Hier im staubigen, südlichsten Zipfel des Westjordanlandes scheint Israel in weiter Ferne zu liegen. Doch das Leben hier ist geprägt von der täglichen Konfrontation mit israelischen Soldaten wie Siedlern - und der Zusammenarbeit mit israelischen Aktivisten gegen die Besatzung. Nach Teil I und Teil II ist dies der letzte Teil der Alsharq-Reportage aus Masafer Yatta.
Vor einigen Jahren schossen Siedler auch Kamil Mukhamris Mutter an. Familie Mukhamri lebt östlich von Tuba in Maghayir al-Abeed, was so viel heißt wie »Sklavenhöhle«. Er habe seine Mutter damals auf einem Esel ins Krankenhaus bringen müssen, erzählt Mukhamri, weil die Soldaten, die dabei standen, Unterstützung verweigerten. Sie hat sich nie ganz erholt.
Kamil Mukhamri, seine Mutter und einige Geschwister mit Familie und Kindern hausen seit Generationen rund um die »Sklavenhöhle«. Ein paar Stufen führen hinunter zum Eingang ihres Zuhauses, einem menschengroßen Loch im Fels. Haben sich die Augen an das Halbdunkel der Höhle gewöhnt, lässt sich der verwinkelte Innenraum ausmachen: Ein vielleicht zehn Quadratmeter großes, mit Matratzen ausgelegtes natürliches Podest dient als Schlaf- und Sitzecke. Der süße Empfangstee wird in einem Kocher im hinteren Teil der Höhle zubereitet, der als Küchenzeile dient. Durch einen schummrigen, engen Gang schauen ein paar Schafe aus dem zweiten Teil der Höhle herüber: Traditionell teilen sich Mensch und Tier abgetrennte Teile der Gewölbe, im Winter eine praktische Möglichkeit, sich gegenseitig Wärme zu spenden. Kamil Mukhamri ist der Einzige in Masafer Yatta, der die Höhle seiner Familie nach diesem traditionellen Schema und mit den hergebrachten Methoden instand hält.
Schießübungen, Siedlergewalt - aber wohin sollen sie sonst gehen?
Was aus seiner Familie und ihrer Heimstatt werden soll, sollte die Feuerzone geräumt werden – er weiß es nicht. »Ich bin über dreißig, aber bis jetzt reichte das Geld nicht, um eine Frau zu finden und zu heiraten«, erzählt er in besonnenem Ton, während seine Schwester Tee serviert. »Weggehen möchte ich trotzdem niemals von hier. Es ist mein Zuhause, unser Land. Wo anders könnte ich sein? Ich gehöre hierhin.« Eben ist sein Neffe – er mag wohl acht Jahre als sein – aus der Schule gekommen. Aufmerksam hört er seinem Onkel zu. Ob auch er sich der Höhle einmal so verbunden fühlen wird, lässt sein Ausdruck nicht erkennen.
Von der Autonomiebehörde und der Regierung von Präsident Mahmud Abbas halten sie in Masafer Yatta – wie überhaupt die meisten abseits der privilegierten Städte – wenig. In den vergangenen Jahren schauten einige seltene Male Regierungsbeamte in Masafer Yatta vorbei und informierten sich über die Situation hier im C-Gebiet, in dem die PA nicht offen agieren darf (siehe Infoblatt). Auf die Besuche folgte bislang nie praktische Hilfe. Die leisten zumeist ausländische Initiativen, die sich damit freilich in das Dilemma begeben, die Besatzungsmacht in ihren Versorgungspflichten zu entlasten. Für Mohammad Al-Hamand, einen charismatischen Familienvater aus Al-Mufagara nahe Tuba, greifen die Gewalt der Besatzung und die Abhängigkeit von Hilfe ineinander: »Wir lebten schon immer in Höhlen. Bevor die Besatzung und die Besiedlung begannen, war es ein Leben in Würde.«
Seit bald 15 Jahren dauert das Verfahren um Feuerzone 918 an. In dieser Zeit ist die Bevölkerung in Masafer Yatta weiter gewachsen. Ihre Dörfer weiterzuentwickeln aber ist den Palästinensern untersagt: In dem Sperrgebiet darf nicht gebaut werden, wie in C-Gebieten generell nur mit der Genehmigung israelischer Behörden. Die wird praktisch nie erteilt. Um die Familien unterzubringen, bauen die Anwohner trotzdem und müssen dann Strafen zahlen und mit Abriss rechnen. Inzwischen droht mehr als 80 Wohnstätten und rund 30 von Hilfsgeldern finanzierten Zisternen, Windturbinen und Solaranlagen in Masafer Yatta die Zerstörung.
Die Schule von Al-Fakhit liegt inmitten der Feuerzone
2009 eröffnete in Khirbet al-Fakhit die erste Schule in der Sperrzone. Auch die Schulräume sind mit Abrissbefehlen belegt. Die Schüler sind die ersten Kinder aus Masafer Yatta, die jeden Tag nach Schulschluss zu ihren Familien zurückkehren können: Bevor es die Schule hier gab, mussten Kinder zu Verwandten nach Yatta ziehen, um die Schule besuchen zu können, denn der Weg in die Stadt war zu weit und ein Transport mit dem Auto unmöglich. Viele Eltern konnten zudem das Schulgeld nicht aufbringen.
Es war Khader Amour, heute Schulleiter hier, der die Initiative zur Schulgründung in Al-Fakhit vorantrieb. Der ruhige und zugleich energische Mittvierziger stammt aus Al-Twani am Rande der Feuerzone. Auch er ging als Junge zur Schule nach Yatta, besuchte als einer der ersten die Universität und kam später zurück nach Masafer Yatta: »Ich wollte auch den Kindern hier die Möglichkeit bieten, zu lernen und sich zu entwickeln«, erzählt er. »Die Armee macht uns das Leben schwer, aber wir sind hier, und ich bin sehr glücklich, dass wir den Kindern diese Chance bieten können.«
Vor wenigen Tagen erst beschlagnahmte die Armee den neuen Jeep, der als Schulbus gespendet worden war. Der Fußweg zur Schule ist lang und gefährlich: Militäreinheiten trainieren hier, schon mehrmals kam es zu Unfällen, als Kinder mit Munitionsresten spielten. Eine zusätzliche Bedrohung geht von manchen der Siedler aus: Sie haben Kinder auf dem Schulweg wie auch Erwachsene so oft und schwer angegriffen, dass die Armee sich gezwungen sah, eigens Soldaten dazu abzustellen, die Schüler zu eskortieren. Erscheinen sie nicht, gehen die Schüler gemeinsam mit ausländischen Volontären, die inzwischen in Masafer Yatta leben.
Das Leben unter der Besatzung hat Abhängigkeiten geschaffen
Alltag in Masafer Yatta wäre in dieser Form nicht möglich, hätten die Menschen hier sich nicht für die Zusammenarbeit mit Akteuren von außen entschieden. Wie alles begann, kann keiner mehr so genau sagen, doch seit Ende der 1990er Jahre ist ein Netzwerk von Aktivisten entstanden. Vielleicht ist es Ezra Nawi, der alles ins Rollen gebracht hat. Der 61-jährige jüdische Israeli ist Teil der Bewegung Ta’ayush – Arabisch für »Zusammenleben« –, die sich als jüdisch-arabische Gruppierung dem gewaltlosem Widerstand verschrieben hat. Ta’ayush setzt auf praktische Aktionen der Solidarität: Freiwillige begleiten Hirten oder helfen auf den Feldern, um Palästinenser vor Übergriffen durch Soldaten oder Siedler zu schützen. Schutz können sie nur bedingt bieten, aber sie können Geschehenes dokumentieren oder mäßigend auf die Armee einwirken.
Ezra Nawi ist in Masafer Yatta bekannt wie ein bunter Hund. Als Kind irakischer Einwanderer spricht er Arabisch und geht bei den Familien hier ein und aus. Für Ta’ayush ist er so etwas wie das zentrale Bindeglied zur Bevölkerung. Denn die Aktivisten genießen in Masafer Yatta bei weitem kein unerschütterliches Vertrauen: Im Kontext der Besatzung kostet die Zusammenarbeit von Israelis und Palästinensern einiges an Überwindung. In Palästina gilt schnell als »Verräter«, wer sich nach Jahren der Besatzung und gescheiterter Gespräche noch mit Israelis einlässt. In Israel wiederum hat sich nach zwei Aufständen bei vielen das Bild des palästinensischen Terroristen eingebrannt.
Ta’ayush und die Menschen vor Ort haben es jedoch geschafft, ihre Zusammenarbeit auch über schwierige Phasen hinweg aufrechtzuerhalten – sogar über die Jahre der Zweiten Intifada. Auch Entwicklungsprojekte sind über Ta’ayush Rollen gekommen. So ist Ezra inzwischen auch für Comet Middle East tätig, eine unter anderem aus Deutschland finanzierte Organisation, die alternative Energieanlagen zur nachhaltigen Stromversorgung in der Region entwickelt und in 25 Dörfern erfolgreich installiert hat. Windräder und Solarpanele erzeugen Strom für rund 1.600 Menschen. Bis 2011 erhielt Comet direkte finanzielle Unterstützung vom deutschen Vertretungsbüro in Ramallah – der »Botschaft« in den besetzten Gebieten – und damit indirekt aus dem deutschen Außenministerium. Dass die Bundesrepublik das Projekt im C-Gebiet unterstützte, ist erstaunlich, gerät man doch deutlich in Konflikt mit den Institutionen der Besatzung.
Im Team arbeiten palästinensische und israelische Ingenieure zusammen. Die Menschen vor Ort werden möglichst mit einbezogen, jede Anlage wird an die Gegebenheiten und an die Bedürfnisse der jeweiligen Familien angepasst. Auch wird der Strom nicht verschenkt: Die Anwohner zahlen 60 Agorot, etwa 14 Cent, pro Kilowattstunde. Einnahmen gehen in die Instandhaltung, über die gemeinschaftlich entschieden wird. Für 15 der Solar- und Windkraftanlagen gibt es inzwischen eine Abrissorder.
»Es hat sich vieles verändert mit dem Strom«, sagt Mahmuds Frau Mariam in Tuba. Sie ist heute nicht mehr über ein Waschbrett gebeugt, sondern nimmt die Wäsche aus der Maschine. Mit dem Solarpanel hielt 2009 auch der erste Fernseher Einzug in ihr Zelt. Die Kinder mögen die schrillen amerikanischen Kindersendungen, Mariam selbst liebt Bollywood. Vor kurzem war eine junge indische Volontärin mit Comet hier, da lag Indien auf einmal gar nicht mehr fern.
Der Fernseher bringt Bilder aus der ganzen Welt in die Höhle. Jerusalem aber bleibt ohne Genehmigung unerreichbar
Ezra schaut oft in Tuba vorbei und erlebt die Veränderungen mit, die auch seine Arbeit hier bringt. »Auch Stromversorgung kann man kritisch hinterfragen: Elektrizität bringt die Moderne«, sagt er. »Das kann man gut oder schlecht finden, aber ich denke, das Leben steht nicht still.« Ezra weiß um den schmalen Grat, auf dem hier alle gehen: Inwieweit sich gegen die Autoritäten stellen, wenn es die Palästinenser sind, die am Ende unter möglichen Folgen zu leiden haben? Was unterstützt wirklich? Wann beginnt die Bevormundung?
Die Unterstützung von außen hat in Masafer Yatta einiges bewirken können, und doch sind die Menschen, die vorerst bleiben konnten, heute gebundener, abhängig von Unterstützung – und leben trotz allem weiter mit einer ungewissen Zukunft. Shlomo Lecker, einer der prominentesten israelischen Menschenrechtsanwälte und Vertreter der Kläger aus Masafer Yatta, weiß um diese Unsicherheit: »Israel hat hier eine Rechtsordnung geschaffen, die durch und durch politisch ist. Für Masafer Yatta bedeutet der juristische Weg vor allem Zeitgewinn.«
Das Gerichtsverfahren möge geholfen haben, dass die Bewohner vorerst in ihrer Heimat bleiben und ihren Besitz behalten können; aber langfristig, glaubt der Anwalt, würden Armee und Regierung die Präsenz der wandernden – und inzwischen gut vernetzten – Anwohner im Grenzland nicht dulden. Solche pessimistischen Einschätzungen, aber auch das »Trotzdem klagen wir an« sind unter Menschenrechtlern in Israel und Palästina mittlerweile Grundtenor.
Das Ergebnis des Schlichtungsverfahrens soll im Frühjahr vorgestellt werden. Ob in diesem Jahr tatsächlich ein Urteil ergeht, ist fraglich.
Die Reportage entstand in Zusammenarbeit mit dem Fotografen Eduardo Soteras Jalil. Eduardo, geb. 1975 in Argentinien, hat rund eineinhalb Jahre in Masafer Yatta gelebt. In dieser Zeit ist eine einzigartige Bildreportage zum Leben in der Region entstanden. Zur Zeit tourt die Ausstellung "Masafer - Life in the Interstice" Palästina. Mehr Informationen unter eduardosoteras.com.
Dieser Artikel ist Teil einer dreiteiligen Reportage. Hier geht es zu Teil I und Teil II.