Aus dem Süden Syriens, wo sich 2011 der Widerstand gegen das Assad-Regime zuerst formierte, fliehen die Menschen zumeist nach Jordanien. Zunehmend stranden hier auch Flüchtlinge aus der zentral-syrischen Gegend um Homs. Jenseits der bekannten Flüchtlingslager ist ihr Leben oft nur ein Überleben ohne Perspektiven in bitterer Armut. Von Cordelia Neumetzger
Die Autorin war im September 2014 im Rahmen einer Hilfsaktion in Jordanien und berichtet hier von ihren Eindrücken.
Die staubige Straße scheint ins Nirgendwo zu führen. Ein kleines Mädchen in rotem Kleid steht inmitten einer roten Sandwüste und winkt von weitem. Dann rennt sie dem Van hinterher, der über den steinigen Sand rumpelt. Wenige Kilometer von der syrischen Grenze entfernt in der Nähe der Ortschaft al-Mafraq wohnen, vielmehr hausen etwa hundert Menschen unter unwürdigen Bedingungen. Sie haben einige Zelte der United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR), einen Wassertank und ein selbstgeschaufeltes Loch im Boden, das als Toilette dient. Sonst nichts außer Staub, Stein, Sandsturm und einer sengenden Sonne, die schattenlos herunterbrennt. Während die Heimat der Flüchtlinge im Süden und im Zentrum Syriens mittlerweile fast völlig zerstört ist, ist ihre neue Zuflucht häufig kein Zuhause, sondern eine Zumutung.
Syrische Flüchtlinge in Jordanien: Wenn sie in den Medien auftauchen, dann meist in Berichten über das Flüchtlingslager al-Zaatari. Das weltbekannte Camp erstreckt sich in Sichtweite am Horizont entlang. Auch die Menschen hier, die ursprünglich aus Homs stammen, waren zunächst in Zaatari. „Wir hatten schon Familienangehörige in Jordanien, deshalb mussten wir das Camp wieder verlassen“, erklärt Mohammad, einer der wenigen Männer vor Ort. Nun sind sie hier im Nirgendwo gelandet.
Diashow: Die Vergessenen von al-Mafraq
[slideshow_deploy id='8183']
Alle Bilder von Cordelia Neumetzger (©)
Zwischen dem ausufernden Flüchtlingslager al-Zaatari, in dem mittlerweile über 160.000 Menschen leben, und diesen notdürftig zusammengezurrten Zelten mitten im Sand liegen Welten. Hier gibt es keine sanitären Anlagen, keine Elektrizität und keine Hoffnung. Diese Menschen tauchen in keinem Auslandsjournal und keiner Zeitung auf. Sie sind die Vergessenen von al-Mafraq. „Seit sechs Monaten ist niemand mehr zu uns gekommen, um uns zu helfen“, sagt Mohammad.
Hilfslieferungen kommen hauptsächlich Zaatari oder privaten Hilfsreinrichtungen zu gute. Dort sind sie lebenswichtig. Hier wären sie allerdings überlebenswichtig. Das kleine Lager befindet sich zwar am Rande von al-Mafraq, aber nicht einmal mehr am Rande der Gesellschaft. Für ihre Umgebung scheinen die syrischen Flüchtlinge kaum zu existieren, die Einwohner halten Distanz. Nur eine Autostunde von Jordaniens Hauptstadt Amman entfernt, ist ihr Dasein auf bloßes Überleben reduziert. In Amman bekommt das kaum jemand mit. Der jordanische Medizinstudent, der mich begleitet, ist entsetzt. „Das habe ich nicht erwartet“, sagt er leise. „Dabei sind das ja auch Menschen – wie wir“, fügt er hilflos hinzu.
Leben am Minimum
Der kleine Wüstenstaat Jordanien hat selbst nur etwa 6,5 Millionen Einwohner. Inzwischen muss er mit mindestens 1,4 Millionen syrischen Flüchtlingen klar kommen. Das funktioniert immer schlechter. Das Zaatari-Camp hat „Aufnahmestop“. Es wächst trotz allem, täglich werden dort um die 15 Babys geboren. Doch wohin mit all den anderen heimat- und mittellosen Menschen, die täglich aus Syrien über die Grenze kommen? Immer mehr bleiben sich selbst überlassen und das meist abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit. Wer bereits in Jordanien ansässige Familienangehörige hat, der zieht meist zuerst zu diesen und versucht dann, selbst eine Unterkunft zu finden. Alle anderen müssen sich eigentlich in Lagern aufhalten und die befinden sich in möglichst dünn besiedelten Gegenden mitten in der Wüste.
Vor dem Bürgerkrieg konnten die Syrer ohne Einreisebeschränkungen nach Jordanien reisen und dort arbeiten. Mittlerweile ist das verboten. Wer trotzdem einen Syrer einstellt, vielleicht weil er im Vergleich zu einem Jordanier für ein Zehntel des Lohnes die doppelte Arbeit verrichten würde, der kann das nur illegal. Wer erwischt wird, muss eine hohe Strafe zahlen und damit rechnen, dass sein Geschäft geschlossen wird.
Nicht nur, dass die Syrer nicht arbeiten dürfen. Meist müssen sie mehr für eine Unterkunft zahlen als die Einheimischen. Manche teilen sich zu zehnt zwei Zimmer und schlafen auf der bloßen Erde. Sie haben keinen Kühlschrank im Sommer und keine Heizmöglichkeit im Winter. „Seit zwei Jahren haben wir kein Obst und kein Gemüse mehr gegessen“, erzählt eine Frau. „Ich will zurück nach Syrien, aber mein Syrien gibt es nicht mehr.“ Tränen stehen ihr in den Augen, vor Trauer und Enttäuschung. Sie hat alle Männer ihrer Familie durch den Bürgerkrieg verloren und ist allein mit drei Töchtern aus Homs gekommen. Bei der entfernten Verwandschaft war kein Platz mehr für sie. „Wir bekommen keine Unterstützung vom Staat. Gar nichts. Ich müsste nach Amman reisen und dort darum bitten, aber das kann ich nicht ohne einen Mann in der Familie.“
Nach Berechnungen jordanischer Ökonomen kostet jeder syrische Flüchtling Jordanien im Jahr etwa 3.000 US-Dollar. Zuviel für das Land, das bei der Versorgung der Flüchtlinge stark auf Zuschüsse anderer Länder und der Arbeit von Non-Profit-Organisationen angewiesen ist. Das World Food Program (WFP) beispielsweise verteilt Wertmarken an syrische Flüchtlinge. Doch es musste seit dem 1. Oktober seine Unterstützung von 34 Jordanischen Dinar (JD) auf 16 JD pro Kopf und Monat kürzen. Das entspricht vom Preis-Leistungs-Verhältnis her etwa dem gleichen Wert an Euro in Deutschland. Wie lässt es sich mit etwa 16 Euro pro Monat in Deutschland leben? Mit den Coupons können die Flüchtlinge ohnehin nur Lebensmittel erwerben, aber weder Wasser noch Hygieneartikel, geschweige denn neue Kleidung. Viele haben daher nichts anderes zum Anziehen, als das, was sie am Körper tragen.
Nachhaltige Schäden an Leib und Seele
„Eine Zahnbürste bitte, für mich und hier für meine beiden Jungs und die Mädchen!“ Die junge Frau deutet auf ihre braunen Frontzähne, die zum Teil schon abgefault sind. Ihre sechs Kinder haben alle Karies. Zahnbürste und Zahncreme werden in dem kleinen Camp in der Wüste gehandelt wie Kostbarkeiten. Ein Junge zeigt, wie er sonst versucht, sich die Zähne zu säubern: mit einem Holzspahn.
Die Kinder wachsen hier ohne Kamm und ohne Zahnbürste auf. Die meisten sind traumatisiert von all dem Grauen, das sie in den vergangenen Monaten und Jahren erleben mussten. Die ganz Kleinen kennen nichts anderes als Krieg und Flucht und Elend. Sie sind in ihrer physischen Entwicklung und ihrem Sozialverhalten stark hinter Gleichaltrigen zurückgeblieben: Dreijährige, die nicht sprechen können, Sechsjährige, die nicht mehr sprechen wollen und Achtjährige mit der Statur von Sechsjährigen. Viele haben nie gelernt, zu spielen. Die Älteren, die in Syrien noch zur Schule gegangen sind und sich an ein Land mit intaktem Sozial- und Gesundheitssystem erinnern können, schwanken in ihrem Verhalten zwischen normalem Kindsein und bloßer Überlebenstaktik. Zwei Jungs posen mit verschränkten Armen vor der Kamera. Sie fragen, ob wir auf facebook Freunde sein können. Vor ein paar Minuten noch haben sie mit einem Klumpen Dreck gekickt, denn etwas anderes haben sie nicht.
Die Kinder haben fast nichts außer der Furcht
Viele sind latent aggressiv, jeder kleine Disput eskaliert. Ich möchte Stifte und Blätter zum malen verteilen. Aber ein Filzstift ist hier unbezahlbar. Wie eine Meute kleiner Wölfe reißen sich die Kinder um ihn. „Ana, ana, ana!!“ schreien sie. „Ich, ich, ich!!“ Sie springen an mir hoch, um an die Stifte zu kommen. Die Kleinen weinen, die Verlustangst steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Teilen oder etwas gemeinsam nutzen funktioniert kaum. Was die Kinder in die Hände bekommen, das horten sie und verteidigen es notfalls mit Fäusten und Zähnen. Denn sie haben fast nichts außer der Furcht, auch noch das zu verlieren.
Der Sandstaub ist so fein, dass er sich bei jedem Atemzug in den Lungen ablegt. Schon nach wenigen Stunden in dem kleinen Wüstencamp fällt das Luftholen schwer. Die Menschen hier müssen das Tag für Tag erdulden. Beim Rundgang unserer Ärzte warten in jedem der kleinen Zelte neue Leiden und Leidensgeschichten. Chronische Bronchitis, Nasenbluten, Pilzbefall, Krätze, Durchfall, Herzrythmusstörungen, Babys ohne Finger- und Zehennägel. Alles Ergebnisse von Mangelerscheinungen, Unterernährung und den katastrophalen Lebensbedingungen und hygienischen Verhältnissen.
Die Kinder haben seit der Flucht keine Schule besucht
Im Zaatari-Camp und in einigen Ortschaften haben die Vereinten Nationen Schulen für syrische Flüchtlingskinder eingerichtet. In zwei Schichten à vier Stunden werden Kinder bis maximal zur sechsten Klasse unterrichtet. Ein wichtiger Schritt hin zu einer unabhängigen Zukunft für diese Kinder, vielleicht sogar einmal wieder in Syrien.
Für die Vergessenen von al-Mafraq gilt das nicht. Ihre Kinder haben seit der Flucht aus Syrien keine Schulen mehr besucht. In einem der schmuddligen Zelte, das ansonsten als Behelfsmoschee fungiert, versucht einer der Erwachsenen, die Kinder wenigstens etwas zu unterhalten. Er betet und singt mit ihnen, liest aus dem Koran vor. Bücher, Schreibutensilien oder etwas zum Basteln hat er natürlich nicht. Dabei wollen die Mädchen und Jungen unbedingt wieder zur Schule und etwas lernen. „Bitte, bring mir ein Buch aus Amman mit. Nur ein Buch, und einen Block zum Schreiben. Bitte!“ Die achtjährige Marsala weicht mir den ganzen Tag nicht von der Seite und wiederholt gebetsmühlenartig ihre Bitte, immer und immer wieder. „Bukrah insh´Allah“, antworte ich ihr jedesmal. „Morgen, so Gott will.“ Dabei weiß ich gar nicht, ob wir morgen überhaupt noch einmal hierher kommen werden. Es fühlt sich schrecklich an, einen Menschen so abzuspeisen.
Generationen ohne Perspektiven
Die Berichterstattung über Hilfsaktionen und das Leben syrischer Flüchtlinge konzentriert sich meist auf die Vorzeige-Objekte, zu denen mittlerweile auch das al-Zaatari zählt. Es ist gut, dass es funktionierende Flüchtlingslager gibt. Doch die akuten Notfälle und das wahre Elend, wie bei den Vergessenen von al-Mafraq, bleiben unbekannt. Das erzeugt eine falsche Wahrnehmung. Es kann der Eindruck entstehen, dass es den Syrern, wenn sie es denn erst einmal nach Jordanien, in den Libanon oder aktuell in die Türkei geschafft haben, gar nicht mehr so schlecht geht. Doch dass ein Großteil der Flüchtlinge unter unzureichender Versorgung, fehlender physischer und psychologischer Betreuung und dem Mangel an Bildungschancen leidet, steht nicht im Fokus der Öffentlichkeit.
Hier wachsen Generationen traumatisierter Menschen ohne Perspektiven heran – mit fatalen wirtschaftlichen und sozialen Folgen nicht nur für sie selbst, sondern auch für die Staaten, in denen sie nun leben. Es kann nicht im Sinne Jordaniens und der anderen Aufnahmeländer sein, diese Menschen in Abhängigkeit von externen Hilfsleistungen mehr oder weniger vor sich hin vegitieren zu lassen. Doch so lange Menschen wie die Syrer bei al-Mafraq vergessen bleiben und keine Chancen bekommen, sich selbst zu helfen, wird die Problematik mit jedem weiteren Bürgerkriegstag in Syrien nur noch größer.