28.09.2015
Wachsende soziale Spannungen in Algerien – Der Fall Ghardaia
Blick auf Ghardaia. Photo: Lionel Viroulaud/Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)
Blick auf Ghardaia. Photo: Lionel Viroulaud/Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)

Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Provinz Ghardaia, ca. 600 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Algier, kamen zuletzt mehr als 20 Menschen ums Leben, viele wurden verletzt. Der Streit zwischen Amazigh-sprechenden Mozabiten und arabischen Beduinen eskaliert – dessen Ursachen sind politischer, ökonomischer und sozialer Natur. Ein Interview mit Merin Abbass, der die Projekte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Algerien leitet.

Herr Abbass, im Juli 2015 kamen mehr als 20 Personen bei den Auseinandersetzungen in der Region Ghardaia ums Leben. Was ist passiert?

Merin Abbass: Die sozialen Spannungen haben nicht erst im Juli 2015 angefangen. Schon im Dezember 2013 gab es in der Provinz Ghardaia, einer Oasen-Region in Zentral Algerien, ca. 600 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Algier, Konflikte zwischen zwei Gruppen. Auf der einen Seite sind es Amazigh-sprechende Mozabiten. Und auf der anderen Seite arabische Beduinen, die verschiedenen Zweigen des Chaamba-Stammes angehören. Dieser Stamm kommt aus dem nördlichen Raum der Sahara. Ursprünglich waren sie Nomaden, die von der Kamelzucht lebten, in den letzten Jahrzehnten haben sie sich aber niedergelassen.

Heute wie damals geht der Streit von den arabisch-stämmigen Chaambas aus. Sie plünderten im Dezember 2013 die Häuser und Geschäfte der Mozabiten und legten Feuer. Damals sind zwei junge Mozabiten umgekommen, etliche wurden verletzt. Am 15. Dezember 2013 dann haben junge arbeitslose Chaambas vor dem Sitz der Regionalregierung (Wilaya) von Ghardaia demonstriert. Sie verlangten die Veröffentlichung der Liste der Empfänger staatlicher Wohnungen. Die Demonstrationen weiteten sich aus, die Wut der Demonstranten griff über auf Geschäfte und Häuser der Mozabiten. Angeheizt wurde der Konflikt zudem als das Mausoleum von Cheich Ammi Moussa angegriffen und beschädigt wurde, der für die Mozabiten heilig ist, weil er als erster deren Besiedlung in Ghardaia begründete.

Die Ereignisse vom Juli 2015 sind ähnlich verlaufen, allerdings waren die Übergriffe der Chaambas auf die Geschäfte und Häuser der Mozabiten brutaler. Zahlreiche Häuser wurden niedergebrannt, Mozabiten zusammengeschlagen und mehr als 20 von ihnen umgebracht. Bis heute ist die Stadt in einem Ausnahmezustand, die Armee musste eingreifen und sorgt seitdem für Sicherheit. Sie kontrolliert sogar den Landweg nach Ghardaia. Es wurde eine nächtliche Ausgangsspeere aufgelegt, zudem gibt es erhebliche Einschränkung zwischen den jeweiligen Bezirken.

 FES Merin Abbass arbeitet seit 2008 für die Friedrich-Ebert-Stiftung zu den Themen Naher Osten, Südliches Afrika und Ostmitteleuropa. Seit Oktober 2014 leitet er das FES-Büro in Algerien und ist außerdem verantwortlich für das Libyen-Projekt sowie das regionale Gewerkschaftsprogramm. Zuvor studierte Abbass Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen.

 

Bei solchen gewaltsamen Auseinandersetzungen würde man annehmen, dass die Polizei eingreift? Warum haben sie die aufgebrachten Chaambas nicht abgehalten?

Es ist in der Tat interessant, die Rolle der Polizei bei diesem Konflikt zu untersuchen. Sowohl bei den Auseinandersetzungen von 2013 als auch bei den jüngsten Gewaltausbrüchen hat die Polizei zugelassen, dass die Geschäfte und Häuser der Mozabiten niedergebrannt werden. Obwohl die Chaambas zu Beginn der Demonstrationen im Juli 2015 die lokalen Behörden und Autoritäten im Visier ihres Protests hatten, erlaubte die Polizei, dass sie in den Vierteln der Mozabiten marschieren. Das ist verwunderlich, weil die Erfahrungen von 2013 gezeigt haben, dass solche Proteste in blutigen Auseinandersetzungen münden können. Nur warum hat die Polizei nicht angegriffen? Zum einen weil sie die Lage nicht unter Kontrolle hat. Aber die eigentliche Ursache liegt an den Beziehungen der Mozabiten und Chaambas zu den Behörden und zu Sicherheitskräften.

Die Chaambas, also die Araber, haben engere Beziehungen zu den Behörden, Verwaltungen, Polizei und zum Militär. Sie besetzen die wichtigsten Posten. Dagegen gib es in der Region Ghardaia keinen einzigen mozabitischen Polizisten, genauso wenig bei der Armee. Folglich fühlen sich die Mozabiten von den Behörden und der Polizei diskriminiert und werfen ihnen Rassismus vor. Daher fühlen sie sich auch von ihnen nicht geschützt. Laut Augenzeugenberichten hat die örtliche Polizei sogar die Viertel der Mozabiten verlassen, kurz bevor die aufgebrachten Demonstranten eimarschierten. Damit konnten sie ihr Unheil ungestört anrichten, ohne von der Polizei „gestört“ zu werden.

So sind die Unruhen in Ghardaia zu einem Problem der nationalen Sicherheit geworden – und daher auch zur Chefsache. Der Premier- und Innenminister sind jeweils hingereist und eine Krisensitzung mit dem Präsidenten Boutiflika wurde abgehalten.

 Merin Abbass

 

Was sind die Ursachen des Konfliktes?

Die Konflikte in Ghardia sind schwer einer einzigen Ursache zuzuordnen. Es sind verschiedene Faktoren, die immer wieder zum Aufflammen dieser gewaltsamen Auseinandersetzungen führen.

Ökonomische Gründe spielen eine wichtige Rolle. Die Arbeitslosigkeiten unter den arabischen Chaambas hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Viele der Jugendlichen finden keine Arbeit, zudem gibt es wenig staatliche Unterstützung für die Vorbereitung bzw. Integration dieser Jugendlichen in den Arbeitsmarkt. Zugespitzt hat sich die Lage in den letzten Jahren, weil zunehmend andere junge arbeitslose Algerier in den Süden ziehen, um in dem Ölsektor zu arbeiten. Das führt wiederum zu einer Verdrängung der jungen Chaambas, da sie verglichen mit den besser ausgebildeten Menschen aus dem Norden schlechter gestellt sind.

Unter der mozabitischen Jugend dagegen gibt es eine geringere Arbeitslosenquote, weil ihr Wirtschaftsmodell familiär geprägt ist und Jugendliche bereits früh in den Geschäften der Familie und Verwandtschaft eingeführt werden. Indes hat der Aufstand arbeitsloser Jugendlicher aber in anderen Teilen Süd-Algeriens stark zugenommen. Sie alle, egal welcher Ethnie, fordern ihr Recht auf Arbeit. Und die Polizei reagiert dabei wenig souverän und nicht selten mit Gewalt.

Im Allgemeinen glauben die Chaambas, dass die Mozabiten für ihre schlechtere wirtschaftliche Situation verantwortlich sind. Neid spielt hier sicher auch eine Rolle, denn der Zusammenhalt der mozabitischen Community und die gegenseitige finanzielle Unterstützung schützt sie vor einem sozialen Fall. Zudem gibt es Vorurteile gegenüber der jeweils anderen Gruppe, die in den Medien und in den sogenannten „Sozialisierungs-Institutionen“ wie Schule, Familie, Nachbarschaft und Arbeitsplatz reproduziert werden, da es dort kaum soziale Interaktionen gibt.

 Merin Abbass

 

Spielt bei diesem Konflikt die Religion eine Rolle?

Meiner Ansicht nach spielt Religion eine untergeordnete Rolle. Wenn überhaupt, dann nur angesichts des wachsenden Einfluss der Salafisten. Denn der Hass der Chaambas auf die Mozabiten lässt sich zum Teil mit dem wachsenden Einfluss der Salafisten in der Region erklären. Sie rekrutieren arabische Jugendliche aus den benachteiligen Vierteln von Ghardaia. In ihren Reden hetzen sie gegen die Mozabiten. Den Salafisten wird zudem nachgesagt, dass sie stark in dem Drogenhandel verwickelt seien. Daher wollen sie die Mozabiten schwächen, um die wirtschaftliche Macht über die Region zu erlangen, denn das dortige M´Zab Tal ist eine wichtige Durchfahrt für den Drogenhandel in Algerien. Die Chaambas kooperieren ihrerseits mit den Salafisten, weil sie von dem Drogenhandel auch profitieren und dieser als eine neue Einkommensquelle sehen.

Welche Rolle spielt denn der Staat hier?

Viele der erwähnten Probleme gehen auf die Schwäche und das Nichtstun des Staates in der Provinz Ghardaia zurück. Der Staat hat diese Region vernachlässigt und wenig Initiativen gestartet, um die Region wirtschaftlich zu unterstützen – so zum Beispiel gibt es keine Strukturanpassungsprogramme, die Arbeitsplätze schaffen und die Jugendlichen in den Arbeitsmarkt integrieren könnten. Zwar kommen in den letzten zwei Jahren immer wieder hochrangige Politiker, jedoch ohne eine Lösung für den Konflikt zu finden.

Der Staat unternimmt zudem wenig, um den Austausch zwischen den sozialen Gruppierungen zu fördern. Es gibt wenig politischen Willen, sie einander anzunähern, Vorurteilen abzubauen und eine Kultur der Koexistenz zu schaffen. Das negative Bild von den „Anderen“ bleibt, teilweise sogar staatlich gefördert, indem über die Medien schlecht über Mozabiten berichtet wird. Außerdem werden Araber auf dem Arbeitsmarkt bevorzugt, während Mozabiten aus allen staatlichen Institutionen und lokalen Stellen ausgeschlossen werden. Das verstärkt natürlich bei den Mozabiten das Gefühl der Ausgrenzung und der Diskriminierung.

An diesem Punkt wird es deutlich, dass die algerische Gesellschaft nicht homogen ist, der Staat aber die kulturelle Diversität nicht als Bereicherung sieht, sondern allein auf die nationale Einheit setzt. Die Unterschiede sind jedoch da und führen zunehmend zu einem sozialen Konflikt. Doch der Staat hat hierfür keine positive Antwort oder gar Lösungsansätze.

Was könnte oder sollte der Staat denn konkret machen?

Der Staat muss sich mehr engagieren und Strukturförderungsprogramme starten, von denen alle gesellschaftlichen Schichten profitieren, auch die Chaambas, damit sie nicht noch stärker in organisierten Kriminalität und Drogenhandel verwickelt werden. Der Staat muss sich stärker um die Jugendlichen kümmern und ihnen Perspektiven aufzeigen, um sie nicht an extremistische Gruppen zu verlieren.

Zudem muss die offizielle Diskriminierung zwischen Arabern und Mozabiten ein Ende haben und eine Kultur der Koexistenz geschaffen werden, in der Unterschiede als Bereicherung angesehen werden und nicht als eine Gefährdung der nationalen Einheit. Durch eine Politik der Vielfalt können Vorurteile auch abgebaut werden und das gesellschaftliche Miteinander gefördert werden. Die aktuellen Konflikte von Ghardaia können schließlich morgen Konflikte in anderen Regionen des Landes sein, wo unterschiedliche Ethnien aufeinander treffen.

Der algerische Staat muss sich dafür eine neue Sozialpolitik ausdenken, denn der erkaufte soziale Frieden wird aufgrund der stets sinkenden Ölpreise nicht mehr durchzuhalten sein. Die Unzufriedenheit mit den sozio-ökonomischen Bedingungen wird eher steigen, daher ist eine nachhaltige und inklusive Wirtschaft- und Sozialpolitik notwendig.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

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