Recep Tayip Erdogan hat die Präsidentschaftswahlen in der Türkei für sich entschieden. Das deutliche Wahlergebnis täuscht darüber hinweg, dass die Widerstände gegen seine Person wachsen. Hat der langjährige Regierungschef seinen Zenit überschritten? Eine Einschätzung des in Berlin lebenden, türkischen Journalisten Ahmet Salih Yurdakul.
„Er kann nicht mal ein 'Muhtar' (Dorfvorsteher) werden”, lautete eine Schlagzeile im Jahre 1998, als Recep Tayip Erdogan nach Artikel 312, § 2 des damaligen türkischen Strafgesetzbuches zu zehn Monaten Gefängnis und lebenslangem Politikverbot verurteilt wurde. Er hatte, so die Richter, gegen das gesetzliche Verbot der Volksverhetzung aufgrund von Klasse, Rasse, Religion, Konfession oder regionalen Unterschieden verstoßen. Schließlich kam es ganz anders: Erdogan führte seine Partei AKP nicht nur bei den Parlamentswahlen 2002, 2007 und 2011, bei den Kommunalwahlen 2004, 2009 und 2014 sowie bei den Volksentscheiden in den Jahren 2007 und 2010 zu Triumphen, sondern erhöhte auch ihren Stimmenateil stetig - von 34,28 Prozent (2002) auf 49,83 Prozent (2011). Die vorläufige Krönung seiner politischen Laufbahn folgte nun in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen. Mit einer absoluten Mehrheit von 51,7 Prozent der Stimmen wurde er im ersten Wahlgang gewählt.
Trotz Topergebnis – Erdogan verliert stetig an Rückhalt
In den ersten Jahren seiner Regierungszeit verhalfen Themenschwerpunkte wie der EU-Beitritt und die Demokratisierung der Türkei Erdogan zu großer Popularität. Der Boom der türkischen Wirtschaft tat sein übriges. Weitere Pluspunkte sammelte der damalige Premier angesichts greifbarer Fortschritte in der „Kurdenfrage". Erdogans entschiedenes Vorgehen gegen den sogenannten „tiefen Staat", das im Ergenekon-Prozess gipfelte, ließ ihn für viele als Vorkämpfer gegen den alten, autoritären Machtapparat erscheinen.
Mit den Parlamentswahlen 2011 bekam jedoch Erdogans weithin positives Image erste Kratzer. So versprach er im Vorfeld eine Veränderung des vom Militär im Anschluss an den Putsch von 1980 geschriebenen Grundgesetzes, was ihm zu einem überragenden Wahlergebnis verhalf. Der Ankündigung folgten keine Taten. Seiher polarisiert Erdogan wie kein anderer Politiker. Entscheidungen wie die „Regelung" des Alkoholkonsums nach 22 Uhr, die Sperrung von Internetprtoalen wie Youtube und Twitter sowie der Umgang mit den Gezi-Protesten haben ihm sowohl innerhalb als auch außerhalb der Türkei massiv Kritik eingebracht. Nimmt man das verheerende Bergbauunglück in Soma und die Korruptionsvorwürfe gegen Erdogan Anfang des Jahres hinzu, konnte der scheidende Premier am Vorabend des Urnengangs seinen Anhängern kaum Positives vorweisen. Also versteifte er sich beim Wahlkampf darauf, Konkurrenten wie Kritiker als vermeintliche Feinde der türkischen Nation zu dämonisieren: Ob westliche Kräfte, Finanzlobbyisten, die „Capulcus" der Geziproteste, die Gülenbewegung, Kemalisten – all diejenigen, die, so Erdogan, gegen eine starke Türkei seien, bekamen ihr Fett weg. Die Strategie hat funktioniert. Die Masse, die von „goldenen alten Zeiten” träumt, hat ihm seine Aussagen gerne abgekauft.
Was nun?
Die geringere Wahlbeteiligung (74,13 Prozent) hat ebenfalls zum Sieg Erdogans beigetragen. Bei den Kommunalwahlen im März 2014 lag diese noch bei 89,2 Prozent. Mehr als 14 Millionen Wahlberechtigte gingen dieses Mal nicht wählen, und so konnte Erdogan mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen, ohne die Anzahl seiner Gesamtstimmen im Vergleich zu den Lokalwahlen deutlich zu erhöhen. Ein wichtiger Grund für die geringere Wahlbeteiligung war, dass viele sich durch die drei aufgestellten Präsidentschaftskandidaten nicht vertreten fühlten. Zudem zeigt das Wahlergebnis, dass die Taktik der wichtigsten oppositionellen Gruppen, für die erste Runde nicht mehrere Kandidaten aufzustellen, falsch war, da der Kompromisskandidat Ihsanoglu von den Kemalisten, Nationalisten, linken sowie liberalen Strömungen nicht genug Wählerstimmen erhielt. Mehrere Kandidaten, die die volle Unterstützung der jeweiligen Strömung bekommen hätten, hätten eine absolute Mehrheit Erdogans im ersten Wahlgang verhindern können. Nicht zuletzt hatten Umfragen kurz vor der Wahl, die einen Sieg Erdogans mit deutlich über 50 Prozent vorhersagten und der Glaube an Wahlmanipulationen oppositionelle Wählerinnen und Wähler entmutigt.
Die Agenda der Themen, die zukünftig in der Türkei diskutiert werden, wird nun – wie schon in den vergangenen zwölf Jahren – Erdogan und seine AKP bestimmen. Aber dieses Mal wird es noch mehr um Innerparteiliches gehen. Wer nach Erdogan der nächste Parteivorsitzende und Ministerpräsident wird, besser gesagt wen Erdogan beruft, wird seit Langem spekuliert. Nachdem der noch amtierende Präsident Abdullah Gül im Anschluss an die Wahlen bekannt gab, nach der Amtsübergabe am 28. August wieder aktiv in der AKP mitwirken zu wollen, hat die Parteiführung sofort einen Parteitag für den 27. August beschlossen, sodass Gül nicht kandidieren kann. Dass die Amtsperioden von Abgeordneten aufgrund einer AKP-internen Regel auf drei beschränkt sind und somit 72 Volksvertreter bei den Parlamentswahlen 2015 nicht wiedergewählt werden können, stellt für die Partei eine weitere Herausforderung dar. Auch Erdogans Äußerungen während der Wahlkampagne, dass er ein „schwitzender", also aktiver und keineswegs nur repräsentativer Präsident sein will, weisen darauf hin, dass auch zukünftig heftige Debatten um seine Rolle im politischen Tagesgeschäft der Türkei nicht fehlen werden.