20.12.2014
Vier Jahre "Arabischer Frühling": Die Frage nach der Hoffnung
"Die erwachte Zivilgesellschaft ist das verkannte, oftmals unspektakuläre, alltägliche, kleinformatige und damit wenig medientaugliche Kernelement dessen, was gemeinhin als 'Arabischer Frühling' bezeichnet wird. " Demonstration im besetzten Ort Kafranbel in der syrischen Provinz Idlib. Bild: Freedom House/Flickr (CC-BY-2.0)
"Die erwachte Zivilgesellschaft ist das verkannte, oftmals unspektakuläre, alltägliche, kleinformatige und damit wenig medientaugliche Kernelement dessen, was gemeinhin als 'Arabischer Frühling' bezeichnet wird. " Demonstration im besetzten Ort Kafranbel in der syrischen Provinz Idlib. Bild: Freedom House/Flickr (CC-BY-2.0)

Vor vier Jahren löste Mohammed Bouazizi mit seiner Selbstverbrennung in Tunesien den „Arabischen Frühling“ aus. Die damalige Euphorie scheint mittlerweile verflogen, doch die Ereignisse seit Ende 2010 haben einen gewaltigen Wandel vollbracht: Sie haben Europäer und arabische Despoten gezwungen, sich mit den Menschen in der arabischen Welt neu auseinander zu setzen. Ein Kommentar.

Es war ein kalter Januarabend in Beirut. Die Kneipe im Stadtteil Hamra war dennoch brechend voll, die Luft verraucht, die Musik laut. Auf einmal ging die Tür auf, ein junger Mann stand im Türrahmen und rief: „Ben Ali hat Tunesien verlassen!“ Wie bei einem Fußballspiel rissen alle Anwesenden die Arme hoch und schrien: „Yeah!“ Ein unglaublicher Moment der Hoffnung für eine ganze Region, ausgelöst durch die Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Mohammed Boauzizi einen Monat zuvor, am 17. Dezember 2010.

Ein grauer Dezembertag in Berlin, vier Jahre später: Da ist sie wieder. Die Frage, die zynische Politanalysten besonders zu beschäftigen scheint. Einmal mehr hängt sie im Raum wie kalter Zigarettenrauch als nerviges Überbleibsel einer überragenden Party. Am liebsten möchte man das Fenster aufreißen. Julius Schoeps hat die Frage gestellt, am Ende einer dreitägigen Konferenz zu Minderheiten im Nahen Osten in Berlin. Viele bekannte, international renommierte Wissenschaftler_innen und Fachleute sitzen hier, über ihren Köpfen die Frage.

Schoeps leitet sie so ein: „Wir haben mehrfach im Verlauf der Konferenz über den ‚Arabischen Frühling‘ gesprochen, ein Terminus, der in den Medien in Deutschland jedenfalls sehr stark gepusht wurde. Nun sieht es so aus, als würde sich der Arabische Frühling in so etwas wie eine Eiszeit verwandeln.“ Es geht also darum: „Erodiert die gesamte Region oder gibt es doch Zeichen der Hoffnung?“

Vier Jahre nach Bouazizis Selbstverbrennung geistert die Unsicherheit darüber, was dieser „Arabische Frühling“ überhaupt gebracht haben soll, durch viele Diskussionen über die arabische Welt. Gibt es Zeichen der Hoffnung oder ist alles noch viel schlimmer als vorher? In vielen Medien ist schon lange ein Abgesang zu hören: „Arabischer Frühling – aber wozu?“ titelte die Welt im April 2012, im Januar 2013 erschien die renommierte Fachzeitschrift Internationale Politik mit dem Titel „Arabischer Winter“, „Auf den Aufstand folgte das Chaos“, schrieb das Handelsblatt im August 2013 und die FAZ sprach Anfang 2014 vom „Winter der Revolution“.

Der Tenor lautet grob vereinfacht: Die Aufstände Anfang 2011 sind gescheitert, in den meisten Ländern ist die Lage schlimmer denn je zuvor. Angesichts hunderttausender Toter in Syrien und eines drohenden Flächenbrandes über den Irak, den Libanon und Jordanien, des Schreckgespenstes eines langjährigen Bürgerkriegs in Libyen und angesichts einer wieder erstarkten Militärdiktatur in Ägypten scheint vieles für die These zu sprechen. Die Antwort auf Schoeps' Frage müsste also heißen: Nein, aktuell gibt es kaum Zeichen der Hoffnung.

Abgesehen davon, dass diese Antwort suggeriert, dass der „Arabische Frühling“ ein abgeschlossenes Ereignis sei und kein Prozess, von dem niemand weiß, wie lange er noch dauert, zielt diese Antwort am Kern dessen vorbei, was Anfang 2011 passiert ist.

Wenn die jungen Leute das Land nicht in eine bessere Zukunft führen, macht es keiner

Eine schon genauere Idee davon bekamen die Teilnehmenden bei der Alsharq-Veranstaltung zum Thema „Der Jemen im (Um)bruch“: Drei junge Aktivisten aus dem Jemen diskutierten leidenschaftlich mit den Zuhörern über ihr Land. Sie hatten zum Teil Demonstrationen gegen den früheren Präsidenten Ali Abdallah Saleh organisiert, sie nahmen in der Übergangszeit Teil am Nationalen Dialog und kämpfen weiterhin gegen Terror, Korruption und die desolate wirtschaftliche Lage. Und trotz all der Schwierigkeiten, vor denen sie stehen, wollen diese Leute Anfang 20 Verantwortung für ihr Land übernehmen und sind davon überzeugt, es gemeinsam in eine bessere Zukunft führen zu können – denn wenn sie es nicht tun, macht es keiner.

Was war das eigentlich Überraschende am „Arabischen Frühling“? Regierungen auf der ganzen Welt und auch die üblichen Orient-Erklärer wurden kalt erwischt. Denn niemand, weder westliche Nachrichtendienste noch die arabischen Überwachungsstaaten, ahnten etwas. Die westlichen Regierungen hatten die langjährigen Despoten wie Ghaddafi, Mubarak, Ben Ali oder eben Saleh der (Öl-) Geschäfte und der Flüchtlingsabwehr wegen hofiert. Menschenrechte spielten dabei, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle. Die Erbhöfe und Bereicherungen der Despoten-Clans am eigenen Volk wurden schweigend hingenommen.

Die Wahrnehmung wandelt sich: Subjekte statt Objekte

Dann wandelte sich die Wahrnehmung der Menschen in der ganzen Welt auf den arabischen Raum und im arabischen Raum selbst innerhalb weniger Monate: Die Menschen der Region wurden darin von passiven Objekten und Untertanen der lokalen Despoten und der internationalen Politik zu aktiven Subjekten, die begannen, die Politik ihrer Länder mitzugestalten, nicht nur im Jemen: Auch in Bahrain, Ägypten, Libyen, Marokko, Tunesien, selbst in Jordanien und gerade und ganz besonders in Syrien organisierte und organisiert sich die Zivilgesellschaft in einem bis dato ungeahnten Ausmaß.

Die erstarkte Zivilgesellschaft ist das verkannte, oftmals unspektakuläre, alltägliche, kleinformatige und damit wenig medientaugliche Kernelement dessen, was als „Arabischer Frühling“ bezeichnet wird. Dieser Aspekt kam und kommt in der Berichterstattung über den arabischen Raum kaum mehr vor, angesichts von barbarischer Gewalt, Krieg und Terror. Aber: Proteste lassen sich niederknüppeln, gewählte Präsidenten aus dem Amt jagen; es lässt sich sogar, wie gerade in Syrien, ein ganzes Land in Trümmer legen. Indem sich aber in vielen Ländern die Erfahrung breit machte, dass jede noch so brutale Regierung gestürzt werden kann, begann ein wohl unumkehrbarer Prozess: eine stetige, auf den Interessen der Bevölkerung beruhende Emanzipation von der Unterdrückung durch die Partikularinteressen der herrschenden Eliten. Denn auch ein Präsident wie Abd al-Fattah al-Sisi in Ägypten, dessen anti-demokratische Umtriebe von Anfang an erkennbar waren, weiß nun, dass er nicht gegen die Mehrheit der Bevölkerung regieren kann.

Arabische Welt und DDR: Manche Erfahrungen ähneln sich

Einige neue Strukturen sind etabliert und das kollektive Gedächtnis der Menschen in der Region ist um eine essenzielle und existenzielle Erfahrung reicher. Es ist die Erfahrung der DDR-Bürger, die den Weg zum 9. November 1989 bewusst und aktiv erlebt haben. Diese Perspektive fehlt den meisten Menschen in ihrem Alter auf der ganzen Welt: das hoffnungsvolle Bewusstsein von Menschen, die aus eigener Kraft Veränderungen bewirkt haben.

Es ist unbestritten, dass viele Menschen in der Region einen enormen Preis für diese Erfahrung gezahlt haben und zahlen. Dass wie in Ägypten die Aktivisten der ersten Stunde, die den Protest überhaupt ins Leben riefen und führten, am Ende bei den Wahlen leer ausgingen, ist tragisch. Aber es ist auch ein bekanntes Phänomen – ein ähnliches Schicksal erlitten schon Bürgerrechtsgruppen wie das Neue Forum nach dem Mauerfall in der DDR. Ungleich höher ist der Preis in Syrien.

Aber statt hier der Zivilgesellschaft die Möglichkeit zu geben, sich weiter zu entwickeln, zum Beispiel durch eine Flugverbotszone, hofiert die deutsche Regierung weiterhin autokratische Regimes wie Saudi-Arabien und Katar, die ihrerseits Waffen nach Syrien liefern und so zur Bekämpfung der erstarkten Zivilgesellschaft beitragen.

Denn das ist ein weiteres Zwischenfazit aus den Prozessen, die heute vor vier Jahren ihren Anfang nahmen: Auch Deutschland und Europa waren zunächst überfordert mit den Ereignissen in der Region; bis heute wird man das Gefühl nicht los, dass eine Idee davon fehlt, wie mit den Ereignissen von vor vier Jahren und ihren Folgen umzugehen ist. Vielleicht auch deshalb, weil schon zu früh die Frage auftauchte, ob es denn noch Hoffnung gibt – und zu selten danach, worum es denn eigentlich geht.

Sein Journalistik-Studium führte Bodo vor einigen Jahren in den Libanon. Es folgten viele weitere Aufenthalte im Libanon und in anderen Ländern der Levante, auch als Reiseleiter für Alsharq REISE. Bodo hat einen Master in Politik und Wirtschaft des Nahen und Mittleren Ostens in Marburg und arbeitet heute als Journalist, meist für die Badischen...