16.01.2015
Berichterstattung über Charlie Hebdo: Islam, Gewalt und das Problem der Kontextualisierung
"Reflections": Blurred lines oder neue Formen? Foto: Kevin Dooley (CC BY 2.0 DE)
"Reflections": Blurred lines oder neue Formen? Foto: Kevin Dooley (CC BY 2.0 DE)

Auch nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo diskutieren Politiker, Journalisten und Experten: Kommt die Gewalt nun aus dem Islam, oder ist er eine Religion des Friedens? Aber statt solch oberflächliche Debatten zu führen, wäre es gewinnbringender, die Formen öffentlicher Kommunikation genauer zu betrachten. Von Nils Riecken

Wieder einmal steht das Verhältnis zwischen Islam und Gewalt zur öffentlichen Debatte. Die furchtbaren Ereignisse von Paris haben zu einer Fülle an Deutungsversuchen jener Beziehung geführt. Dabei geht es stets darum, welche Rolle „dem Islam“ in der Erklärung dieser Gewaltereignisse zukommen soll. In der Regel sind zwei scheinbar entgegengesetzte Erklärungsansätze erkennbar: Auf der einen Seite wird eine Verbindung zwischen Islam und Gewalt abgestritten, auf der anderen wird eine solche vehement behauptet. Beide Erklärungsansätze sind daher in mehrfacher Hinsicht problematisch: Sie arbeiten mit einem bestimmten, statischen Verständnis von Begriffen wie Islam, Religion und Gewalt sowie einer zu einfachen Form historischer Kontextualisierung, die ich im Folgenden genauer beleuchten möchte. Es geht mir dabei darum, über die Form öffentlicher Kommunikation nachzudenken; sie prägt, wie wir über Inhalte diskutieren, also auch über den Islam und Gewalt und damit den Zusammenhang zwischen Begriffen, Traditionen und menschlichem Handeln. So wird es möglich, Begriffen wie dem der „Lügenpresse“ entgegenzutreten, weil eine Diskussion über die Methode öffentlicher Argumentationen die analytische Frage nach der Vernunft unserer Mediendebatten stellt.

Was charakterisiert die beiden Erklärungsansätze? Die einen, etwa Religionsvertreter, der amerikanische Präsident Barack Obama und der deutsche Innenminister Thomas de Maizière erklären, dass der Islam nichts mit Terror oder Islamismus zu tun habe. Auf der anderen Seite stehen die selbsterklärten „Islamkritiker“ und bringen den Islam mehr oder weniger direkt mit Gewalt in Verbindung: Pegida, die vor der „Islamisierung des Abendlandes warnen“, Ayaan Hirsi Ali, die uns einschärft, das Massaker von Paris habe mit dem Islam zu tun oder Hans Olaf Henkel, der behauptet, der Islam kenne keine Aufklärung, habe die Entwicklung der Menschenrechte und Gleichberechtigung der Frau nicht mitgemacht. Die Vertreter dieser Richtung sehen mehr oder weniger explizit im Islam selbst ein Gewaltproblem angelegt, oder sie betonen, dass dieser es im Unterschied zu anderen Religionen – das Christentum firmiert dann gerne als positives Vorbild – eben nicht in den Griff bekommen habe. Zumindest, so der AfD-Sprecher und frühere FAZ- und Welt-Journalist Konrad Adam, brauche es noch viel Zeit, bis der Islam sein Problem mit der Gewalt bewältigen könne, da er keine Trennung zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt kenne.

Beide Sichtweisen eint mehr, als ihnen lieb sein kann

Obwohl beide Sichtweisen auf das Verhältnis von Islam und Gewalt sich scheinbar gegenseitig ausschließen, eint sie mehr, als beiden Seiten lieb sein kann. Für beide scheint, erstens, ziemlich klar, was der Islam „ist“ oder eben „nicht ist“: Einmal steht er für Frieden und Toleranz, das andere Mal notwendig für Gewalt. Im diesem Fall scheint von „den Muslimen“ quasi naturgesetzmäßig eine Gefahr auszugehen, weshalb sie nicht Teil des – so das verbreitete, identitätsstiftende und ausgrenzende Bild – demokratischen, freien, modernen, aufgeklärten, säkularen und friedliebenden Westens sein können. Doch beide Ansätze stellen spezifische Kausalbehauptungen auf, die eine Aussage über den Charakter des Islams mit dem Verhalten von Millionen von Menschen verknüpft.

Zweitens haben jene Aussagen zu Islam und Gewalt auf beiden Seiten eine normative Stoßrichtung. Es geht ihnen um eine Positionierung in einem politischen Feld, in dem die Staatsraison, die eigene nationale und religiöse Identität und die des „eigenen“ Landes auf dem Spiel stehen. Politiker und Religionsvertreter, die einen Zusammenhang von Islam und Terror verneinen, wollen gegen einen Generalverdacht gegen Muslime und islamophobe Sichtweisen angehen, wie sie etwa Vertreter von Pegida lautstark vertreten. Sie positionieren sich gegen ein bereits bestehendes Klima der Islamophobie, des Sündenbockdenkens und des Rassismus, indem sie die friedliche Seite des Islams hervorheben. Die „Islamkritiker“ sprechen ebenfalls eine normative Sprache, weil sie im Modus der politischen Identitätsstiftung Abgrenzungspolitik betreiben: das vermeintlich bedrohte Abendland gegen den bedrohlichen Islam, der eben nicht „dazugehört“.

Es ist natürlich legitim, in normativer Absicht zu sprechen – doch wenn beide Seiten sich, drittens, auf historische Beobachtungen („Fakten“) und soziologische Verallgemeinerungen („Statistiken“) beziehen, um ihren Appellen mehr Stoßkraft zu verleihen, nehmen Bürger, Politiker, Journalisten, Religionsvertreter oder Islamkritiker die Position von Historikern und Soziologen ein. Sie bewegen sich, ob sie wollen oder nicht, somit auf das Feld von Geschichts- und Gesellschaftswissenschaft. Die Frage ist dann: machen sie gute Geschichtswissenschaft und gute Soziologie? Um das zu beantworten, lohnt ein Blick auf ihre Methode.

„Historische Fakten“ und Koranzitate im Dienste der eigenen Meinungen

Beide Seiten benutzen „historische Fakten“ im Hinblick auf den Islam und Gewalt in häufig plakativer, stark verallgemeinernder und mythologisierender Weise, um die eigene Sichtweise zu untermauern. Koranzitate und das vermeintliche „Goldene Zeitalter“ eines von Toleranz geprägten Miteinanders von Muslimen, Christen und Juden im mittelalterlichen Andalus sollen beweisen, dass diese drei Religionen friedlich zusammenleben können. Andere Koranzitate, die Belagerung Wiens durch Truppen des Osmanischen Reichs, die Selbstmordanschläge in Israel, die Anschläge des 11. Septembers 2001 sowie die Anschläge von Madrid, London und jetzt Paris sollen indes das aggressive, gewalttätige Potential des Islams belegen. Ferner werden die Aufklärung, die Reformation und die Trennung von Staat und Kirche als mythologisierte Ereignisse und Lernprozesse „des Westens“ beziehungsweise „des Christentums“ und „des Judentums“ benutzt, um eine moderne und zivilisierte Welt „hier“ gegenüber einer mittelalterlichen, barbarischen Welt „dort“ in Stellung zu bringen.

Methodisch besehen ist daran besonders problematisch, dass Phänomene wie etwa „der Islam“, „der Westen“ oder „die Aufklärung“ als gewissermaßen zeit- und ortlos begriffen werden. Sie mögen irgendwann entstanden sein, aber werden in ihrem Kern als unwandelbar begriffen. So wie die Aussagen „Der Islam ist eine Religion des Friedens“ und „Der Islam will die Welteroberung“ verallgemeinernder Natur sind, generalisiert auch der Satz, der Westen stehe für Freiheit. In solchen Aussagen ist im Grunde nichts wirklich klar – weder, wer spricht, noch, wer handelt, noch wo, wann und weshalb sich das Ganze zuträgt. In einem solchen Denkrahmen verfügen Islam, der Westen und die Aufklärung unabhängig vom jeweiligen historischen Kontext über ganz bestimmte – gute oder schlechte – Qualitäten. So sollen sie uns vermeintlich direkt Auskunft darüber geben, wie Menschen, die diesen Einheiten zugerechnet werden, sich verhalten (können). Es sind also weit reichende Kausalitätsbehauptungen.

Islam, Westen, Aufklärung als Ideen-Container

Es ist wichtig, anzuerkennen, dass es sich dabei um eine – spezifische – Form der Geschichtsdarstellung handelt. Denn erst das eröffnet wirklich den Blick auf die zugrundeliegende Methode, das heißt die Form ihrer Geschichtsdarstellung. Was beide Perspektiven teilen, ist daher vor allem die Form, mit der sie historische Phänomene als Einheiten verstehen, voneinander abgrenzen und zueinander in Beziehung setzen.

Essentialisierende Perspektiven, also die Konstruktion von historischen und vielschichtigen Phänomenen wie etwa Islam, Westen und Religion als homogen, kohärent und von einem unwandelbaren Kern bestimmt, schaffen einen scheinbar klar und objektiv identifizierbaren Ideen-Container: Islam, Westen, Aufklärung werden so gegeneinander in Stellung gebracht, etwa zu einem „Kampf der Zivilisationen“. Alle Bewertungen des Islams – ob negativ oder positiv – sind dann bereits durch diese Container-Sicht vorgeformt. Da dieser Rahmen nicht zur Debatte gestellt wird, prägt er alle Antworten mit. Der Rahmen selbst wird in diesem Moment als überhistorisch und zugleich historisch wirkmächtig behandelt.

Das blendet systematisch komplexere sozio-kulturell-politische Konstellationen aus, die nicht unbedingt diesen essentialistischen Grenzziehungen folgen. Ist Armut oder Monotheismus ein Faktor für die Entstehung von Gewalt? Welche Rolle spielen Erfahrungen von Unterdrückung und Ausschließung? Bringt Gewalt wiederum Gewalt hervor? Wie sind Religionen im 20. Jahrhundert in politische Ideologien übersetzt worden, die in anderer Weise Gewalt legitimieren? Inwieweit bezieht sich der Islamismus auf Motive sowohl aus der religiösen Tradition des Islams als auch aus modernen politischen Ideologien oder etwa dem Antikolonialismus? Bestehen überhaupt die vermuteten direkten Kausalitätsbeziehungen zwischen Islam und menschlichem Handeln? Gibt es aus historischer Perspektive demnach eine Kontinuität des „Islams“ seit 1400 Jahren, wie ihn muslimische Theologen und nicht-muslimische Orientalisten gleichermaßen behaupten, die einen aus gläubiger Perspektive, die anderen aus nicht-gläubiger? Gibt es überhaupt „den“ Westen als ein homogenes Ganzes jenseits von Auseinandersetzungen um Identitätsstiftung durch Mythenbildung und Abgrenzung?

In einem essentialistischen Bild des Verhältnisses von Islam und Gewalt lassen sich solche Fragen gar nicht erst stellen. Die Antworten stehen hier schon fest: Entweder steht ein Gleichheitszeichen oder ein Ungleichheitszeichen zwischen beiden Begriffen. Diese werden zudem nicht selbst als angenommene Einheiten hinterfragt.

Nicht Fakten sind das Gegenmittel, sondern die Form

Mein Argument richtet sich nicht gegen normative, bewusst kontinuitätsstiftende Aussagen an sich, sondern die Art und Weise, wie Debatten normative und deskriptiv-analytische Dimensionen mischen, ohne die Frage ihrer Unterscheidung und damit Fragen der Form überhaupt zu thematisieren. Der bekannte Appell an Journalisten „Fakten, Fakten, Fakten!“ ist allein hier kein probates Gegenmittel, sondern vielmehr die Reflexion der Form, in der vermeintliche Fakten dargestellt werden, was wiederrum beeinflusst, wie wir also Fakten als Fakten behandeln.

Der Soziologe Niklas Luhmann kann hier aus meiner Sicht weiterhelfen. Er hat argumentiert, dass die ganze Schwierigkeit für ein angemessen komplexes Verständnis gesellschaftlicher Kommunikation in der Kopula „ist“ liegt, also einer bestimmten Verbindung von Subjekt und Prädikat. Denn diese erwecke schon auf der Ebene der sprachlichen Äußerung den Eindruck, dass die Phänomene einfach so existierten und es keine Rolle spielt, wer diese Phänomene von wo aus wann beobachtet. Sätze wie „Der Islam ist friedliebend“ und „Der Islam ist gewalttätig“ erscheinen dann als absolut, ortlos und zeitlos. Luhmann ging es mit seiner Kritik nicht um einen leeren Perspektivismus, der lediglich alle Perspektiven nebeneinander stellt. Vielmehr plädierte er für eine soziologische Reflexion der Kommunikationsformen, die konsequent danach fragt, wer Realität von wo aus beobachtet und wie jede einzelne Beobachtung Teil von übergreifenden gesellschaftlichen Kommunikationsformen ist.

Aus dieser Perspektive lassen sich Aussagen wie „Der Islam ist…“ stets danach befragen, wer hier spricht, von wo aus und mit welchen Argumentations-Formen. Fragen des Inhalts sind dann methodisch an die Frage nach der Form gebunden. Anders gesagt: Behandelt jemand – Bürger, Politiker, Wissenschaftler, Gläubige, Nicht-Gläubige – Begriffe wie Islam, Westen oder Aufklärung als zeitlose Container-Einheiten, die durch einen Kern – etwa Gewalt oder Frieden – bestimmt sind, oder nicht? Spricht jemand als Wissenschaftler, als gläubiger Mensch oder als „besorgter“ Bürger? Sprechen diese über Begriffe wie Islam in normativer oder in analytischer Absicht? Geht es um ein- und ausschließende Identitätspolitik oder um ein (selbst)kritisches Bemühen, ein Thema besser zu verstehen, jenseits von klar gesetzten politischen Abgrenzungen?

Auf die Ereignisse von Paris gewendet: Werden diese allein in den beiden Rahmen „Islam“ und „Gewalt“ diskutiert, oder werden diese Container aufgebrochen und damit über diese Form der Kontextualisierung der Ereignisse hinaus nach Gründen für die Anschläge gefragt?

Die Frage nach der öffentlichen Vernunft ist entscheidend

Diese Aufmerksamkeit für die Form von Kommunikation eröffnet eine übergreifende analytische Perspektive auf ein politisiertes Diskussionsfeld jenseits der jeweiligen ideologischen Grenzen, die die Diskussionsteilnehmer in diesem Feld ziehen. Die Medien – und auch wir als Bürger – sollten die Frage nach der öffentlichen Vernunft und damit der Form unserer Diskussionen stellen, wenn wir ein komplexeres Bild gewinnen wollen von dem, was wir öffentlich inhaltlich diskutieren. Dazu wäre es aus meiner Sicht wichtig, die Reflexion der Form öffentlicher Diskussion nicht nur als Angelegenheit von Feuilletondebatten zu begreifen, sondern als notwendigen Teil der täglichen Berichterstattung. Diese Reflexion der Methode würde meines Erachtens ein effektives Instrument liefern, Vorwürfe über verzerrte Berichterstattung besser zu diskutieren. Denn dies würde den Raum für eine allgemeine Diskussion über Fragen der Wirklichkeitsdarstellung in den Medien und bei ihren Kritikern eröffnen.

Ein abschließendes Beispiel mag illustrieren, worin der Gewinn einer solchen Perspektive liegt. So entgegnet Bundestagspräsident Norbert Lammert auf Erklärungen, der Islam habe nichts mit Terrorismus zu tun, dass der Zusammenhang zwischen Islam und Islamismus ebenso offenkundig sei wie der zwischen „Kreuzzügen, Inquisition oder Hexenverbrennung und Christentum“.

Eine an Formen interessierte Berichterstattung könnte hier in einem ersten Schritt anmerken, dass er im Fall des Christentums nur mittelalterliche und frühneuzeitliche Beispiele nennt, während im Fall des Islams eine gewalttätige Gegenwart den Bezugspunkt darstellt. So bleibt ausgeblendet, dass Gewalt auch in unserer Gegenwart durch christliche Gruppen legitimiert wird. Das Christentum – und ein bestimmtes als deutsch definiertes „Wir“ – erscheint indes in der Gegenwart so, als ob es definitiv jene vormoderne Gewaltgeschichte überwunden habe. Gewalt wird außerdem allein als ein Problem von Religion dargestellt. Andere Quellen der Gewalt sind in Lammerts Bild nicht denkbar. Seine Form, historisch zu argumentieren, bleibt demnach eindimensional.

Doch greifen die Medien griffige Zitate wie das von Lammert nur zu gern auf, auch weil wir Leser unsere Aufmerksamkeit gerne von solchen Wortfetzen lenken lassen. Es kann also nicht um eine Politiker- oder Medienschelte gehen. Vielmehr sollten wir uns immer wieder die Frage stellen, welche Form öffentlicher Vernunft wir in unserer Kommunikation praktizieren wollen und wie viel Komplexität wir uns und anderen – damit sind alle gemeint: Politiker, Journalisten, Bürger – dabei zutrauen. Wer selbstbewusst die Aufklärungstradition in Anspruch nimmt, sollte sich einiges zutrauen dürfen.

 

 

Zum Weiterlesen: Luhmann (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M., Suhrkamp.

 

Nils Riecken, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Moderner Orient in Berlin. Dissertation an der FU Berlin über den marokkanischen Intellektuellen, Historiker und Schriftsteller Abdallah Laroui (*1933) mit dem Titel „Abdallah Laroui and the Location of History. An Intellectual Biography.“ Derzeit betreibt er ein Forschungsprojekt zum irakischen Journalisten Yunis Bahri (ca. 1901-1979) aus globalhistorischer Perspektive.

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