Mit Anfang, Mitte Zwanzig sollte das Leben voller Möglichkeiten sein. Doch was, wenn Zukunftspläne plötzlich puren Überlebensstrategien weichen müssen? Coco Neumetzger porträtiert für Alsharq drei junge Syrer und wie deren Flucht aus der Heimat ihr Leben auf den Kopf gestellt hat. Ihre Träume haben sie jedoch nicht verloren. Teil I: Bashar in Amman.
Bashar ist 24 Jahre alt. Ein schmaler junger Mann mit hellbraunen Haaren und blauen Augen, der sich beim Lachen oft mit den Fingern durch die Frisur fährt. Ständig hat er sein Smartphone in der Hand, damit ihm keine Nachrichten, Posts und Videos aus der Heimat entgehen. Denn zu Hause in Syrien passiert ständig etwas. Dort herrscht seit 2011 ein Bürgerkrieg, dem mittlerweile wohl mehr als 200.000 Menschen (allein etwa 76.000 im Jahr 2014) zum Opfer gefallen sind. Über drei Millionen sind seither vor Bashar al-Assads Regierungstruppen, den oppositionellen Kämpfern oder vor dem selbst ernannten "Islamischen Staat", auf Arabisch Daesh, außer Landes geflohen. Bashar hat diese Flucht bereits hinter sich. Seit anderthalb Jahren lebt er mit seiner Mutter und seiner jüngsten Schwester in Jordaniens Hauptstadt Amman.
„Ich bin im Süden von Damaskus aufgewachsen und habe an der Universität von Damaskus Zahnmedizin studiert. Ich hatte ein ganz normales Leben. Was man halt so macht als junger Mann – ich habe studiert, im Sommer gejobbt, mit meinen Freunden Fußball gespielt.“
Bashars Vater ist bereits vor zehn Jahren an einer Krankheit gestorben. Seitdem kümmert sich die Mutter alleine um die Familie. Sie setzte große Hoffnungen in ihren jüngsten Sohn. Mit Zuversicht habe er in die Zukunft geblickt, sich auf all die Chancen gefreut, die ihm das Leben bieten würde.
Sein Bruder ist geflohen, Bashar bleibt. Er will sein Studium beenden
„Ich wollte mein Studium erfolgreich abschließen und dann meine eigene Praxis eröffnen. Ich hatte ein angenehmes Leben erwartet, fernab von irgendwelchen politischen Problemen.“
Doch wie für so viele Syrer derzeit sollte es auch für Bashar und seine Familie anders kommen. Im August 2011, fünf Monate nach den ersten Demonstrationen in Syrien, wird Bashar verhaftet. Er hatte zu laut über die Unterdrückung syrischer Bürger durch die regierende Baath-Partei nachgedacht. Das reichte wohl, um ihn einen Monat lang in ein Gefängnis von Damaskus zu stecken. Die Wärter foltern und demütigen ihn täglich. Die körperlichen Narben sind noch sichtbar und die psychischen werden spürbar, wenn er anfängt, über seine Vergangenheit zu sprechen. Sie markieren das Ende seines sorglosen Studentenlebens.
„Ich war so schockiert über all den Hass und die menschenverachtende Politik in meinem Land. Nachdem ich aus dem Gefängnis kam, habe ich an Demonstrationen gegen das Assad-Regime, die Ungerechtigkeit und unmenschliche Unterdrückung teilgenommen.“
Derweil wird das Leben in Damaskus gefährlicher. Anfang 2013 nehmen die Bombardements, Verhaftungen und Straßenkämpfe immer weiter zu. Der Strom fällt aus, es gibt keinen Treibstoff mehr, der Tod scheint allgegenwärtig zu sein. Bashars älterer Bruder ist bereits 2012 mit seiner Frau und der kleinen Tochter aus Syrien nach Jordanien geflohen. Bashar bleibt, er will sein Studium beenden. Er hat ja nur noch ein Jahr bis zum Abschluss. Mittlerweile braucht er jedoch Stunden, um an die Uni und wieder nach Hause zu kommen. Überall muss er militärische Kontrollpunkte passieren.
„Ich habe jeden Tag gedacht, es könnte der letzte Tag meines Lebens sein.“
Im Juli 2013 durchkämmt die Armee die Gegend nach Regimekritikern. Bashar ist nicht zu Hause, doch die Soldaten greifen einen seiner Freunde auf. Dieser ist seither spurlos verschwunden.
Bashar muss mit zweiundzwanzig Jahren zum ersten Mal in seinem Leben eine Entscheidung mit weit reichenden Konsequenzen fällen. Er beschließt, mit seiner Mutter und der jüngsten Schwester zu fliehen. Auch wenn es ihm sehr schwer fällt.
„Ich hatte mein ganzes Leben in Syrien verbracht. Als Flüchtling würde ich gar nichts mehr haben, keine Legalität, keine Wurzeln. Ich dachte, ich würde mich niemals in einem anderen Land einleben können, mit neuen Nachbarn, neuen Freunden. Ich hätte mir nie vorstellen können, meine eigene Geschichte, mein Studium aufzugeben. Doch tatsächlich ging es auf einmal nur noch darum, mein Leben und das meiner Familie zu retten.“
Es bleibt keine Zeit, sich persönlich von Verwandten und Freunden zu verabschieden. Mit dem Auto verlassen er, seine Mutter und die kleine Schwester am nächsten Tag, dem 10. Juli 2013, Damaskus. Ihr Ziel ist die libanesische Hauptstadt Beirut.
„Das letzte, was ich von Damaskus gesehen habe, war ein Himmel voller Rauch. Die Militärmaschinen haben wahllos Bomben abgeworfen. Der Blick aus der Distanz war schrecklich und gleichzeitig surreal, wie Szenen aus einem Action-Film. Aber leider war es kein Film, sondern die Realität. Wahrscheinlich hätte ich glücklich sein sollen, diesen Grabhügel zu verlassen. Aber ich war einfach nur traurig.“
Bashar schämt sich. "Ich hätte bleiben sollen"
Die Flucht ist gefährlich. Auf dem Weg in den Libanon muss die Familie durch unzählige Checkpoints fahren und viele Kontrollen über sich ergehen lassen. Von Beirut aus fliegen sie weiter nach Amman, ohne zu wissen, ob sie dort von den jordanischen Zollbeamten nicht direkt wieder zurück geschickt werden. Sie haben Glück: Als Familie dürfen sie nach Jordanien einreisen. Doch Bashar hat ein schlechtes Gewissen. Er schämt sich vor seinen Freunden, die nicht wie er die Möglichkeit hatten, aus Syrien zu entkommen.
„Ich hätte in einem von der Freien Syrischen Armee kontrollierten Gebiete bleiben und irgendwie helfen sollen, vielleicht als Rettungsfahrer oder sogar als Zahnarzt. Es wäre meine Pflicht gewesen, zu bleiben und für unsere Rechte zu kämpfen. Doch ich bin geflohen.“
Könnte er die Zeit zurückdrehen, Bashar wäre in Damaskus geblieben. Nun erlebt er den Bürgerkrieg und das Leid seiner Landsleute aus der Ferne, über sein Smartphone. Er diskutiert über das Vorgehen der Regierungstruppen und der Freien Syrischen Armee und zeigt jedem die immer neuen Gräuelbilder und Videos, die er von Freunden aus Syrien geschickt bekommt.
„Früher war ich ein Träumer und weniger verantwortungsbewusst als heute. Aber dafür war ich innerlich ruhig und friedlich. Heute kann ich nicht mehr ruhig sein, angesichts dieses Leids. Nichts in der Welt könnte meine Einstellung zur Revolution ändern. Wäre ich jetzt in Syrien, würde ich für Gerechtigkeit eintreten. Dann wäre ich wahrscheinlich auch wieder zufriedener mit mir selbst.“
In diesen Tagen empfindet Bashar selten Freude.
Ein Zwölf-Stunden-Job im Fitnessstudio: Von seinem Leben in Damaskus ist kaum etwas übrig
Am besten fühlt er sich, wenn er als Freiwilliger bei einer medizinischen oder humanitären Mission in den jordanischen Flüchtlingslagern mithelfen kann.
„Das macht mich glücklich. Dann denke ich, dass ich wenigstens etwas tun kann.“
Viel Zeit bleibt ihm dafür allerdings nicht. In Amman jobbt er täglich zwölf Stunden in einem Fitnessstudio am Empfang. Von seinem früheren Leben ist seit der Flucht aus Damaskus nicht viel übrig geblieben. Das Zahnmedizinstudium in Jordanien zu beenden, kann sich Bashar nicht leisten. Auch so kommt er finanziell kaum über die Runden. Dazu fühlt er sich innerhalb der jordanischen Gesellschaft oft diskriminiert und sogar rassistischen Kommentaren ausgesetzt.
In seiner Familie kann er nicht mehr so viel Halt finden wie früher. Denn die lebt inzwischen weit verstreut. Ein Bruder hat in Deutschland Asyl bekommen und auch die ältere Schwester versucht gerade, mit ihrer Familie nach Europa zu gelangen, der Schwager ist bereits geflohen und will die anderen nachholen. Besonders die räumliche Distanz zu seinem Bruder schmerzt ihn. Der ist Künstler und versucht sich nun in Deutschland ein neues Leben aufzubauen.
„Mein Bruder hat es richtig gemacht. Er hat es hier nicht mehr ausgehalten und alles dafür getan, seine Träume zu verwirklichen. Mittlerweile hat er in Deutschland sogar schon erste Erfolge mit seinen Bildern.“
Für Bashar gibt es nur noch Unterdrücker und Unschuldige
„Mein ganzes Leben hat sich verändert. Früher war ich einfach ein Student mit großen Träumen. Heute fühle ich mich nur noch wie ein Flüchtling ohne Rechte.“
Seine neue Selbstwahrnehmung prägt auch die Einstellung, die er mittlweile seinen Mitmenschen gegenüber hat: Er unterscheidet nur noch zwischen Unterdrückern und Unschuldigen. Von früheren Weggefährten, die mit dem Assad-Regime sympathisieren, hat er sich distanziert.
Auch seine Persönlichkeit habe sich durch die Flucht und die neuen Lebensumstände gewandelt. Er sei hilfsbereiter, verantwortungsvoller und selbstständiger geworden und habe mehr Verständnis für Arme und Schwache entwickeln können, sagt er. Doch die Schere zwischen Vergangenheit und Gegenwart macht Bashar offensichtlich zu schaffen. Er sieht gehetzt aus, ist blass und müde.
„Ich dachte, ich könnte nach zwei oder drei Monaten wieder nach Hause zurückkehren. Mittlerweile sind es schon anderthalb Jahre. Doch die Zeit kann das Leid, das wir erduldet haben, nicht lindern. Jeder Märtyrer, von dem ich höre, jeder neue Schicksalsschlag, der daheim passiert, versetzt mir einen Stich. Die Albträume jagen mich. Ich träume immer wieder, dass ich in Gefangenschaft bin und die mich schlagen, bis ich wieder aufwache.“
"Ich würde mich schämen, wenn ich die Hoffnung verlieren würde"
Bashar bezeichnet sich selbst als sehr ehrgeizig. Deshalb nagt es besonders an ihm, dass er nicht fertig studieren kann. Das Studium, das sei der Mittelpunkt seines Lebens gewesen. Doch er wird nicht müde zu beteuern, dass er für sich und seine Zukunft weiterkämpfen werde. Die Hoffnung auf ein besseres Leben gebe ihm Energie und Selbstbewusstsein. Im Vergleich zu all dem, was er bereits durchgemacht hätte, kämen ihm die heutigen Herausforderungen klein vor.
„Meine Wunschträume bleiben dieselben: Ich möchte mein Studium beenden und nach Hause zurückzukehren. Der Tag, an dem ich aufhöre zu träumen, ist der Tag, an dem ich sterbe.“
Die Tatsache, dass in Syrien nach wie vor Landsleute um ihr Überleben kämpfen und sich gegen das Regime auflehnen, treibt Bashar weiter an. „Ich würde mich schämen, wenn ich die Hoffnung verlieren würde, während es vielen meiner Landsleute doch viel schlechter geht als mir und meiner Familie.“
Auch gegenüber der freiwilligen Helfer sieht sich Bashar in der Pflicht. Er ist dankbar für den emotionalen Beistand, die medizinische und materielle Hilfe, die Menschen aus anderen Ländern leisten, um den syrischen Flüchtlingen zu helfen. Diese Mitmenschlichkeit, die er auch persönlich erlebt, motiviert ihn.
„Wie kann ich aufhören zu hoffen, während sich immer wieder andere Menschen für mich und mein Land einsetzen?“
Das Leben gehe schließlich weiter und auch er müsse weiter sein Bestes geben und seinen Beitrag für eine bessere Zukunft leisten.
„Das ist wie das bekannte Licht am Ende des Tunnels. Selbst wenn du es noch nicht sehen kannst, du weißt es ist da. Du wirst nicht aufhören zu gehen, bis du es erreicht hast.“