen wollte und ich die Situation hier nicht mehr ausgehalten habe.“ Nehme war gerade mit seinem Business-Studium an der American University of Beirut fertig. Er hatte kurz als Redakteur für ein Marketing-Magazin gearbeitet, schreiben kann er. „Aber das war es nicht“, sagt er rückblickend. Er wollte mehr und glaubte zunächst, dass dieses „mehr“ nur in Amerika oder Europa zu finden wäre. Im Sommer 2010 wollte er nur noch weg. Raus aus Beirut.
Aber dann kam die Revolution: Dezember 2010, der junge Gemüsehändler Mohammed Bouazizi zündet sich aus Verzweiflung über die Willkür der tunesischen Behörden selbst an. Januar 2011, der tunesische Präsident flieht nach 23 Jahren ins Exil. Im selben Monat bricht auch eine Protestwelle in Kairo aus und der Tahrir-Platz wird zum Symbol des neuen arabischen Selbstverständnisses. Mubarak legt nach 30 Jahren das Präsidentenamt nieder und das Militär übernimmt. Libyen – Gaddafi wird getötet und die Protestbewegung weitet sich nach Jemen, Syrien, Bahrain aus. Junge Menschen kämpfen um Rechte und Freiheiten – viele kostet das ihr Leben.
Ibrahim Nehme konnte nicht mehr weg. Nicht wenn Tausende von Menschen auf die Straße gehen und für das kämpfen, was er sich wünscht – Veränderung. 2011 beginnt er daher an dem Konzept für „The Outpost“ zu arbeiten, erstellt einen Business Plan und sammelt die ersten Artikel. Das Geld bekommt er von Bekannten und Freunden, er steckt sein gesamtes Erspartes in die Publikation. Seine Freunde sind trotz der Unterstützung skeptisch. Sätze wie „Print ist tot“ oder „Veränderung im Nahen Osten? Das geht nicht zusammen“ sind der allgemeine Tenor. Dann erscheint die erste Ausgabe, mit beeindruckendem Design und spannenden Geschichten. Ein Journalist des Guardian vergleicht das Magazin mit dem Economist, bei Designpreisen steht es neben The New York Times Magazine.
Immer weiter
Und Nehme? Hat kaum die Zeit, sich über Preise und Ehrungen zu freuen. Denn trotz der guten Kritik ist „The Outpost“ nach wie vor unterfinanziert. Für das zweite Jahr hat Nehme 20 000 Dollar per Crowdfunding eingeworben – 50 000 waren eigentlich das Ziel. Er und sein Team haben Anzeigen verkauft, Fördergelder in Europa beantragt – im Libanon sieht er keine Chance für öffentliche Unterstützung. Das alles reicht gerade so, um die laufenden Kosten von 8 000 bis 12 000 Dollar pro Heft zu stemmen. Es gibt kein Büro, keine Festangestellten, kaum Budget für Inhalte und Gestaltung. Nur ein Team aus freien Autoren und Gestaltern, und Ibrahim Nehme, der das nächste Café ansteuert, um da seinen Art Director zu treffen.
Ein paar Minuten später drängt sich Nehme durch eine Gruppe schicker Studenten im Stadtteil Gemmayze. Die Wände sind roher Backstein, es riecht nach frischem Kaffee. In der Magazin-Auslage des Cafés liegen ausschließlich Titel auf Englisch, wie InStyle oder Harper's Bazaar.
Nehme winkt zu einem der Tische herüber, wo ein kleiner, schlanker Mann mit kurz rasiertem Haar sitzt. Hicham Faraj ist seit der vierten Ausgabe Art Director von „The Outpost“. Sie umarmen sich zur Begrüßung, wie alte Freunde. Auf dem Tisch liegt ein Stoß Papier mit Skizzen, über die sich Nehme beugt und einen Zettel mit der Zeichnung eines Auges hervorzieht. Er ergänzt Hände und Herz. „Es gehe darum, wie Menschen Veränderungen bewirken. Die Körperteile sollen das sinnbildlich darstellen“, erklärt Art Director Faraj. Missstände erkennen, bewusst und gewissenhaft Handeln, das sei wichtig. Die beiden diskutieren über die verschiedenen Ideen, wobei Nehme zum ersten Mal an diesem Tag laut und ausgelassen lacht.
Es gibt viel zu Besprechen, „The Outpost“ soll auch ins Netz wandern, erste Pläne für die Digitalisierung gibt es schon. Auch eine arabische Ausgabe ist in Planung, die für die ältere libanesische Bevölkerung nahbarer sein soll als die englische Version. Nehme und sein Team nehmen Editorial- und Design-Aufträge an, um „The Outpost“ quer zu finanzieren. Damit die Bewegung nicht zum Erliegen kommt.
Ende August diesen Jahres hat ein scheinbar banales Problem das Land in Aufruhr gebracht. Weil eine überquellende Mülldeponie geschlossen wurde, war Beirut im Abfall versunken und die Bevölkerung aufgebracht. Korruption und fehlende Jobperspektiven machten vor allem der jungen Generation zu schaffen, die in diesem Zusammenhang die YouStink-Bewegung organisierte. „Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat“, meinte selbst der Ministerpräsident über die größten Proteste und Ausschreitungen seit zehn Jahren. Auch sie sind wieder ein Signal, dass Ibrahim Nehmes Arbeit im Libanon wichtiger ist denn je.
Der Frage, ob und wie sehr „The Outpost“ seine Leser beeinflussen würde, stand Nehme immer mit einer gewissen Unsicherheit gegenüber. Die verschwand jedoch abrupt, als er vor Kurzem von einer jungen Leserin aus Ägypten hörte. Sie plant ein ähnliches Magazin, um auch die ägyptische Jugend zu mobilisieren und ihnen nach den jüngsten Enttäuschungen neue Hoffnung zu schenken. Man merkt, dass Ibrahim sichtlich überwältigt ist. Er schüttelt leicht den Kopf, als ob er es immer noch nicht ganz fassen könnte. Die Revolution kommt nicht – sie ist voll im Gange.