18.06.2015
Das Deutsche Kaiserreich und die „Deutsche Dschihad-Strategie“
Achsenmächte Deutschland, Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich und Bulgarien. Postkarte: Wikimedia Commons
Achsenmächte Deutschland, Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich und Bulgarien. Postkarte: Wikimedia Commons

In den 1980er-Jahren rüsteten die USA Tausende islamistische Kombattanten aus, um die sowjetischen Besatzer in Afghanistan zu bekämpfen. Der Grundstein für den bewaffneten Dschihad als Instrument imperialer Machtpolitik wurde jedoch schon viel früher gelegt - nämlich im Deutschen Kaiserreich.

Wer in Zeiten des IS-Terrors das Wort „Dschihad“ liest, der denkt sofort an die Terroranschläge vom 11. September oder die schrecklichen Bilder, die uns aus Syrien und dem Irak erreichen.? Dabei wurden bereits in den 80er-Jahren islamistische Kämpfer in Afghanistan von den Vereinigten Staaten mit Waffen ausgerüstet, um gegen die Expansion der kommunistischen Sowjetunion anzugehen. Schon damals zogen Kämpfer aus der ganzen Welt an den Hindukusch. Doch der Grundstein für den bewaffneten Dschihad als Instrument imperialer Machtpolitik wurde schon viel früher gelegt - nämlich im Deutschen Kaiserreich.

Nach der späten Einigung 1871 galt Deutschland im europäischen Kontext als die „verspätete Nation“. Frankreich, Großbritannien und Russland hatten bereits viel früher einen eigenständigen Nationalstaat und beträchtliche koloniale Besitzungen an sich gerissen. Nahezu ganz West-Afrika wurde französisches Kolonialgebiet, während sich Großbritannien Richtung Suez-Kanal orientierte und Gebiete im indischen Subkontinent unter seine Kontrolle brachte. Das Russische Reich eroberte insbesondere zentralasiatische und sibirische Gebiete, siedelte dort russische Kolonisten an und begann die unterworfenen Territorien wirtschaftlich auszubeuten. Ähnlich bei Frankreich und Großbritannien, deren Kolonien beträchtliche Gewinne abwarfen. Anders beim Deutschen Kaiserreich. Die wenigen Kolonialgebiete kosteten den Kaiser mehr als sie ihm einbrachten und waren eher von symbolischer Natur. So musste sich die deutsche Wirtschaft anderweitig orientieren, um durch Export aufzuholen. Schnell orientierten sich Bismarck und Kaiser Wilhelm der II. daher gen Bosporus.

Kolonialgebiete mit muslimischer Bevölkerung und das Osmanische Reich als Kalifat

Die deutschen Strategen wollten sich dabei den Umstand zu eigen machen, dass ein beträchtlicher Teil der Kolonialgebiete von Frankreich, Großbritannien und Russland muslimisch war. Frankreichs Besitzungen in Nordafrika und Russlands Territorien in Zentralasien, dem Kaukasus und der Krim hatten eine überwiegend muslimische Bevölkerung. Indien war zwar heterogener und nicht zuletzt hinduistisch geprägt. Allerdings war die muslimische Bevölkerungsschicht von enormer Bedeutung für die britischen Kolonialherren. Das Osmanische Reich war zur damaligen Zeit der Nachfolger des Kalifats und der dortige Kalif Mehmed Reschad beanspruchte für sich, das Oberhaupt aller Muslime zu sein, also auch der kolonisierten Bevölkerung der drei Kolonialmächte. Daher war das Osmanische Reich aus Sicht des Deutschen Kaiserreichs von größter strategischer Bedeutung, eine Instrumentalisierung der Weltreligion Islam zu Zwecken deutscher Machtpolitik für die Führungsriege um Bismarck naheliegend.

„Der aufsteigende Halbmond“ als Ziel der deutschen Wirtschaft

Hochrangige deutsche Diplomaten und Kaiser Wilhelm II. selbst machten sich zu regelmäßigen Orientreisen auf, um positive Beziehungen in die Region zu pflegen. Das Kaiserreich betonte seine islamfreundliche Außenpolitik. 1898 reiste Kaiser Wilhelm II. nach Damaskus und verkündete am Grab Saladins er sei „der Freund der 300 Millionen Mohammedaner“. Zur damaligen Zeit befanden sich die heiligen islamischen Stätten unter osmanischer Herrschaft. Die Pilgerrouten nach Mekka und Medina waren jedoch unsicher und für die meisten Muslime in der Welt nur sehr schwer zu erreichen. Neue, in Deutschland entwickelte, Technologie sollte helfen. 1900 begann der Bau der Hedschasbahn, die Istanbul über Damaskus mit Mekka und Medina verbinden und die muslimischen Pilger schneller an ihr Ziel bringen sollte. Gleichzeitig sollte die Bagdadbahn Istanbul mit den mesopotamischen Gebieten verbinden. Der deutsche Liberale Ernst Jäckh wollte mit deutscher Hilfe aus dem „kranken Mann am Bosporus“ so einen „aufsteigenden Halbmond“ machen.

Der erste Weltkrieg und der bewaffnete Dschihad als deutsche Kriegsstrategie

Jäckh wähnte den Ausbruch des I. Weltkriegs daher als große Gelegenheit: „Möge der Ausgang dieses großen Krieges es Deutschland ermöglichen, sich nach den Worten seines Kaisers als Freund des Islam durch die Tat zu erweisen“. Ähnlich formulierte der deutsche Diplomat Max von Oppenheim in einem Brief an den deutschen Kaiser. „In dem uns aufgedrängten Kampfe gegen England, den dieses bis aufs Messer führen will, wird der Islam eine unserer wichtigsten Waffen werden“. Die sogenannte „Deutsche Dschihad-Strategie“ war mit diesem Schreiben geboren. Das Osmanische Reich trat an der Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns in den Krieg gegen Frankreich, Großbritannien und Russland. Kalif Mehmed Reschad wollte hierbei den deutschen Militärstrategen entgegenkommen und erließ im November 1914 eine Fatwa. Laut des islamischen Rechtsgutachtens sei es die „Pflicht“ aller Muslime in den Kolonialgebieten gegen die feindlichen Großmächte aufzubegehren, weil diese den Islam zu „zerstören“ versuchten. Durch Aufstände in Zentralasien und dem Kaukasus sollte Russland so in einen Zweifrontenkrieg gestürzt, durch Revolutionen in Nordafrika und Indien Frankreich und Großbritannien ihre wichtigsten Ressourcen verlieren.

Gleichzeitig versuchte das deutsche Kaiserreich muslimische Kriegsgefangene zu umwerben und zum Desertieren zu bewegen. Im preußischen Wünsdorf wurde hierfür eigens das „Halbmondlager“ eingerichtet, wo 16.000 muslimische Kriegsgefangene untergebracht wurden. Die erste Moschee auf deutschem Boden wurde im Lager errichtet, die Gefangenen halal verpflegt und das Fasten im Ramadan erleichtert.

Mithilfe der deutschen Orientalistik wurden Propagandaschriften wie al-Dschihad angefertigt, die in tatarischer, arabischer und in indischen Sprachen herausgegeben wurden. Überdies wurden deutsch-arabische Kriegslieder gedichtet, ähnlich heutiger Dschihad-Anaschid:

Kamerad, komm zu mir her nur,

Ich tu Dir nichts an!

Denk nur nicht im Kopfe, dass ich

Dich nicht leiden kann!

Ich bin Christ und Du bist Muslim,

Doch das schadet kaum!

Unser Sieg ist festbeschlossen,

Unser Glück kein Traum!

Wo da herrschet unser Kaiser,

Ist Sieg sein Panier;

Und wo Stambuls Kaiser waltet,

Flieht die Sorge schier.

Kamerad, komm! Sein wir Freunde!

Weg mit Angst und Not!

Iss mit mir hier die Kartoffeln

Und das Stückchen Brot!

Dieses Kriegslied „Lied eines deutschen Kriegers an seinen muhammedanischen Kameraden“ wurde 1916 in Leipzig öffentlich aufgeführt.

 

 Wikipedia Commons. Die 1915 eingeweihte Moschee von Wünsdorf. Quelle: Wikipedia Commons.

 

Die „Deutsche Dschihad-Strategie“ als Fehlschlag

Doch allen Bemühungen zum Trotz ließen sich nicht viele muslimische Kriegsgefangenen auf die Avancen der Deutschen ein. Nur etwa 1.800 der 16.000 Gefangenen desertierten. Ebenso brachen keine Aufstände in den muslimischen Gebieten der Kolonialgebiete Frankreichs, Großbritanniens und Russlands aus, obwohl mit dem osmanischen Kalifen das Oberhaupt der sunnitischen Muslime dazu aufrief. Vielmehr kämpften Hunderttausende Soldaten aus diesen Gebieten an der Seite der Alliierten. Das Ziel der Achsenmächte, die islamische Weltreligion zu eigenen Machtzwecken zu instrumentalisieren, scheiterte kläglich. Mit dem Ausgang des I. Weltkrieges landete die „Deutsche Dschihad-Strategie“ in der Schublade, wurde aber nicht entsorgt. Die Nationalsozialisten sollten diese unter anderen Vorzeichen später wiederbeleben.

 

Teil II der Reihe „Der bewaffnete Dschihad als Instrument imperialer Machtpolitik" folgt in Kürze.

 

 

Quellen und weitere Informationen:

Weiss, Volker: Der deutsche Dschihad, Die Zeit

Tieke, Julia: Das Deutsche Kaiserreich und der Dschihad, Deutschlandradio Kultur

ZDF-Dokumentationsserie „Der Heilige Krieg”, “Dschihad für den Kaiser”.

 

Eine leicht veränderte Version dieses Artikels erschien zunächst auf www.derorient.com.