Ein Jahr ist der Ex-Feldmarschall Abd al-Fatah al-Sisi mittlerweile Präsident. Doch die Stimmung in Ägypten ist gereizt, die Bevölkerung gespalten. Alltagsgespräche geben Auskunft von Angst, Frustration und Optimismus auf eine bessere Zukunft. Von Hend Taher
Muhammed al-Dali, ein 29-jähriger Kundenbetreuer, ist in einer internationalen Firma in Kairo tätig. Al-Dali ist nicht sein richtiger Name, „meine Meinung könnte hier falsch verstanden werden“, erklärt er. Muhammed hat bei der Präsidentschaftswahl vor einem Jahr Abd al-Fatah al-Sisi gewählt. Heute glaubt er, Ägypten sei auf dem richtigen Weg. Es werde aber lange dauern, bis die Leute die Ergebnisse der Entwicklung vollständig zu sehen bekommen: „Wenn meine Kinder erwachsen sind, werden sie in einem anderen Ägypten leben.“
Dass positive Ergebnisse anstünden, sei für ihn selbstverständlich. Denn Sisi habe ein schweres Erbe übernommen, da brauche es Zeit, vor allem, weil er gegen den Terror im Sinai und gegen eine zionistisch-amerikanische Verschwörung kämpft, die Ägypten zu zersplittern drohe, befindet Muhammed. „Amerika und Israel wollen Sisi nicht. Dieser Mann steht ihnen politisch im Weg“, sagt er mit Stolz. Trotzdem habe Sisi, der hart arbeite, einige Probleme bereits erfolgreich überwunden, zum Beispiel den Ausfall der Strom- und Wasserversorgung sowie den Benzinmangel im Land. Daneben verbessere er Infrastruktureinrichtungen und fördert den Ausbau der Autobahn, die von Kairo nach Alexandria führt, lobt Muhammed.
Die Zukunftsvision ist sehr ehrgeizig
Von 89 Millionen Ägypter_innen leben laut dem Minister für ländliche Entwicklung Adli Labib rund 20 Prozent unter der Armutsgrenze. Nach Angaben der Statistikbehörde Capmas schwankte die Inflation im Zeitraum von März bis Juli 2015 zwischen 11,5 und 13,8 Prozent, was bedeutet, dass das Leben gerade der einkommensschwachen Teile der Bevölkerung immer teurer wird. Um die große Inflationsrate zu überwinden, indem die Wirtschaft angekurbelt werden soll, strebt die Regierung „einen notwendigen Strukturwandel“ an, wie sie es nennt.
Wichtige Maßnahmen sind dabei neben Steuererhöhungen die Reduzierung von Kraftstoff- und Energiesubventionen. Anstelle von Benzin in Milliardenhöhe sollen außerdem elektronische Lebensmittelkarten eingeführt werden. Dabei ist vorgesehen, dass die Begünstigten sich für die Ausgabe dieser Karte zunächst online registrieren. Das stellt jedoch all jene vor Schwierigkeiten, die nicht ausreichende Computerkenntnisse verfügen, was in vielen Landesteilen der Fall ist.
Darüber hinaus kündigt die Regierung gerade eine Reihe nationaler Großprojekte in Milliardenhöhe an: So wurde auf einer internationalen Investorenkonferenz kürzlich der Plan einer neuen Hauptstadt unter dem Titel „Cairo 2050“ präsentiert. Auch der Suez-Kanal wurde ausgebaut, ein zweiter Kanal gerade erst eröffnet. Dazu sagt der ägyptische Premierminister Ibrahim Mehlib: „Die Zukunftsvision für dieses Land ist sehr ehrgeizig“.
„Ägypten ist auf dem Weg in den Abgrund“, sagt im Gegensatz dazu Bassil Nofal frustriert, ein 31-jähriger Journalist eines privaten Fernsehsenders. Die Regierung plane, Kredite in Höhe von einer halben Billion US-Dollar aufzunehmen, doch gebe es keine nachhaltigen Entwicklungsprojekte oder ernsthafte Lösungsansätze für die Probleme des Landes, so Bassil. Nicht nur habe die Armee bisher nichts erreicht – ihre „Legitimität“ sei fingiert: „Die Stromausfälle waren geplant, damit die Armee 2013 einen Grund hatte, in die Politik einzugreifen. Denn sobald Sisi an der Macht war, verschwand dieses Problem auf einmal,“ resümiert der junge Journalist. Zugleich warnt er, „die Regierung täuscht die Leute mit rosigen Träumen. Doch wenn sie diese nicht erfüllen werden, wird die Unzufriedenheit groß sein.“
Keiner will demonstrieren, alle sind zufrieden?
Indes ist das Leben auf dem Tahrir-Platz dieser Tage ruhiger geworden. Noch bis 2013 kamen die Menschen hier immer wieder zu Tausenden zusammen, um zu protestieren. Doch seit fast zwei Jahren gibt es keine Demonstrationen mehr. Für die ägyptische Regierung liegt das daran, dass es dafür nun keinen Anlass mehr gebe.
Sisi selbst begann seine erste Rede als Präsident mit dem Lob der „zwei Revolutionen für ein menschenwürdiges und freies Leben“ – die erste Revolution ist die von 2011 und die zweite der Sturz Mohamed Mursis von 2013, in deren Zuge Sisi an die Macht kam. „Die Stabilität für dieses Land wird zurückkommen. Die Zukunft unseres Landes ist wie eine leere, weiße Seite. Es liegt in unserer Hand, sie auszufüllen – mit Freiheit, Brot, Würde und sozialer Gerechtigkeit,“ ermahnte der Präsident.
Doch bereits im November 2013 erließ die Regierung ein restriktives Demonstrationsgesetz. Dieses verlangt, dass Demonstrationen drei Tage vorher angemeldet werden müssen. So ist es dem Staat erlaubt, Proteste abzusagen und auch kleine Kundgebungen zu kriminalisieren, falls sie die „öffentliche Ordnung“ behindern.
Der Sisi-Unterstützer Muhammed al-Dali sieht alles ganz anders: „Warum sollten die Leute demonstrieren? Die meisten sind zufrieden und unterstützen Sisi. Schließlich hält er seine Versprechen“. Auch in der bekannten staatlichen Zeitung Al-Ahram wurde vor Kurzem veröffentlicht, dass laut einer Umfrage zehn Monate nach Amtsantritt 82 Prozent der Bevölkerung mit Präsident Sisi und seiner Regierung zufrieden seien.
Der Journalist Bassil dagegen sagt mit einem bitteren Lachen: Sisi hat zur Zeit zwar eine große Beliebtheit, doch Kritik würde nicht geduldet. „Demonstrationen gibt es nicht, denn die Polizei erschießt und verhaftet die Demonstranten. Deswegen wirkt jetzt selbst ein Sitzstreik wie eine Selbstmordidee.“ So können einzig die Sisi-Anhänger Kundgebungen abhalten, in denen sie den Präsidenten loben; alles andere werde effektiv unterbunden.
Gravierende Menschenrechtssituation im Land
Laut dem Jahresbericht von Amnesty International 2014/2015 verschlechterte sich die Menschenrechtssituation nach der Absetzung von Präsident Mursi im Juli 2013 dramatisch. Mehr als 40 000 Personen sind laut dem Bericht entweder inhaftiert oder angeklagt worden. Die Haftzustände sind verheerend: Viele Inhaftierte hätten keinen Kontakt zu ihren Familien oder Zugang zu einem Rechtsbeistand, während in einigen Fällen indes Freunde oder Familienangehörige verhaftet wurden, wenn die gesuchte Person nicht angetroffen wurde. Und auch die Anklageverfahren sind willkürlich: Oft wurden Häftlinge über den Grund ihrer Festnahme gar nicht in Kenntnis gesetzt und trotzdem in bis zu einjährige Untersuchungshaft genommen; Hunderte erhielten so in unfairen Gerichtsverfahren Gefängnisstrafen oder gar Todesurteile, dokumentiert der Bericht. Während einige Inhaftierte mittlerweile „verschwunden“ sind, belegt der Bericht außerdem, dass mehrere Menschen an den Folgen von Folter starben.
Muhammed al-Dali jedoch habe nie von jemandem gehört, der willkürlich festgenommen wurde. Der Kundenberater sagt: „Ein Freund von mir wurde mal während des Demonstrierens verhaftet, da die Demonstration einen gewaltsamen Verlauf nahm. Doch keiner hat ihn geschlagen oder misshandelt und er kam schnell raus.“ Die Berichte der Menschenrechtsorganisationen seien gefälscht, meint er: „Diese Organisationen arbeiten gegen Ägypten. In anderen Ländern werden Menschenrechte ebenso wenig umgesetzt und darüber reden sie nicht.“ Die ägyptische Polizei würde ausschließlich die Terroristen verfolgen, davon ist Muhammed überzeugt, wobei er damit wie auch offiziell verlautbart primär die Muslimbruderschaft meint.
Rashid Ibrahim, ein 30-jähriger Vorgesetzter in einer internationalen Firma in Kairo, erkennt zwar an, dass sicherlich in „Einzelfällen“ Unrecht passiere, die Berichte spielen für ihn aber keine große Rolle. Systematische Verletzungen durch die Polizei wie früher oder Repression gegenüber Demonstrationen gäbe es nicht, sagt er ganz sicher. „Ich habe vorher oft Belästigungen der Polizei gegen Leute erlebt, die im Verdacht standen, der Opposition anzugehören. Das gibt es jetzt nicht mehr.“ Jetzt sei außerdem vor allem wichtig, die Sicherheit des Landes zu gewährleisten, damit die Menschen ihr Einkommen bewahren – da müsse der Staat eben manchmal auch etwas härter eingreifen, gibt Rashid eine Meinung wieder, die oft in Ägypten zu hören ist.
Sami Yusif, der eigentlich anders heißt und Ende 2013 selbst für 55 Tage inhaftiert war, hat dazu eine ganz andere Meinung. In der Universität, in der er als Lehrassistent arbeitet, gab es viele Anti-Sisi-Proteste. Während einer Kontrolle wurde auch einmal sein Handy durchsucht. Und als die Polizei dabei eine seiner Aufnahmen einer Demonstration gegen Sisi fand, wurde Sami verhaftet. Die Anklage für seine Festnahme umfasste ganze 16 Punkte, alle ebenso pauschal wie unbegründet, zum Beispiel der Besitz von Waffen, Diebstahl von Polizeiwaffen und der Kamera eines Journalisten sowie die Blockade der Autobahn. „Ich habe selbst Leute gesehen, die unter Folter gestorben sind“, erinnert er sich an die Zeit seiner Inhaftierung und bleibt still. Kurz darauf fügt er hinzu: „Einer starb in meinen Armen.“
Ägypten befindet sich mitten in einem Krieg
Ende Juni 2015 wurden die Bewohner eines Viertels in Kairo, in dem viele wohlhabende Menschen wohnen, von einer Explosion aus dem Schlaf geschreckt: Der Generalstaatsanwalt Ägyptens, Hisham Barakat, wurde durch eine Autobombe getötet. Gleichzeitig wurden zahlreiche Angriffe von Terrorkommandos gegen Militärposten auf dem Sinai verübt. Medien berichteten von insgesamt 70 Toten der ägyptischen Armee, der Armeesprecher sprach jedoch von 17. „Ägypten befindet sich mitten in einem Krieg“, sagte daraufhin Premierminister Ibrahim Mehleb.
Wenige Tage nach dem Attentat auf Barakat beriet das Kabinett über ein verschärftes Anti-Terror-Gesetz, das Sisi diesen Samstag unterzeichnet hat. Denn weil die Parlamentswahlen schon mehrere Male verschoben wurden und es in Ägypten daher seit zwei Jahren keine wirkliche Legislative gibt, übernimmt Sisi die Aufgabe der Gesetzgebung. Das neue Gesetz sieht härtere Strafen für all diejenigen vor, die einer terroristischen Gruppierung angehören, Terrorakte verüben oder – lose formuliert – eine Gefahr für die „öffentliche Ordnung“ in Ägypten darstellen. Veröffentlichen Journalisten Informationen, die den offiziellen Angaben des Regimes widersprechen, drohen ihnen hohe Geldstrafen.
Premier Mehleb erklärt dazu im Telefoninterview mit einem privaten Fernsehsender: „Es gab eine überwältigend große Nachfrage nach einem solchen Gesetz. Das Gesetz hat mit der Pressefreiheit, die derzeit eine Entwicklung durchläuft, nichts zu tun; es verhindert lediglich falsche Informationen, die die Stimmungslage im Land beeinflussen.“
Der Journalist Bassil lehnt das Gesetz jedoch komplett ab, denn es ermöglich es der Regierung, jede Opposition als Terrorist zu betrachten: „Sisi benutzt seine absolute Macht, um Rechte und die Freiheit zu begrenzen.“ Das hat zur Folge, dass die Medien jetzt nur noch eine Stimme hätten, denn keiner traue sich der offiziellen Leitlinie zu widersprechen.
Ägypten geht vor die Hunde
Abd al-Fatah al-Sisis erste Amtszeit als Präsident dauert noch drei Jahre. Doch die Erwartungen für diese Zeit und die Zukunft in Ägypten gehen weit auseinander.
„Ägypten wird besser“, sagt der Kundenbetreuer Muhammed al-Dali überzeugt. Er wünsche sich vor allem, dass sich Ausbildung und wissenschaftliche Forschung im Land weiter entwickeln. Rashid Ibrahim, der Vorgesetzte, teilt diese Meinung. „In einigen Jahren wird Ägypten ein schönes Land sein; an diese Hoffnung halte ich mich.“ Zufrieden wäre er, wenn es weniger Verkehrsstaus gäbe, bessere Verkehrsmittel, sauberere Straßen und günstigere Preise.
Bassil dagegen ist sich weniger sicher, welchen Weg Ägypten gehen wird. Das Land habe seiner Ansicht nach zwei Möglichkeiten: Entweder handelt es in der jetzigen Wirtschaftskrise und fängt an, sich zu entwickeln. Oder die Wirtschaft wird zusammenbrechen und Ägypten weiter verarmen. Das Recht auf ein würdiges Leben interessiere dabei die Mehrheit der Ägypter leider nicht mehr. „Die meisten Menschen wollen essen, trinken, heiraten und schlafen. Es geht ihnen um Wirtschaftswachstum – und wenn dieses vergrößert wird, dann sind sie zufrieden.“
Für Sami Yusuf ist die Situation klar: „Solange dieses diktatorische Regime bleibt, wird es keine freien Wahlen geben.“ Was die Zukunft Ägyptens anbelangt, hat Sami daher eine kurze, sichere Antwort: „Ägypten geht vor die Hunde.“