Heute beginnt in Syrien die Präsidentenwahl mitten im Krieg. Ein wie auch immer gearteter Sieg von Amtsinhaber Bashar al-Assad gilt als sicher, doch einen Gegner kann er nicht besiegen: Immer noch bilden Medienaktivist_innen eine große Gefahr für das Regime. Sie dokumentieren die Ereignisse für ein kollektives Gedächtnis im Syrien nach Assad. Eine Arbeit zwischen den Fronten.
Die einfachen Smart-Phone-Nutzer_innen übernahmen die Pionierrolle in Syriens Bürgerjournalismus. Doch je länger die Revolution andauerte und je mehr sich parallel dazu ein anhaltender brutaler Konflikt entwickelte, änderte sich die Rolle der Journalist_innen. Es geht mittlerweile nicht mehr einfach nur um die Verbreitung von Nachrichten und um das Gehört- und Gesehenwerden. Längst hat die Dokumentation der Geschehnisse, das Filmen nicht nur von Gräueltaten, sondern auch vom Alltag in den verschiedenen Gebieten, eine andere Ebene erreicht: Das Ziel ist, ein (zeit-)historisches oder auch kollektives Gedächtnis mitten in Revolution und Krieg zu entwickeln.
Was haben wir erlebt, was wurde uns angetan, wie sind wir mit Gewalt und dem Zusammenbruch der staatlichen Strukturen umgegangen? Das sind die Hauptfragen, die sich Filmemacher_innen, Bild- und Schriftjournalist_innen täglich stellen. Die Dokumentation vor allem ihres Alltags soll später einmal dazu dienen, Krieg und Revolution aufzuarbeiten – auch vor Gericht. Doch das steht in weiter Ferne. Bisher sind die Medienaktivist_innen in Syrien auf vielen Ebenen die Verlierer_innen.
In den vergangenen Monaten haben in Syrien etliche Waffenstillstandsverhandlungen auf lokaler Ebene stattgefunden. Betroffen waren neben den bewaffneten Gruppen zivile Aktivist_innen – das essenzielle Herzstück der syrischen Revolution. Bei diesen Verhandlungen wurden ausschließlich die Interessen des Regimes und der bewaffneten Gruppen berücksichtigt. Die zivilen Aktivist_innen blieben weiterhin vom Regime gesucht und unter Lebensgefahr, da es für sie auch nach den Waffenstillstandsverhandlungen keinen Weg gab, die Gebiete zu verlassen. Ganz konkret stellt sich die Frage: Warum kann ein Ausgleich für bewaffnete Gruppen gefunden werden, nicht aber für zivile Aktivist_innen und insbesondere Medienaktivist_innen? Dies hängt mit der Rolle zusammen, die Medienaktivismus im derzeitigen syrischen Kontext spielt.
Lokale Waffenstillstände als Lösung?
Bei den lokalen Waffenstillstandsverhandlungen gab es unterschiedliche Modelle der „Aussöhnung“. Im Damaszener Stadtteil Barza etwa entstanden gemeinsame Checkpoints von Freier Syrischer Armee (FSA) und Regimearmee. In anderen Stadtteilen konnten FSA-Kämpfer wieder in die Regimearmee eingegliedert werden. In wiederum anderen sind sie einfach nach Hause gegangen. All das zeigt, dass das Regime durchaus mit der Existenz bewaffneter oppositioneller Gruppen umgehen und diese auch in ihren Diskurs einbinden kann.
Die friedlichen Aktivist_innen, die politischen oder zivilen Tätigkeiten in den Gebieten nachgegangen sind, die das Regime nicht kontrolliert, spielten bei diesen Verhandlungen keine Rolle. Es ist kein Fall bekannt, in welchem die zivilen Aktivist_innen die von Waffenstillständen betroffenen Gebiete als Ergebnis der Verhandlungen verlassen durften. Im Gegenteil: Sie sind es, die bei den Checkpoints sofort verhaftet werden. Da sie mit dem Fortsetzen ihrer Arbeit auch ein Dorn im Auge vieler oppositioneller bewaffneter Kräfte sind, besteht für sie überall Gefahr.
Über den Waffenstillstand in Qudsayya schmunzelt man, dass dort FSA und Regimearmee nun zusammen Fußball spielen. Ein gemeinsames Fußballspiel zwischen Bürgerjournalist_innen und regimetreuen Journalist_innen, gemeinsame Berichterstattung? Undenkbar, denn sie sind es und nicht die bewaffneten Kräfte, die eine substanzielle und essenzielle Opposition gegen das Regime bilden, sie haben als Medienaktivist_innen neue Artikulationsinstrumente und -mechanismen geschaffen für die Syrer_innen, die 50 Jahre nur gleichgeschaltete Medien erlebt haben. Mit ihrer friedlichen Arbeit bieten sie eine reale Alternative zum Regime – und genau deswegen kann das Regime sie nicht einfach im Rahmen von Verhandlungen gehen lassen.
Medienaktivist_innen waren seit den ersten Demonstrationen nahe am Geschehen und dokumentierten es fortan unablässig. Das Bild- und Videomaterial der Bürgerjournalist_innen kratzt am dominanten Freund-Feind-Bild Assads, der die Aufstände gegen seine Regierung als Angriffe islamistischer Terroristen dazustellen versucht.
Ein prominentes Beispiel für die Entwicklung der vergangenen Monate bietet die Geschichte des Medienaktivisten Qusai Zakarya aus Moadamiya (s. Video). Moadamiya liegt westlich von Damaskus in der Nähe der Militärbasis der berüchtigten 4. Division. Ende 2013 einigten sich bewaffnete Kräfte und Vertreter des Lokalen Rates auf einen Waffenstillstand. Zakaraya war einer der wenigen Medienaktivist_innen, die in fließendem Englisch über die Chemiewaffenangriffe am 21. August reden konnten, beispielsweise mit den UN-Beobachtern, die einen der Hauptschauplätze der Angriffe untersuchen sollten. Während Zakarya zunächst noch offizieller Mediensprecher des Lokalen Rates von Moadamiya war, sagte er sich später von diesem offiziellen politischen Körper der Opposition los und machte sich mit einer Gruppe von Medienaktivist_innen „selbstständig“.
„Breaking the Siege“
Zum Zeitpunkt der Chemiewaffenangriffe litt Moadamiya nicht nur unter Giftgas; das Regime belagerte die Stadt und hungerte oppositionelle Stadtteile gezielt aus. Die ländliche Stadt bot in den Frühlings- und Sommermonaten noch kleine Räume zur Selbstversorgung; in den Wintermonaten wurden Nahrungsmittel jedoch gerade für Kleinkinder knapp. Es gab Hungertote. Aber wie kann auf Hungertote aufmerksam gemacht werden, die nicht einfach Opfer einer humanitären Situation und dem so viel beschworenen Bürgerkriegschaos sind, sondern von Waffengewalt und systematischem Aushungern?
Zakaryas Gruppe, das Medienbüro von Moadamiya, machte es vor mit der Kampagne „Breaking the siege“. Zakarya startete einen Blog, schrieb eine Art Tagebuch und dann begann er einen Hungerstreik, um die Hungerblockade des Assad-Regimes zu durchbrechen. Intellektuelle aus der ganzen Welt solidarisierten sich mit ihm im November 2013. Das Tagebuch machte den Alltag einer Bevölkerung, die eingeschlossen ist und durch Waffengewalt daran gehindert wird, ihr Viertel zu verlassen, greifbar (wie etwa der Eintrag vom 22. Dezember). Zakarya sprach über die für ihn alltäglichen Dinge, nicht über den schrecklichen Tod, den ein langsames Verhungern ausmacht. Die Hose, die ihm sein Bruder gegeben hatte und die eigentlich immer zu klein war, begann zu rutschen, weil er so viel Gewicht verlor.
Moadamiya – ein halb-urbanes Gebiet – verfügt über viele Olivenbäume, die nun die letzte Nahrung für die Bewohner_innen lieferten. Einen Teller mit Oliven und Weinblättern in der Hand trat Zakarya vor die Kamera, ohne dass sein Gesicht zu sehen war, und erklärte in fließendem Englisch seinen Hungerstreik. Während des Hungerstreiks kam es zu Waffenstillstandsverhandlungen, über welche er auch in seinem Tagebuch berichtete – und somit wieder das Geschehnis greifbar machte für all jene, die Syrien sonst „zu kompliziert“ finden.
Fast alle großen englischsprachigen Zeitungen griffen Zakarya und seine Kampagne auf. Anders als sonst, ohne lange Absätze, ob es sich nun um authentisches Material handelt oder nicht. Wohl der wichtigste Faktor waren die Sprachkenntnisse des Aktivisten: Nicht nur, dass er auf Englisch fließend kommunizieren konnte; ausländische Journalist_innen ohne Arabischkenntnisse konnten ihn nun auch kontaktieren. Auch hier kommt wieder das syrische Dilemma zum Tragen: Aufgrund der Sprachbarriere – viele Syrer_innen beherrschen Englisch nur unzureichend – wird den Aussagen von Aktivist_innen, die lediglich Arabisch sprechen, misstraut.
Ende 2013 kam es in Moadamiya zu Waffenstillstandsverhandlungen, und gegen bestimmte Konditionen – die erste unter ihnen war das Hissen der offiziellen Flagge des syrischen Staates – sollte Nahrung in das Viertel gelassen werden. Zudem sollten jene Leute, die nicht ursprünglich aus Moadamiya kommen, das Viertel verlassen – unter ihnen Bewaffnete und Zivilisten. Aus Sicht Zakaryas war die Revolution im Stadtteil erst einmal verloren. Als Aktivist wollte er in einen anderen Stadtteil oder ins Ausland ziehen, um seine Arbeit fortzusetzen. In den Waffenstillstandsverhandlungen wurde seinem Anliegen und seiner Gruppe keine Beachtung geschenkt, stattdessen bedrohte das Regime seine Familie in Damaskus. Zakarya ist inzwischen in den USA. Vor einigen Tagen sprach er vor der UN als Zeuge der Chemiegasattacken auf sein Stadtviertel. Er hat es aus dem Viertel herausgeschafft, aber nicht im Rahmen der von der internationalen Politik gelobten lokalen Waffenstillstände.
Von Snapshots mit dem Handy zu professionellen Dokumentationen
Es gibt zahlreiche weitere Mediengruppen, die wie Zakarya nicht darauf setzen, ein Bild von Syrien durch Videobilder blutender Menschen und tragischer Musik zu vermitteln, sondern durch die Dokumentation ihres Alltags. Noch in den ersten Tagen der politischen Bewegung war ein/e Medienaktivist_in vor allem jemand, der / die mit der Handykamera die Demonstrationen aufnahm und auf youtube lud. Der Welt zeigten diese Bilder, dass „sich etwas bewegt“ in einem Land, von dem viele vermutet hatten, dass sich niemals eine breite politische Bewegung entfalten würde.
Die Bilder waren oft verwackelt. Ihre Authentizität, der Ort und Zeitpunkt wurden angezweifelt. Die Aktivist_innen entwickelten Strategien, um dem entgegenzuwirken: Sie begannen, bei Videoaufnahmen Zettel mit Ort und Datum in die Kamera zu halten oder eine aktuelle Tageszeitung. Das Filmen selbst war riskant, ein Handy hochzuhalten bei solchen Demonstrationen gefährlich: Das Bild von friedlich singenden und tanzenden Demonstrant_innen widersprach der Assad-Propaganda, nach der die Protestierenden Terrorist_innen seien. Somit zielten Scharfschützen bewusst auf diese Medienaktivist_innen der ersten Stunde. Viele erlagen den Kopfschüssen.
Daher entwickelten sie Regeln für ihre Arbeit: Auch wenn es nach Ausbruch des Aufstands innerhalb eines Monats im ganzen Land Demonstrationen gab, so war der Sicherheitsapparat doch stark. Lange Kundgebungen waren die Ausnahme, oft veranstaltete die Bevölkerung sogenannte „fliegende Demonstrationen“, deren Wirkung sich vor allem medial entfaltete: An mehreren Orten in einer Stadt demonstrierte sie einige Minuten lang und verschwanden schnell wieder. Die Videos dieser Demonstrationen landeten auf youtube. So zeigten sie, dass die friedliche Bewegung zum Sturz des Regimes eine breite Basis hatte, die sich aber aufgrund der Gewalt des Regimes nicht in großen Demonstrationen äußern konnten.
Mit der Bewaffnung eines Teils der Bewegung und dem Rückzug des Regimes aus Teilen des Landes spielte diese Form der Medienarbeit aber nur noch eine untergeordnete Rolle. Auf politischer und ziviler Ebene ging es jetzt nicht mehr darum zu zeigen, dass eine politische Bewegung existierte. Es musste sich vielmehr um die Belange des Staates gekümmert werden. Mit dem Regime hatten sich auch in vielen Gebieten die staatlichen Strukturen zurückgezogen. Alternative Schulen und Stadtverwaltungen entstanden. Die Arbeit der Medienaktivist_innen konzentrierte sich darauf, diesen Prozess zu dokumentieren und transparent zu machen.
Die Interviewten werden selbstbewusst
Nicht nur die Arbeit der Medienaktivist_innen hat sich geändert, sondern auch ihre Inhalte. Mit der gewandelten Selbstwahrnehmung der Aktivist_innen, von Journalist_innen zu Dokumentierenden, veränderte sich auch ihr Gegenüber. War es vor der Revolution undenkbar, als „freischaffender“ Journalist ohne Genehmigung auf den Straßen Syriens herumzulaufen und Menschen zu befragen und dann auch noch eine ehrliche Antwort zu bekommen, so erschien das syrische Publikum zumindest in den befreiten Gebieten nun verändert.
Im Damaszener Stadtteil Yarmouk gibt es heute mindestens vier unabhängige Mediengruppen. Die Medienaktivist_innen geben den Bewohner_innen Raum, ihre Meinungen und Gefühle frei zu artikulieren – besonders wichtige Fragen im von Regime eingeschlossenen Stadtviertel: „Was hältst du von der Belagerung? Was isst du? Wie ist das so? Was willst du?“ Die Bewohner_innen antworten und die Antworten sind vielfältig. Teilweise fordern Passant_innen es ein, gefilmt zu werden. Auch, wenn die Mediengruppen überwiegend dezidiert pro-Revolution sind, so zeigen sie unzensiert auch pro-Regime-Aussagen. Mit Vielfalt und Pluralismus umgehen lernen – genau das macht für sie ihre Revolution aus. Aber für bewaffnete Oppositionelle und vor allem islamistische Gruppen stellt diese Berichterstattung eine Bedrohung dar – da sie eben auch eine Alternative zu ihren militärischen und islamistischen Diskursen bietet. Immer wieder richten sie Medienaktivist_innen gezielt hin – trotz beginnender Selbstzensur. Erst vor knapp acht Wochen wurde im Süddamaszener Viertel Tadamon der Medienleiter des Basiskomitees erschossen.
Das Dokumentieren der Medienaktivist_innen wird nicht erst politisch, weil sie für die eine oder andere Seite Stellung beziehen; es ist ein politischer Akt an sich: Die Gruppen verstehen, dass sie auch eine rechtliche Verantwortung haben. Was sie heute dokumentieren, wird nach dem Sturz des Regimes dazu dienen, Verantwortliche auf allen Seiten zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen. Das Gefilmte stellt aber auch das kollektive Gedächtnis einer Gruppe von Menschen dar, welche sich gerade in Revolution, Chaos und Krieg befindet. Indem sie Alltag und den Aufbau der alternativen Strukturen in den befreiten Gebieten filmen, entwickeln sie die politische Identität weiter.
Nach dem Sturz des Regimes, wenn es um das Schreiben von Geschichte geht, wenn die politischen Eliten eine (exklusive) Geschichtsversion entwerfen, werden die Archive der Aktivist_innen die Vielfalt des Erinnerns erhalten. Das Gedächtnis der verschiedenen sozialen und politischen Gruppen steht im Austausch mit den persönlichen Erfahrungen der Individuen. Denn zuletzt werden ganz verschiedene Gruppen zusammenkommen: Die im Land gebliebenen, in ihren Häusern oder als Binnenvertriebene; die Flüchtlinge in den Anrainerstaaten, pro- und anti-Regime, pro- und anti-Bewaffnung; jene im weiteren Exil. Ein Archiv kann dabei helfen, den Austausch verschiedener Perspektiven zu fördern.
Es sind die zivilen Aktivist_innen und nicht die Kämpfer_innen der Opposition, die bei den aktuellen lokalen Waffenstillstandsverhandlungen unter die Räder des Regimes kommen. Der traurige Fall des Yarmouker Medienaktivisten Hassan Hassan hat das deutlich gemacht. Hassan hatte mit einer Gruppe von Aktivist_innen, die Gruppe Ridd Fi´l gegründet. Eine Zeitlang luden sie wöchentlich neue Sketche, die das Alltagsleben im bombardierten und eingeschlossenen Yarmouk parodierten, ins Internet. Hassan hatte große Probleme mit den islamistischen Bataillonen im Viertel – einer der Gründe, warum er das Viertel verlassen wollte. Laut einer Abmachung auf lokaler Ebene sollte Hassan im Oktober vergangenen Jahres das Camp verlassen dürfen. Stattdessen wurde er am Checkpoint am Campausgang festgenommen und inhaftiert. Im Dezember erhielt die Familie Nachricht von Hassans Tod. Sketche und Kurzfilme über den Alltag in Yarmouk bedeuteten für Hassan Tod unter Folter.
Ein enger Freud von Hassan Hassan erinnert in einem Gespräch daran, wie scharf die Medienarbeit als Waffe sein kann: „Sie haben Hassan Hassan getötet, weil sie Angst vor seiner Arbeit hatten. Wenn ein so talentierter Künstler wie Hassan das Camp verlassen hätte, dann hätten wir das Regime medial schlagen können. Vor Hassans Tod war ein Aufgeben möglich. Jetzt nicht mehr. Wir werden das Regime genau da treffen, wo es am meisten wehtut.“