16.03.2015
Versuch einer Revolte
Straßenbild in Mea Shearim, einem ultraorthodoxen Viertel in Jerusalem. Foto: Alexandre Baron (CC BY-NC-SA 2.0)
Straßenbild in Mea Shearim, einem ultraorthodoxen Viertel in Jerusalem. Foto: Alexandre Baron (CC BY-NC-SA 2.0)

Die Wahl könnte wichtige Weichen für Israels Ultraorthodoxe stellen. In der Mehrheitsgesellschaft wächst Widerstand gegen die Privilegien der Strenggläubigen. Womöglich kommt jedoch der stärkste Antrieb für Wandel aus der Gemeinde selbst. Von Mareike Enghusen

 Tobias Pietsch

Ihre Gegner nennen sie „Schlampe“, „unzüchtig“, „vom rechten Weg abgekommen“. Während Ruth Colian, 33, von den Anfeindungen erzählt, die sie ertragen muss, steht sie vor einer Gruppe von Journalisten; in ihrem dunklen Jackett und der hochgeschlossenen weißen Bluse sieht sie alles andere als „unzüchtig“ aus. Doch Colian, eine ultraorthodoxe Jüdin, hat etwas getan, was sie für viele in ihrer konservativen Glaubensgemeinde zum Schandfleck macht: Sie hat eine eigene Partei gegründet, Bes-chutan, zu Deutsch „dank ihnen“, die erste Partei für ultraorthodoxe Frauen in Israels Geschichte.

Als Newcomer-Politikerin ist Colian zur öffentlichen Person geworden – eine Rolle, die in ihrer eigenen strenggläubigen Gemeinde nur Männern erlaubt ist. Unter den Ultraorthodoxen, auf Hebräisch Haredim genannt, gelten schon Abbildungen von Frauen als unzüchtig. Eine ultraorthodoxe Zeitung radierte kürzlich Angela Merkel aus einem Foto von einer Gruppe von Staatschefs heraus.

„Ultraorthodoxe Frauen sind der Bodensatz der Gesellschaft!“

Ruth Colian dagegen will den Haredi-Frauen ein Gesicht geben – und eine politische Stimme. Zwar sitzen im aktuellen Parlament schon zwei Haredi-Parteien, Schas und „Vereinigtes Torah-Judentum“, und in diesem Wahlkampf hat sich ein prominenter Schas-Politiker abgespalten und seine eigene Partei gegründet, Jachad, „Zusammen“. Doch alle drei Parteien haben eins gemeinsam: Sie erlauben keine Frauen auf ihren Listen. Ihre männlichen Abgeordneten jedoch, klagt Ruth Colian, ignorierten die Probleme der weiblichen Wähler. Und diese Probleme sind, sofern man Colian Glauben schenkt, ernst und zahlreich: Sie erzählt von Frauen, die von ihren Männern unterdrückt, von ihren Arbeitgebern ausgebeutet und von rabbinischen Gerichten nicht ernstgenommen werden. Die deprimierende Aufzählung schließt sie mit den Worten: „Ich habe meine Partei gegründet wegen all der traurigen Geschichten, die ich gehört habe.“

Ändern sich die Frauen, ändert sich auch die Gemeinschaft

Ruth Colian ist die lauteste Kämpferin für ultraorthodoxe Frauen, aber nicht die einzige. Eine ganz andere, kleinere und leisere Rebellion wagte Adina Bar-Schalom, 70. Als älteste Tochter des Rabbiners Ovadia Yosef, dem spirituellen Anführer der ultraorthodoxen Schas-Partei, und Gründerin eines Haredi-Colleges genießt sie hohes Ansehen in der ultraorthodoxen Community und darüber hinaus. Vor wenigen Monaten versuchten mehrere nicht-orthodoxe Parteien, sie als Kandidatin für einen sicheren Listenplatz zu gewinnen; und tatsächlich spielte Bar-Schalom öffentlich mit dem Gedanken, eines der Angebote anzunehmen, bevor sie sich schließlich dem Druck der Haredim beugte. Mit dem Vorsitzenden der Schas-Partei fand sie einen Kompromiss: die Gründung eines „Frauenrats“ für die Partei. Aus europäischer Sicht mag es eine mickrige Errungenschaft sein. Andererseits: Bisher hatte keine der Haredim-Parteien einen solchen „Frauenrat“.

Und vielleicht haben gerade solche kleinen, vorsichtigen Schritte die Kraft, einen tiefer greifenden Wandel anzustoßen. Schließlich bilden die Frauen das Rückgrat der Haredi-Familien: Sie kümmern sich um Haushalt und Erziehung der meist vielköpfigen Kinderschar und gehen oft dazu noch arbeiten. Sollte es Frauen wie Ruth Colian und Adina Bar-Schalom gelingen, die Rolle der ultraorthodoxen Frauen zu verändern, dann werden sie damit zwangsläufig die Haredi-Gemeinde an sich verändern. Und in welche Richtung sich die Haredim entwickeln, ist eine Frage, die für die gesamtisraelische Gesellschaft in den kommenden Jahren und Jahrzehnten an Brisanz gewinnen wird.

Dank ihrer hohen Geburtenraten wächst der Anteil der Haredim an der Bevölkerung rasant. Die Subventionen und Privilegien, die sie bislang genießen, werden sich auf Dauer kaum halten lassen können. Bereits seit Jahren regt sich Widerstand gegen die Befreiung der Haredim vom Militärdienst. Die Regelung, beschlossen von Israels erstem Premierminister David Ben Gurion, betraf ursprünglich nur ein paar Hundert Männer - eine marginale Gruppe. Ganz anders heute: 750 000 Israelis leben ultraorthodox. Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation Hiddusch, die sich für religiösen Pluralismus einsetzt, dienen nur elf Prozent der Haredi-Männer in der Armee.

Alle anderen jüdischen Israelis dagegen werden eingezogen: die Frauen für zwei, die Männer für drei Jahre. Eine wachsende Zahl von ihnen empfindet das als ungerecht. 2012 demonstrierten Tausende in Tel Aviv dafür, die Wehrpflicht auf die Haredim auszuweiten. Yair Lapid, Gründer der Partei Yesch Atid („Es gibt eine Zukunft”), zog 2013 mit dem Slogan „die gleiche Bürde für alle” in seinen ersten Wahlkampf – eine Botschaft, die Anklang fand: Yesch Atid erzielte aus dem Stand 19 Sitze und war damit plötzlich zweitgrößte Partei. Unter ihrem Einfluss beschloss die Knesset ein Gesetz, das den Anteil der ultraorthodoxen Wehrpflichtigen schrittweise erhöhen soll. Von der „gleichen Bürde”, die Lapid versprochen hatte, kann jedoch noch keine Rede sein: Das Gesetz peilt 3200 ultraorthodoxe Wehrpflichtige für 2016 an – und sieht zugleich die automatische Befreiung für Zehntausende weitere vor.

Der Status Quo ist nicht haltbar

Die Gleichbehandlung beim Wehrdienst mag für viele jüdische Israelis eine Frage der Gerechtigkeit sein. Doch drängender noch ist die Integration der Haredim in den Arbeitsmarkt. In keinem OECD-Land hängt ein so hoher Bevölkerungsanteil von staatlicher Fürsorge ab wie in Israel: 62 Prozent waren es 2011, dem letzten Jahr, für das Zahlen vorliegen. Das liegt auch an den Sonderregelungen für Haredim. Laut Angaben von Hiddusch gehen nur 40 Prozent von ihnen einer bezahlten Arbeit nach - und den weitaus größten Anteil tragen die Frauen. Die Männer dagegen widmen den Großteil ihrer Zeit dem Tora-und-Talmud-Studium und erhalten dafür bescheidene Finanzhilfen vom Staat. Selbst diejenigen von ihnen, die nebenbei arbeiten wollen, können sich nur begrenzt in den Arbeitsmarkt einbringen, weil es ihnen schlicht an formaler Bildung fehlt: Wie das israelische Zentralbüro für Statistik 2011 in einer Studie feststellte, wird an nur 40 Prozent aller ultraorthodoxen Schulen Englisch und Mathematik gelehrt.

Auf Dauer ist der Status quo nicht haltbar. Das Statistikbüro schätzt, dass der Bevölkerungsanteil der Haredim von heute zehn Prozent bis zum Jahr 2059 auf 23 bis 40 Prozent steigen wird. Durchläuft die Haredi-Community keinen fundamentalen Wandel, wird ein immer kleinerer Bevölkerungsanteil die Lasten einer immer größeren Gruppe tragen müssen. Eine Bedrohung für den sozialen Frieden und die ökonomische Stabilität.

Was bringen die Wahlen für die Haredim?

Die auslaufende Koalition war die erste seit Langem, die ohne die Unterstützung der Haredi-Parteien auskam – nur deshalb konnte das Gesetz zur Wehrpflicht überhaupt beschlossen werden. Sollte der rechte Likud unter Benjamin Netanjahu am 17. März erneut zur stärksten Partei gewählt werden und eine rechte Koalition anstreben, wird er vermutlich zumindest zwei ultraorthodoxe Parteien mit ins Boot holen müssen. Die jedoch werden sich ihre Unterstützung etwas kosten lassen – und der Preis könnte sein, die Haredim-Gesetze aus der letzten Legislaturperiode zurückzunehmen. Ganz sicher werden Schas und „Vereinigtes Torah-Judentum“ keinerlei Gesetze mittragen, die ihre Wähler zwingen, ihre Traditionen und Privilegien aufzugeben.

Alternativ wäre eine Art erweiterte große Koalition zwischen Likud und dem Mitte-Links-Bündnis „Zionistisches Zentrum“ denkbar. Eine solche Koalition bräuchte die Haredi-Parteien nicht zwingend, könnte also weitere Maßnahmen zugunsten der Integration der Haredim beschließen. Dafür müsste eine solche Koalition bereit sein, heftige Proteste der Betroffenen in Kauf zu nehmen – Proteste, die, wie die Vergangenheit gezeigt hat, in Gewalt ausarten können. Doch Schritte, die die Strenggläubigen zum Wandel zwingen, werden immer schmerzhaft sein – und je länger die Mehrheitsgesellschaft damit wartet, desto teurer werden sie. Dafür sorgt die demografische Entwicklung, die langsam, aber sicher die numerischen Machtverhältnisse zugunsten der Ultraorthodoxen verschiebt.

Doch vielleicht wird es am Ende gar nicht in erster Linie äußerer Zwang sein, der die Haredim zum Wandel treibt. Vielleicht kommen die stärksten Kräfte von innen – in Gestalt wütender, entschlossener Frauen wie Ruth Colian. Wie groß ihre Chance ist, ins Parlament einzuziehen, lässt sich schwer abschätzen, weil ihre Partei noch nicht in die Umfragen eingeschlossen wurde. Colian selbst hofft auf fünf bis sieben Sitze. Doch selbst ein enttäuschendes Wahlergebnis würde sie wohl kaum ausbremsen. „Das hier ist nicht mehr nur mein Kampf“, sagt sie. „Gebe ich auf, dann trage ich zur weiteren Unterdrückung der Frauen bei. Und das werde ich nicht erlauben.“

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