Die deutsche Israelpolitik ist geprägt vom Vermächtnis des Holocaust. Die Regierung leitet hieraus eine „Friedenspolitik“ der historischen Verantwortung ab. Diese ist jedoch nur dann glaubwürdig, wenn sie sich nicht nur gegen die Besatzung der palästinensischen Gebiete, sondern auch die Diskriminierung und Ausgrenzung ethnischer Minderheiten in Israel ausspricht. Von Nancy Waterstraat
Laut Shimon Stein, israelischem Botschafter in Deutschland von 2001 bis 2007, verbleibt der Holocaust eine schwarze Wolke über den Beziehungen der beiden Länder, ohne Aussicht auf Änderung.i Am 12. Mai 1965 nahmen die Bundesrepublik Deutschland und Israel vollständige diplomatische Beziehungen auf. Dieses Jahr begehen die Vertreter beider Staaten das 50. Jubiläum dieser Partnerschaft, die von Anfang an als „einzigartig“ hervorgehoben wurde. Die deutsche Staatsräson verweist dabei direkt auf die historische Verantwortung Deutschlands, indem Israels Sicherheit ausdrücklich als „Grundpfeiler der deutschen Außenpolitik“ festgelegt ist. Dadurch wurde Deutschland zum „drittwichtigsten [Handels]partner nach China und den USA“, Lieferant von Verteidigungsequipment, Fürsprecher und Partner in Austauschprogrammen.
Das Hauptstreitthema beider Länder ist Israels Besetzung der palästinensischen Gebiete, verbunden mit der Besiedlung des Westjordanlandes und Ostjerusalems sowie der Blockade des Gazastreifens. Die öffentliche Meinung in Deutschland gegenüber Israels Militärbesetzung und illegaler Siedlungspolitik wird zunehmend kritischer. Trotzdem wiederholen deutsche Politiker das Mantra einer Zwei-Staaten-Lösung mit einem jüdischen Staat Israel und einem palästinensischen Staat. Die lautstarke deutsche Verbundenheit zur Zwei-Staaten-Lösung gipfelte in der Bezeichnung „Friedenspolitik“ für die deutsche Nahost-Politik. Die arabische Bevölkerung Israels spielt dabei allerdings kaum eine Rolle. Diese Auslassung ist ein großer Makel der sogenannten Friedenspolitik und widerspricht der deutschen Verpflichtung gegenüber Israels Sicherheit und Stabilität.
Deutsche Politiker bejubeln Israel gern als offen, pluralistisch und multi-ethnisch. Trotz der anhaltenden Besatzung der Palästinensischen Gebiete und der Diskriminierung der arabischen Bevölkerung in Israel ist Bundeskanzlerin Merkel überzeugt: „Israel ist eine Demokratie und in einer Demokratie haben natürlich auch die Minderheiten die Rechte, die notwendig sind. Und deshalb geht es um ein gedeihliches Miteinander der palästinensischen Minderheit und der jüdischen Mehrheit. Und das sind allgemeine Prinzipien des Umgangs mit Minderheiten, die auch in Israel gelten.“ Fakt ist aber, das Israels Verstöße gegen internationale Konventionen im Staat selber beginnen.
Wirklichkeit von Diskriminierung und Ausgrenzung
Berichte aus der Zivilgesellschaft zur Situation der arabischen Israelis widerlegen Merkels Einschätzung. In einer liberalen Demokratie erfreuen sich alle Bürger der Gleichheit vor dem Gesetz mit gleichen Rechten und Pflichten. Laut Auswärtigem Amt sind 20 Prozent der israelischen Bevölkerung, also etwa 1,4 Millionen Menschen, nicht jüdischen Glaubens, also Muslime, Christen oder Drusen. Juden, vor allem solche europäischer Abstammung, genießen diesen 20 Prozent gegenüber eine privilegierte Stellung in Israels Gesellschaft. Diese Position wird vom Staat gerechtfertigt, geschützt und befördert.
Israels „Grundgesetze“ bieten zwar die Basis für den Schutz einiger grundlegender Rechte, Minderheitenrechte sind darin aber nicht verankert. Tatsächlich haben die Grundgesetze die ausdrückliche Aufgabe, Israels jüdischen und demokratischen Charakter zu konsolidieren. Das Fehlen eines geeigneten Diskussionsforums für solche grundlegenden Fragen in einer multi-ethnischen und -kulturellen Gesellschaft verstärkt die Ausgrenzung der Minderheiten in Israel. So ist zum Beispiel die Beteiligung der Zivilgesellschaft in der Verfassungsbildung stark eingeschränkt und Versuche, eine Verfassung zu entwerfen, bleiben höchst undemokratisch und elitär.
2014 machte der Fall des Journalisten Majd Kayyal als ein Paradebeispiel für die unterschiedliche Behandlung von arabischen und jüdischen Israelis Schlagzeilen. Kayyal wurde nach seiner Rückkehr aus dem Libanon festgenommen und hatte lange keine Möglichkeit, einen Anwalt zu kontaktieren. Obwohl er selbst kein Geheimnis aus seinem Besuch in dem von Israel als feindlich klassifiziertem Land gemacht hatte, wurde die Berichterstattung über seinen Fall in Israel verboten. Paradoxerweise haben jüdisch-israelische Journalisten keine Probleme bei der Wiederkehr aus Feindstaaten wie Libanon und Syrien. Itai Anghel erzählte der israelischen Tageszeitung Haaretz, dass „zu keiner Zeit irgendein Offizieller gekommen wäre, um ein Problem“ mit seinen Reisen in Feindstaaten anzuprangern.
Allen Bemühungen von Nichtregierungsorganisationen wie Mossawa, dem Zentrum für die Interessenvertretung arabischer Israelis zum Trotz, werden diese im politischen Alltag national und auch international oft missachtet, was ihre Benachteiligung befördert. Adalah, das juristische Zentrum für Minderheitsrechte arabischer Israelis, gibt an, dass mehr als 50 von der Knesset verabschiedeten Gesetze direkt oder indirekt diskriminierend sind. Auch sind die arabisch-stämmigen Israelis von den Friedensverhandlungen ausgeschlossen, während ihre Lage eine Zwei-Staaten-Lösung noch komplizierter macht.ii
Zusätzlich zur politischen Ausgrenzung mangelt es stark an Investitionen in Infrastruktur, Arbeitsmarkt, Bildung und Entwicklung in den arabischen Kommunen. Laut Mossawas Budgetanalyse von 2013 vergibt die israelische Regierung nur etwa sechs Prozent des Haushalts an die arabische Minderheit zur Deckung der Bedürfnisse von 20 Prozent der Bevölkerung. Zur Zeit teilt das Kulturministerium zudem weniger als vier Prozent seines Budgets arabischen Kulturorganisationen zu.iii Anfang 2014 stimmte die Knesset zudem Änderungen bei der Einbeziehung von Städten und Dörfern in das staatliche Aufbauprojekt zu – sogenannte nationale Prioritätsbereiche. Dadurch können auch jüdische Siedlungen im Westjordanland gefördert werden, obwohl sie nach internationalem Recht illegal sind. Gleichzeitig verweigern die zuständigen Behörden arabischen Dörfern in Israel Zuschüsse, trotz dem diese die vorgeschriebenen Kriterien erfüllen.
Die Diskriminierung im Bereich der Investitionen vergrößert die Ungleichheit zwischen jüdischen und arabischen Bürgern Israels. Aufgrund von Diskriminierung durch private und öffentliche Arbeitgeber sind 30 Prozent der Arbeitslosen in Israel Araber. Heute lebt zudem mehr als die Hälfte der arabischsprachigen Bevölkerung Israels unterhalb der Armutsgrenze. Im Durchschnitt verdienen jüdische Israelis mehr als arabische Bürger, europäischstämmige Ashkenazim gar bis zu 75 Prozent mehr.iv Die durchschnittliche Schule für arabische Kinder bekommt weniger Fördermittel als eine Schule, die von jüdischen Kindern besucht wird. Außerdem werden Orte in arabisch dominierten Gebieten bei der Ansiedlung zukunftsträchtiger Industriezweige nicht berücksichtigt. Fehlende Anbindung arabischer Ortschaften an das öffentliche Verkehrsnetz und mangelnde Instandhaltung existierender Infrastruktur schädigen außerdem den sozioökonomischen Status der betroffenen Bevölkerungsschichten.
Friedenspolitik – aufgegriffen und überarbeitet
Im Hinblick auf diese Situation muss sich Deutschland nicht nur zum Existenzrecht und zur Sicherheit Israels bekennen, sondern auch zum Schutz aller verfolgten Minderheiten, einschließlich der arabischstämmigen Bevölkerung Israels. So eröffnet zum Beispiel Gershom Gorenberg, dass die Besetzung der palästinensischen Gebiete Israels Demokratie untergräbt.v Die dauerhafte und weit verbreitete Diskriminierung der eigenen Bürger ist daher auch verhängnisvoll für den Anspruch, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein. Und deshalb reicht es nicht aus, die Besiedlung der palästinensischen Gebiete zu beanstanden und dazu aufzurufen, die Menschenrechte in den besetzten Gebieten zu schützen.
Während internationales Recht bereits deutlich zum Schutz nationaler Minderheiten aufruft, ist das deutsche Grundgesetz noch eindeutiger in seiner Forderung, Menschenrechte zum Kennzeichen deutscher Außenpolitik zu machen. Artikel 3 des Grundgesetzes zum Beispiel verbietet die Diskriminierung aufgrund von Herkunft, Sprache oder Religion. Weiterhin bekennt sich Deutschland dazu, unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft zu fördern. In ihrem zehnten Bericht zur Menschenrechtspolitik versichert demnach die Bundesregierung, dass sie sich aktiv gegen jede Form der „religiös oder ethnisch motivierte[n] Verfolgung oder Benachteiligung“ stellt. Damit stehen das Grundgesetz und die offiziellen Handlungsparameter unter dem Schirm der UN-Erklärung zur Abschaffung aller Formen von rassischer Diskriminierung. Bislang werden Verstöße gegen das Völkerrecht innerhalb Israels in Deutschland aber kaum thematisiert und das Auswärtige Amt konzentriert sich allein auf die besetzten Gebiete.
Um den Kern der deutschen Politik zu erfüllen, muss die vom Holocaust ausgehende historische Pflicht daher weitläufiger interpretiert werden. Um wirklich „Friedenspolitik“ zu betreiben, müssen deutsche Politiker auch die Diskriminierung gegenüber Nicht-Juden innerhalb Israels beachten, nicht abstrakten Idealen huldigen. Auch um das Versprechen zu erfüllen, sich für einen „fairen Umgang mit den Konfliktparteien im Nahen Osten [einzusetzen]“, ist es nötig, den arabischen Israelis Mitsprache in Friedensverhandlungen zuzuerkennen und ihre Situation anzumahnen. Dieses Erfordernis folgt aus Deutschlands historischer Verantwortung nach dem Holocaust, Sinnbild der Gräueltaten gegen verschiedene Minderheiten, und des verfassungsrechtlichen Auftrags zur Wahrung der Menschenrechte.
i: Stein, Shimon, 2011. Israel, Deutschland und der Nahe Osten. Beziehungen zwischen Einzigartigkeit und Normalität. Berlin: Wallstein.
ii: Makdisi, Saree, 2010. Palestine Inside Out. New York, NY: Norton & company, Inc.
iii: Coalition Against Racism. Budget Analysis 2014
iv: Ashkenazim verdienen 42 Prozent mehr und Araber 34 Prozent weniger als der Durchschnitt der israelischen Beölkerung.
v: Gorenberg, Gershom, 2011. The Unmaking of Israel. New York, NY: Harper Collins.