Am Sonntag wird in Tunesien ein neues Parlament gewählt. Die einen sind stolz auf das Geleistete, andere fühlen sich von der Zentralregierung vernachlässigt. Die Furcht vor Anschlägen am Wahltag ist allen gemein. Astrid Schäfers über gemischte Erwartungen an den Urnengang.
Drei Tage vor den Parlamentswahlen in Tunesien präsentiert die islamistische Partei Ennahda auf einer großen Konferenz in Tunis feierlich ihr Programm: Erst wird gemeinsam gebetet, dann folgt die Nationalhymne. Das Publikum applaudiert. Tunesien sei zum Modell für die Schaffung eines demokratischen Staates geworden, erklärt Generalsekretär Ali Larayedh. Jetzt gehe es darum, für Stabilität in allen Bereichen zu sorgen und auf Konsens und Dialog hinzuwirken. Ennahda hofft darauf, bei den Parlamentswahlen am 26. Oktober wieder die Mehrheit der Stimmen zu erringen, so wie bei den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung 2011. Der Parteivorsitzende Rached Ghannouchi hatte vergangene Woche angekündigt, mögliche Koalitionsgespräche mit allen Parteien führen zu wollen. Während linke und liberale Parteien jegliche Zusammenarbeit mit Ennahda ablehnten, zeigte sich Béji Caid Essebsi, der Vorsitzende der Partei Nidaa Tounès, in der zahlreiche Funktionäre des Ben-Ali-Regimes vertreten sind, offen für das Angebot. Auf der Wahlkampfveranstaltung machte Ghannouchi deutlich: „Ennahda bekämpft den Terrorismus in unserem Land“.
Am Morgen hat eine Nachricht Tunesierinnen und Tunesier erschüttert: Terroristen haben sich in einem Haus nordwestlich von Tunis in unmittelbarer Nähe eines Schulgebäudes, das als Wahllokal vorgesehen ist, verschanzt. Bei einem Angriff der Armee auf das Haus in der Nacht vom Mittwoch auf Donnerstag wurde ein junger tunesischer Soldat von den Terroristen getötet. Während ihrer Regierungszeit wurde der Ennahda selbst immer wieder vorgeworfen, die Sicherheitslage nicht unter Kontrolle zu bekommen und mit extremistischen Gruppierungen zu kooperieren. Nach zwei politisch motivierten Morden an den Oppositionspolitikern Chokri Belaïd und Mohamed Brahmi sowie Tötungen von mehr als 20 tunesischen Soldaten bei Angriffen von Terroristen musste die Ennahda-geführte Regierung unter Premierminister Ali Larayedh daher Ende 2013 zugunsten einer Technokratenregierung zurücktreten.
Kurz vor den Wahlen zieht die Partei trotz aller Schwierigkeiten dennoch eine positive Bilanz der Entwicklung Tunesiens. „Verglichen mit den anderen Ländern des arabischen Frühlings stehen wir gut da. Was den Übergangsprozess hin zu einer Demokratie betrifft, so hat sich Tunesien gut entwickelt. 2011 standen wir kurz vor einem Bürgerkrieg. Heute haben wir eine Verfassung, an der sich die Justiz orientieren kann,“ erklärte Abdelhamid Jelassi, Leiter der Wahlkampagne von Ennahda am 21. Oktober gegenüber dem französischen Radiosender rfi. Das magische Rezept der tunesischen Demokratie bestehe in der Konsensfindung zwischen laizistischen und religiösen Kräften. Hinsichtlich der Sicherheitslage, so musste Jelassi einräumen, habe die aus Ennahda und den Parteien „Kongress für die Republik“ (CPR) und Ettakatol bestehende „Troika“-Regierung die Gefahr des Terrorismus zunächst unterschätzt. Gleichzeitig betonte er, seine Partei habe die Bewegung Ansar al-Scharia als terroristisch eingestuft.
Die Sicherheitslage scheint sich kurz vor den Wahlen so erneut zuzuspitzen. Im Süden Tunesiens, in der Stadt Kebilli, wurden am Donnerstag zwei Verdächtige festgenommen, die terroristische Angriffe geplant haben sollen. Dabei wurde ein weiterer Soldat von den mutmaßlichen Terroristen erschossen und Munition gestohlen.
„Das macht schon ein bisschen Angst, wenn ein Terrorist die Sicherheitskräfte kurz vor den Wahlen angreift, oder?“ kommentiert die Journalistin Sarra Bakry in der tunesischen Tageszeitung La Presse die Nachricht über den Tod des tunesischen Soldaten im Schusswechsel mit den Terroristen in dem Viertel Oued Ellil nordwestlich von Tunis. Es liegt neben dem Bezirk La Manouba, in dem sich eine der renommiertesten Universitäten Tunesiens, die Université La Manouba, befindet. Den ganzen Tag blieb das Gebäude, in dem sich auch Frauen und Kinder aufhalten sollen, von Sicherheitskräften umstellt. Die Tatsache, dass sich das Haus in Oued Ellil in unmittelbarer Nähe einer Schule befindet, die in zwei Tagen als Wahllokal dienen soll, beunruhigt Bakry. „Man fragt sich also, ob die Verbindung Terrorist – Wahlbüro nicht überall in Tunesien zu einem Katastrophenszenario führen könnte, so dass die Wahlen so chaotisch abliefen, dass alles ins Wasser fiele?“, zeichnet sie ein Worst-Case-Szenario. „Theoretisch ist das möglich. Aber wir sind jetzt vorgewarnt und so einfach lassen wir uns den 26. Oktober nicht versauen“, schreibt sie weiter entschlossen.
Ben Ali vernachlässigte die Regionen – wo der Aufstand gegen sein Regime begann
„Ich habe keine Angst. Trotz Gefahren, trotz der Salafisten, hoffe ich, dass es mir gelingt, den Weg meines Mannes zu Ende bringen“, sagt Mbarka Brahmi, die Witwe des tunesischen Oppositionspolitikers Mohamed Brahmi, der im Juli 2013 im Bezirk Ariana auf offener Straße erschossen wurde. Mbarka Brahmi kandidiert für den Front Populaire („Volksfront), ein Bündnis aus zwölf linken Parteien, in der Stadt Sidi Bouzid, aus der ihr Mann stammt. Weit entfernt vom Meer und der Hauptstadt Tunis, umgeben von Bergen, liegt die Stadt isoliert im Zentrum Tunesiens, was sie in ihrer Entwicklung stets einschränkte. Die zentralistische Regierung Ben Alis vernachlässigte die Regionen und verstärkte dadurch die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit zur Hauptstadt Tunis. 2011 – kurz vor der Revolution – lag die Arbeitslosigkeit in Sidi Bouzid bei über 50 Prozent, mittlerweile stagniert sie bei 40 Prozent. Hier begannen die Proteste der tunesischen Revolution, nachdem sich der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi aus Protest gegen die Diktatur Zinedine Ben Alis und die Behandlung durch dessen Behörden vor dem Rathaus selbst verbrannte. Zwei Jahre später wurde mit Mbarkas Mann, Mohamed Brahmi, ein langjähriger Gegner des Ben-Ali-Regimes für die Stadt Sidi Bouzid in die Verfassungsgebende Versammlung gewählt.
Während seiner Amtszeit kritisierte Brahmi die Ennahda-geführte islamistische Regierung massiv. Er gründete die Bewegung Mouvement du Peuple, dem seine Partei Front Populaire beitrat. Am 7. Juli 2013 trat er aus der Bewegung aus und begründete seine Entscheidung damit, dass es Differenzen in der Frage der Beziehung der Bewegung zu Ennahda gebe und kündigte die Gründung einer neuen Bewegung, des Courant Populaire, an. Im Radiosender Mosaik FM forderte er den Rücktritt der Ennahda-geführten „Troika“-Regierung und die Auflösung der Verfassungsgebenden Versammlung. Ennahda blockiere mit der Mehrheit der Stimmen in der Verfassungsgebenden Versammlung die Arbeit der parlamentarischen Kommission zur Organisation von Parlamentswahlen und die Ausarbeitung der Verfassung. Wenige Tage später wurde Brahmi vor seinem Haus in Ariana El-Ghazala erschossen.
Jugendliche der Revolution wenig in Demokratisierungsprozess eingebunden
Dem Bündnis Front Populaire geht es darum, die Islamisten, die für die Morde an Chokri Belaid und Mohamed Brahmi verantwortlich gemacht werden, in dieser immer noch armen Region zu bekämpfen. „Wir werden niemals aufhören zu kämpfen“, sagte Mbarka Brahmi gegenüber dem französischen Radiosender rfi. In Sidi Bouzid gebe es einen großen Bedarf an Entwicklung. Viele Jugendliche, die vor vier Jahren in Sidi Bouzid gegen Ben Alis Diktatur auf die Straße gegangen seien, seien in den demokratischen Übergangsprozess gar nicht eingebunden. Sie seien von den Parteien nicht überzeugt und wollten sich auch nicht als Kandidaten aufstellen lassen. Auch verwechselten manche die Wahllisten mit ihrer Registrierung als Wähler, die notwendig sei, damit sie wählen dürften, so Mbarka Brahmi. Vergangene Woche zeigte die Spitzenkandidatin der Front Populaire für Sidi Bou Saïd bei der Obersten Wahlbehörde ISIE Bestechungsversuche einiger Parteien in der Stadt Menzel Bouzaiane an, die rund 60 Kilometer südlich von Sidi Bouzid liegt. Parteivertreter schenkten dort während des Opferfestes Schafe – im Gegenzug für Wählerstimmen. „Wir möchten nicht, dass die Stimmabgabe der Tunesierinnen und Tunesier durch schmutziges Geld manipuliert wird. Deswegen verlangen wir, dass es für jede Kandidatenliste einen Verantwortlichen gibt, der nach dem Wahlkampf einen Finanzbericht abliefert, auf dem alle Einnahmen und Ausgaben aufgelistet sind und dokumentiert werden“, fordert Mohamed Kamel Gharbi, der Vorsitzende des Netzwerks von Nichtregierungsorganisationen Ofiya zur Beobachtung der Integrität der Wahlen.
Bei den Parlamentswahlen kandidieren ehemalige Funktionäre des Ben-Ali Regimes
Die Begeisterung der Tunesierinnen und Tunesier für die Parlamentswahlen scheint sich insgesamt in Grenzen zu halten. Immerhin haben sich 70 Prozent der Wahlberechtigten registrieren lassen und können somit an den Wahlen teilnehmen. Dazu zählen auch im Ausland lebende Tunesierinnen und Tunesier, die mit 18 der 217 Sitze im Parlament repräsentiert sein werden. Viele Wählerinnen und Wähler scheinen mit der Vielzahl der Wahllisten von Parteien und unabhängigen Kandidaten für die 33 Wahlbezirke überfordert. Gharbi glaubt, dass es nicht allen Kandidaten der 100 Wahllisten ernsthaft darum gehe, einen Platz im Parlament zu erringen: „Wir befürchten, dass viele Kandidaten von Parteien oder unabhängigen Listen bis zum Wahltag nicht die notwendigen Formulare einreichen und sich lediglich die erste Subvention der öffentlichen Finanzierung in die Tasche stecken werden, so wie dies bereits bei den Wahlen 2011 geschehen ist.“ Das neue Wahlgesetz verlange aber, dass die, die nicht mindestens drei Prozent der Sitze im Parlament erringen können, das Geld zurück zahlten.
Gharbi hält es für problematisch, dass zahlreiche Mitarbeiter und hohe Funktionäre des Ben-Ali-Regimes auf Wahllisten von Nidaa Tounès und anderen Parteien für das Parlament kandidieren und auch Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen im November stellen können. „Die politische Präsenz der Funktionäre des Ben Ali-Regimes in legalen Parteien ermöglicht ihnen, für die Parlaments- und die Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Posten im zukünftigen Parlament verstärken die Straffreiheit der Anhänger des Regimes und ermöglichen ihnen, führende Positionen einzunehmen“, so Gharbi gegenüber Alsharq. Ebenso hält er die Präsenz der Mitarbeiter des Ben-Ali-Regimes in öffentlichen Institutionen auf allen Ebenen für hinderlich für den Demokratisierungsprozess. „Auch im neuen Staatapparat gibt es Kräfte, die versuchen, den Bemühungen um die Demokratisierung der bestehenden und die Schaffung neuer Institutionen zu verhindern. Diese alten Kräfte wollen, dass der demokratische Prozess in Tunesien scheitert. Das ist Terrorismus von innen.“
Auch bei der Justiz sieht Gharbi Aufarbeitungsbedarf: So kritisierte er die ausbleibende Strafverfolgung von Mitarbeitern des Ben-Ali-Regimes, die Folter praktiziert und Morde verübt oder angeordnet haben und den schleppenden Prozess der Schaffung einer Übergangsjustiz, der die Einrichtung ziviler Gerichte voraussetzt. Er ist ebenfalls Vorsitzender des Netzwerks des aus Nichtregierungsorganisationen bestehenden Réseau Tunisien pour la Justice Transitionnelle. „Die Beschwerden, die die Kommission ‚Wahrheit und Würde’ (Verité et Dignité) gesammelt und aufgearbeitet hat, können erst behandelt werden, wenn zivile Gerichte geschaffen worden sind. Wir müssen aber die Präsidentschaftswahlen im November abwarten“, erklärte er. Deshalb werde es bis Januar 2015 dauern, bis die Übergangsjustiz handlungsfähig sein werde. Der Prozess sei stark verzögert worden und diejenigen, die Klagen wegen Gewalt, Folter oder Todschlag erhoben haben, fürchteten, dass ihre Forderungen und Beschwerden verjährten. Aber sie müssen noch die Präsidentschaftswahlen mit zwei Wahlgängen im November und im Dezember abwarten. Erst danach können neue Institutionen geschaffen werden.
„Diese Wahlen sind noch wichtiger als die 2011, denn sie entscheiden über die Zukunft des Landes in den kommenden fünf Jahren. Entweder Tunesien geht weiter den Weg der Freiheit oder es gibt einen Rückschritt“, erklärte Mouheb Saharoui, ein junger Anhänger des Front Populaire gegenüber der französischen Zeitung Le Monde.