Im Nordosten Syriens führen die kurdischen YPG-Milizen einen blutigen Krieg gegen den Islamischen Staat. Dabei erobern sie auch arabische Dörfer. Die größte Herausforderung für die kurdische Selbstverwaltung: das komplexe Verhältnis zwischen Kurden und Arabern – politisch wie militärisch. Von Nils Metzger
Ein Meer bunter Plastikblumen überdeckt die eng beieinander liegenden Erdhaufen, auf manchen sind mit kleinen Steinen die Namen der hier Begrabenen mosaikartig gelegt. Der Märtyrerfriedhof von Qamischli, der inoffiziellen kurdischen Hauptstadt Syriens, ist ein beinahe idyllischer Ort. Auf dem zentralen Platz steht eine in Stein gehauene „Flamme der Freiheit“, um die sich die frischen Gräber scharen. Angelegt wurde der Friedhof Ende 2013, seitdem wurden mehr als 1000 kurdische Milizionäre hier begraben – so viele wie an keinem anderen Ort in Rojava, wie die syrischen Kurden ihre Heimat nennen. Das von einer flachen Mauer umgebene Areal bietet reichlich Platz für weitere tote Körper. Keiner der Bauherren ging wohl von einem raschen Ende des Krieges aus.
Es war das Privileg der syrischen Kurden, vom Bürgerkrieg lange verschont worden zu sein. Erst vor rund einem Jahr starteten islamistische Brigaden wie ISIS und Dschabhat al-Nusra große Offensiven gegen das kurdische Territorium in den nördlichen und östlichen Provinzen Aleppo, al-Raqqa und al-Hasaka. Vor allem die Enklave Kobane, tief in arabischem Gebiet gelegen, wird seit Monaten belagert. Trotzdem konnten die Parteien Rojavas die Zeit nutzen, weitgehend friedlich eine autonome Selbstverwaltung jenseits der politischen Strukturen der Baath-Diktatur und der Herrschaft der Islamisten aufzubauen. Die von ihnen aufgestellten YPG-Milizen, die „Volksverteidigungseinheiten“, sollen nach Angaben ihrer militärischen Führung inzwischen mehr als 45 000 Mann umfassen.
Die Fotos der Gefallenen an den Blättern der Zimmerpalme
Unweit des Friedhofs von Qamischli betreibt die Märtyrerorganisation der YPG einen kleinen Andachtsraum. Familien kommen hier zusammen, um der Toten zu gedenken. Die Wände sind über und über behangen mit Fotos der aus Qamischli stammenden Gefallenen der kurdischen Guerillakriege gegen die Armeen der Region. Über die bei internen Konflikten Gestorbenen spricht man weniger gerne. Auch den Toten der jüngsten Kämpfe wird hier gedacht: Portraits der Gefallenen hat man mit Sicherheitsnadeln in den Blättern einer Zimmerpflanze befestigt. Vielleicht soll der Heldentod so natürlicher wirken.
Einer der YPG-Milizionäre, der gerade in einem kleinen Bürozimmer neben dem Andachtsraum Platz genommen hat, deutet auf eines der Portraits und murmelt: „Tel Hamis". Das darüber ebenfalls: „Tel Hamis". So fährt er mit der Hand über den Baum und spricht bei zwei Drittel aller Portraits mit stoischer Miene: „Tel Hamis". Diese Ortschaft am Rande dessen, was die meisten Kurden für Rojava halten, unweit der Provinzhauptstadt Hasaka, hat sich fest in das Bewusstsein der Kurden Rojavas eingebrannt. Viele Kinder und Erwachsene erzählen grausame Geschichten über die Taten der Dschihadisten in diesem kleinen Dorf zwischen Tel Brak und al-Yarubiyah. Dieser Landstrich am äußersten Südrand des kurdischen Territoriums wurde den Islamisten zwischen Dezember 2013 und Februar 2014 mühsam abgerungen. Aus jeder der Ortschaften zogen sich die ISIS-Kämpfer zurück - außer aus Tel Hamis. Dort, in Tel Hamis, erlebten die syrischen Kurden ihre einzige Niederlage seit Ausbruch des Bürgerkrieges.
Und auch jetzt, mehr als ein halbes Jahr danach, sind die Ereignisse, die dazu führten, noch nicht aufgearbeitet. Die tragischen Ereignisse von Tel Hamis stehen stellvertretend für die zentralen Zwiespälte der kurdischen politischen Kräfte: interne Grabenkämpfe, Intransparenz und unsichere Allianzen nach außen.
Der islamistischen Opposition gelten die Kurden als Regime-Freunde
Die kurdischen Gebiete haben sich im Zuge des syrischen Bürgerkrieges auf besondere Weise entwickelt. Die reguläre syrische Armee zog sich schon 2012 aus den kurdischen Gebieten weitgehend zurück. Kräfte wurden anderswo gebraucht und die meisten kurdischen Parteien strebten nach politischer Autonomie, nicht nach einem bewaffneten Aufstand gegen die Assad-Regierung. In den Augen vieler islamistischer Oppositioneller, so auch den Anhängern des Islamischen Staates, sind die Kurden Kollaborateure des Regimes. Allen voran die PYD (Partiya Yekitîya Demokrat), die PKK-nahe, sozialistisch geprägte, größte politische Organisation in Rojava.
Militärisch sind die YPG den Islamisten meist weit überlegen - sie kämpfen auf heimischem Gebiet, genießen eine bessere Ausbildung. Moral und Disziplin in ihren Einheiten sind meist sehr gut, immerhin kämpfen sie für eine gemeinsame Idee: die Befreiung der syrischen Kurden von der kulturellen und politischen Unterdrückung durch meist arabischen Despoten, gleich ob Baath-Partei oder Islamisten. Immer wieder betonen kurdische Politiker, dass sie allein die Brüche zwischen den einzelnen Religionen und Ethnien Syriens wieder schließen wollten. Dass sie allein Arabern, Kurden und Assyrern eine sichere und demokratische Heimat garantieren könnten.
Doch unter der Oberfläche kochen auch im kurdischen Nordosten Syriens jahrzehntealte Konflikte zwischen den Volksgruppen immer wieder hoch. Das Verhältnis zwischen den Ethnien ist ausschlaggebend für den Erfolg der jungen kurdischen Selbstverwaltung und immer wieder fordern die komplexen und sich stetig ändernden Allianzen zwischen arabischen Stämmen und ihren Nachbarn Todesopfer. Für die Zeit nach dem Ende des Islamischen Staates und seines Vormarsches müssen die kurdischen Parteien flexible Lösungen für eine Verwaltung der von ihnen kontrollierten arabischen Gebiete in Syrien und im Irak finden.
Tel Hamis wurde zum Sinnbild der Niederlage
Zurück zum Friedhof in Qamischli, zurück nach Tel Hamis. Wie kaum ein Umstand verdeutlichen die blutigen Ereignisse von Tel Hamis im Januar 2014 die Ambitionen und Dilemmata der kurdischen Autonomieverwaltung. Im vergangenen Jahr noch fasste die Gemeinde 10 000 Einwohner. Durch Tel Hamis führt die Straße, die die Provinzhauptstadt Hasaka mit Qamischli verbindet. Die Islamisten nutzten sie wiederholt für Selbstmordattentäter. Um diese zu stoppen und die Ortschaft zu erobern, deren vollständig arabische Bevölkerung den Dschihadisten Zuflucht gewährt hatte, fochten die kurdischen Truppen eine Militärkampagne, die von Dezember 2013 bis Januar 2014 dauern sollte. Sie endete mit einer verheerenden Niederlage.
Diese Niederlage war nicht nur militärisch bedeutend, sie verdeutlicht auch interne Probleme der kurdischen Milizen: Im Gegensatz zu anderen Milizen im syrischen Bürgerkrieg gelingt es den kurdischen Einheiten, effektive Nachrichtensperren vor und während großer Offensiven über die in Rojava aktiven Medien zu verhängen. So auch hier. Die ersten Gerüchte über das, was in Tel Hamis geschah, sickerten erst Tage später durch, als umfassende Medienberichte ausblieben und die YPG-Führung von einem ordnungsgemäß durchgeführten Rückzug aus der Gegend um Tel Hamis sprach. Anhänger des kurdischen Oppositionsbündnisses KNC (Kurdish National Congress) zirkulierten Gerüchte über hunderte tote YPG-Kämpfer in Tel Hamis. Tote, die die regierende PYD gerne unter den Teppich gekehrt hätte, so die Vorwürfe. Zahlreiche Details über Massengräber, Hinterhalte und das organisatorische Versagen der YPG-Führung wurden auf Blogs immer weiter ausgeschmückt – Propaganda und Wahrheit schienen unmöglich auseinander zu halten; Kämpfer, die an jener Operation beteiligt gewesen waren, kamen nicht zu Wort.
Eine Rekonstruktion der Ereignisse bietet Einblicke in das militärische Innenleben der kurdischen Milizen – und erweist sich als aufschlussreiche Anekdote von der Front zum Islamischen Staat. Die hier festgehaltene Rekonstruktion der Ereignisse basiert auf Interviews mit YPG-Soldaten, die an unterschiedlichen Orten während der Offensive stationiert waren, mit Vertretern mehrerer arabischer Stammesverbände, die die Gegend zwischen Tel Brak und al-Yarubiyah kontrollieren, sowie der offiziellen Position von PYD- und YPG-Führungen. Bis heute versuchen die YPG vergeblich, Tel Hamis einzunehmen. Ein Großteil der kurdischen Toten der Offensive verblieben in Feindesland, nur rund ein Viertel der getöteten YPG wurde Mitte Januar in Qamischli beigesetzt; mehrere Versuche, die Gebeine gegen gefangene Islamisten einzutauschen, scheiterten.
Was geschah?
Die Nacht des 5. Januar war verregnet, die sandigen Straßen der Ortschaft al-Husseiniya wenige Autominuten außerhalb von Tel Hamis waren zu einer dicken Schlammschicht aufgeweicht. Von drei Seiten rückten die YPG entlang der Landstraßen auf Tel Hamis vor und nutzten dabei den Schutz der Dunkelheit. Für die Offensive standen neben den üblichen Toyota-Pickups auch mit Stahlplatten aufgerüstete Traktoren bereit. Bei vergangenen Schlachten waren sie sehr effektiv gewesen, doch in dieser Nacht steckten die schweren Fahrzeuge im Morast fest.
YPG-Milizionär Sahir Abdelnasir Abdu war an jenem Abend an einem improvisierten Checkpoint vor den Toren von Tel Hamis stationiert. „Ich weiß nicht viel über die Menschen in Tel Hamis. Alles, was uns von unseren Kommandeuren gesagt wurde, war: 'Heute befreien wir den Ort'“, berichtet der 26-jährige. In den Monaten zuvor hatten sich in Tel Hamis mehrere hundert Dschihadisten gesammelt, hatten hier im arabisch dominierten Dorf ihren letzten Rückzugsort im kurdischen Gebiet. Trotz aller Freundschaftsbekundungen für die Araber huscht YPG-Sprecher Polat Can Verachtung über das Gesicht, wenn er von dem Ort spricht. „Nest der Islamisten“ nennt er ihn.
Dabei ist es bislang die große Leistung der kurdischen Militärführung, dass sie auch nach Massakern, nach Niederlagen und Attentaten bislang nie grausam Rache nahmen an ihrem Gegner. Hass auf die Islamisten pflegen sie – und doch werden Kriegsgefangene wohl nirgends in Syrien so vorbildlich behandelt.
Die Operation war ausführlich geplant worden, die Kämpfer waren gut ausgebildet und trotzdem wurde die Offensive in der Nacht des 5. Januar für die YPG zu einem Fiasko. Die Dschihadisten waren auf den Angriff vorbereitet. „Sie wussten, was wir über Funk besprechen, sie haben unser Netzwerk abgehört und Verräter haben es ihnen übersetzt“, erzählt einer der beteiligten Kämpfer. Für die YPG hatte das tödliche Folgen. In al-Husseiniya gerieten einige der dort festsitzenden Truppen in einen Hinterhalt. „Dschihadisten hatten sich unter die Flüchtlinge gemischt, die nach den letzten Gefechten einige Tage zuvor in die Dörfer um Tel Hamis zurückkehrten. Sie haben sich als Zivilisten getarnt“, erzählt Abdu. Als die ersten Schüsse fielen, hätten seine Kameraden gar nicht gewusst, wer einfach nur Anwohner und wer Terrorist sei. Schon außerhalb der Stadtgrenzen befand man sich in feindlichem Gebiet.„Es waren deutlich mehr Dschihadisten vor Ort, als wir erwartet hatten. Sie konnten rechtzeitig vor unserem Angriff noch Verstärkung zusammenziehen“, erklärt ein junger Erwachsener mit dem Kämpfernamen Xadir.
Die Kurden – militärisch überlegen – wurden überrumpelt
Nach unterschiedlichen Darstellungen beteiligter Kämpfer sollen sich auch Mitglieder lokaler Stammesmilizen der Scharabiya auf beiden Seiten an den Gefechten beteiligt haben, obwohl diese im Vorfeld den YPG eine sichere Passage durch ihre Dörfer garantiert hätten, erzählt einer der YPG-Milizionäre. Viele junge YPG-Rekruten, aber auch Veteranen wie Xadir versetzt das in Angst. „Ich habe schon mit arabischen Stämmen gekämpft. Sie sind überhaupt nicht gut organisiert“, erinnert sich ein anderer Kämpfer namens Xebat. Sich in brenzligen Situationen auf arabische Stammesmilizen verlassen zu müssen, das behagt den kurdischen Kämpfern nicht. Der Verrat kostete in Tel Hamis Dutzende Menschenleben und brachte den kurdischen Vorstoß zum Erliegen.
Das Misstrauen zwischen Kurden und Arabern ist seit jeher groß. Im März 2004, als in Folge von Ausschreitungen zwischen kurdischen und arabischen Fußballfans tausende Aktivisten die Straßen von Qamischli säumten und Demonstranten selbst vor dem syrischen Parlament in Damaskus die kurdische Flagge schwenkten, schickte Baschar al-Assad nicht ausschließlich die Armee, um die Proteste zu beenden. Er gab mit einer Ausnahme an alle arabischen Stämme in der Region Waffen aus – auch an die Scharabiya. Diese schlugen die Bewegung rasch nieder und plünderten kurdische Geschäfte in Qamischli. Über 30 Kurden starben bei Straßenschlachten und nach Verhaftungen. Bis heute gehört etwa der Tey-Stamm in Qamischli zu den treuesten Anhängern der syrischen Diktatur; die Baath-Parteimiliz „Nationale Verteidigungskräfte“ rekrutierte in Qamischli nahezu ausschließlich Tey-Araber. Von ihrem Hrat Tey genannten Stadtviertel in Qamischli halten sich die YPG-Milizen fern.
Die meisten Stämme sind jedoch mehr am eigenen Überleben und Gedeihen interessiert als an den politischen Ideen der syrischen Regierung. Profitieren sie von deren Politik, lassen sie sich gerne einspannen, bleiben letztendlich aber unzuverlässige Verbündete. Zu einem Problem entwickelte sich das Verhältnis zwischen syrischen Kurden und Stammesangehörigen bereits in den 1970er und 1980er Jahren, als Hafiz al-Assad tausende Araber im Niemandsland zwischen kurdischen Dörfern entlang der syrisch-türkischen Grenze ansiedelte. Das Ziel war es, Rojava, die kurdischen Territorialgrenzen, aufzuweichen und das Gebiet für die Kurden unregierbar zu machen.
Arabische Alliierte sind selten für die Kurden
Einzig der Stamm der Schammar, die 1916 von den Al Saud von der arabischen Halbinsel vertrieben wurden, erwies sich als beständiger Alliierter der Kurden. Dafür, dass ihnen die Kurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlaubten, in ihrem Gebiet zu siedeln und blühende Handelsbeziehungen in den Irak aufzubauen, beteiligten sich die rund 30 000 Schammar zu keinem Zeitpunkt an anti-kurdischen Militärkampagnen. Ende November 2013 eroberten die YPG die Grenzstadt al-Yarubiyah auf ausdrücklichen Wunsch der örtlichen Schammar-Stammesführung zurück. Unter den mehr als 20 Stämmen in al-Yarubiyah stellen die Schammar die größte und einflussreichste Gruppe. Heute dienen dort Araber und Kurden gemeinsam in den Polizeikräften, mittelfristig soll die Stadt unter arabischer Selbstverwaltung in der geplanten kurdischen Autonomiezone stehen.
Die Schammar eignen sich bestens als Mittelsmänner zwischen Kurden und gemäßigten Teilen der sunnitisch-arabischen Opposition. Etwa 25 Prozent des Stammes hätten sich sogar der Freien Syrischen Armee angeschlossen, gibt Hussein al-Khaddan, einer der Schammar-Stammesführer, der in al-Yarubiyah als Kontaktperson zwischen YPG-Führung und örtlicher arabischer Bevölkerung fungiert, an. Mit Ahmad Jarba stellen die Schammar sogar den – weitgehend machtlosen – Präsidenten der oppositionellen Nationalen Koalition, dem größten politischen Bündnis der arabischen Aufständischen. Unter vielen seiner Stammesangehörigen ist Jarba darum inzwischen verhasst: „Selbst seine Brüder und Cousins stehen nicht mehr hinter ihm. Dieser Mann kämpft für die Zerstörung seines Landes und seines Volkes“, ereifert sich al-Khaddan.
So instabil, wie diese Kooperation zwischen Kurden und Arabern auch ist, so sehr waren die YPG auch in Tel Hamis auf sie angewiesen. Wie in den nördlichen und südlichen Nachbarorten Tel Brak und al-Yarubiyah leben in Tel Hamis nahezu ausschließlich Araber. Nicht wenige von ihnen begrüßten ursprünglich die Offensive der Dschihadisten gegen die syrische Armee und die Kurden seit 2012, hießen die Aufständischen in ihren Häusern willkommen. Doch schon nach wenigen Monaten überwarf man sich meist mit ihnen, die religiösen und politischen Differenzen zwischen Salafisten und ihren Gastgebern waren nur schwer zu überbrücken. Nicht wenige Stammesführer wurden daraufhin entführt, mehr als 80 Prozent der Bevölkerung floh in die kurdischen Gebiete.
Lediglich aus Tel Hamis kam nie solch ein Hilferuf an die YPG. Ob die örtliche Bevölkerung die Ideologie der Dschihadisten teilt, oder – wie YPG-Vertreter nicht müde werden zu betonen – sie in ihrer eigenen Stadt als Geiseln gehalten werden, ist aktuell unmöglich zu überprüfen. Angaben darüber, welche politischen Allianzen der Islamische Staat mit den jeweiligen Stämmen geschlossen hat, gibt es kaum. Bis zuletzt war die lokale Bevölkerung offenbar bereit, sich dem Kampf gegen die Kurden anzuschließen: „Der Scharabiya-Stamm unterstützt ISIS bei ihrem Kampf gegen die Kurden. Wir hatten noch nie ein gutes Verhältnis zu ihnen; es ist richtig, ihnen nicht zu vertrauen“, so Hussein al-Khaddar.
Tel Hamis rückt die politische Führung in schlechtes Licht
Was den Kampf um Tel Hamis für die kurdischen Milizen so schwer machte, lässt auch an der politischen Führung der syrischen Kurden zweifeln: Weder konnten die YPG auf lokale Verbündete zurückgreifen, noch hatten sie eine politische Perspektive, den Ort nach einer Eroberung erfolgreich zu verwalten. Der Ort hätte sich nicht freiwillig ins kurdische Staatsgebiet integriert.
In den frühen Morgenstunden des 6. Januar zogen sich die YPG hastig aus Tel Hamis zurück. Was viele Politiker der Regierungspartei PYD einen geordneten Rückzug nannten, war tatsächlich wohl überstürzte Flucht. Innerhalb weniger Stunden waren 39 kurdische Milizionäre an den drei Frontabschnitten gefallen, so viele wie nie zu vor an einem einzigen Tag während des Bürgerkrieges. So schnell machte man kehrt, dass 31 Leichen auf dem Schlachtfeld zurückgelassen wurden. Auf Twitter und Facebook veröffentlichten die Dschhadisten Fotos der von ihnen in einem Massengrab verscharrten Leichen, freuten sich nach Monaten der Niederlagen endlich über einen Sieg.
Für den Frontverlauf hatte die Niederlage in Tel Hamis weitreichende Konsequenzen – für mehrere Wochen fiel auch Tel Brak wieder in die Hände der Islamisten, mehrfach fielen Dschihadisten in das nahegelegene Dorf Tel Marouf ein, zerstörten dort die Gräber kurdischer Mystiker. Und immer wieder schlüpfen Selbstmordattentäter erfolgreich durch das enge Netz der Checkpoints hinein nach Qamischli.
Die Vorwürfe der kurdischen Oppositionsparteien im KNC nehmen darum auch nicht ab. Tel Hamis bleibt ein brisantes Thema. Ihnen spielt in die Hände, dass die YPG zwar formal unabhängig sind, faktisch jedoch nicht nur ideologisch große Gemeinsamkeiten mit der sozialistisch geprägten Regierungspartei PYD aufweisen. 2003 gründeten syrische Mitglieder der türkischen Arbeiterpartei PKK, allesamt Veteranen des jahrzehntelangen Guerillakrieges, die PYD. Seit ihrer Gründung ringt sie mit den vom nordirakischen Präsidenten Masud Barsani unterstützten Parteien des KNC um die Herrschaft über die syrischen Kurden. Letztere sind dabei überaus erfolglos und verweigern inzwischen in weiten Teilen die Zusammenarbeit mit der PYD, was diese zu einem noch forscheren Vorgehen verleitet.
Die Gretchenfrage: wie es halten mit der Expansion?
Nach der Niederlage in Tel Hamis herrschte in den offiziellen kurdischen Medien lange Schweigen, knappe Statements des YPG-Sprechers Redur Xelil über eine erfolgreiche Operation gegen ISIS-Terroristen liefen über die Ticker. Währenddessen verbreiteten sich Gerüchte über die sozialen Medien. „Das nächste Mal sollte die Informationspolitik besser sein. Dass Zahlen wie 300 Tote in Umlauf kamen, war ein Fehler, die Namenslisten der Toten hätten klarer sein müssen“, beschwichtigt Mohamed Kamal, Präsident des PYD-nahen PR-Büros Yekîtiya Ragihandina Azad.
„Wir haben kein Recht, in arabischem Gebiet Truppen zu stationieren“, betont hingegen Omar Rasul, KNC-Vertreter in der Stadt al-Malakiya. „Tel Hamis war ein Fehler. Und wann immer bei den YPG ein militärischer Fehler geschieht, ist das auch ein Fehler der politischen Führung. Schließlich kam der Befehl, Tel Hamis anzugreifen, auch aus der Politik.“
In der Tat gibt es in keiner der kurdischen Parteien eine klare Definition dessen, was Rojava ist und wo es endet. Die Vision der PYD und ihres Vorsitzenden Salih Müslims ist eine Selbstverwaltung aller Ethnien im Nordosten Syriens, gleich ob Araber, Kurden oder Assyrer. „Wir sehen darin eine Lösung für den Konflikt in ganz Syrien. So lange mit Waffen gekämpft wird, geht es immer um totale Herrschaft. Mit der demokratischen Selbstverwaltung hingegen wollen wir eine Lösung sowohl für die kurdischen wie auch die nicht-kurdischen Gebiete Syriens vorstellen“, erklärt PYD-Parteistratege Aldar Xalil.
Zuletzt lieferten sich die YPG auch heftige Gefechte mit dem Islamischen Staat im weitgehend arabischen Umland von Tel Abyad, westlich von Qamischli. Offiziell soll die kurdische Hauptstadt vor den Islamisten geschützt werden; genauso sind die YPG aber auch an der Kontrolle des Grenzübergangs zur Türkei in Tel Abyad interessiert und die Scharmützel sollen Druck von der kurdischen Enklave Kobane nehmen, die kaum 60 Kilometer entfernt von Islamisten belagert wird. Jeder weitere Hektar Land, den die YPG bis zum erwartbaren Ende des Islamischen Staates erobern, auf syrischer wie auf irakischer Seite, wäre faktisch eine Ausdehnung kurdischen Gebiets – in den Augen mancher kurdischer Politiker die einzige Garantie, dass das Autonomieprojekt überleben kann, in den Augen anderer Politiker der Grund, weshalb es letztendlich scheitern wird.
Wo sie erobert, muss die kurdische Selbstverwaltung Mitbestimmung ermöglichen
Dass YPG-Sprecher Polat Can im Gespräch süffisant betont, wie unwichtig Tel Hamis letztendlich für die kurdische Frage sei, ist ein rhetorisches Manöver: „Es geht um den Kampf gegen al-Qaida insgesamt – dafür verbünden wir uns zur Not auch mit der Freien Syrischen Armee, dafür ziehen wir zur Not auch bis Damaskus.“ Das eigene Expansionsstreben offen zuzugeben, traut sich kaum ein kurdischer Politiker – auch aus Angst, Baschar al-Assad könnten die Gebiete nach Ende des Krieges wieder zurückfordern.
Das Verhältnis zwischen Kurden und Arabern war bereits vor der Gründung des Islamischen Staates komplex und mit einer schwierigen Vergangenheit belastet. Anhaltende Ressentiments gegen Araber und arabische Minderheiten auf kurdischem Gebiet sind ein Problem, gegen das die kurdische Selbstverwaltung mehr als nur symbolische Gesten bieten muss. Sie muss den arabischen Stämmen ein echtes Angebot und politische Beteiligung anbieten – sonst bleibt ihnen keine Alternative als die Stämme als stetes Sicherheitsrisiko für das Bestehen einer kurdischen Autonomie zu betrachten. Dass dieser Weg nicht einfach und Misstrauen oft auch berechtigt ist, zeigen die Toten von Tel Hamis. Langfristige Friedenslösungen können nur auf lokaler Ebene erarbeitet werden.