10.04.2014
Leben unter Feuer
Blick über die Feuerzone 981 vom Dorf Ahmadi. Foto: Eduardo Soteras Jalil (C)
Blick über die Feuerzone 981 vom Dorf Ahmadi. Foto: Eduardo Soteras Jalil (C)

Am äußersten südöstlichen Ende des Westjordanlands leben seit Generationen halbnomadische Viehzüchter in Höhlen. Beharrlich wehren sie sich gegen die Vertreibung durch die israelische Armee. Der Widerstand ist ehrbar – und er hat seinen Preis.

Teil I / III der Reportage aus Masafer Yatta

Die Hauptstraße von Jerusalem gen Süden führt vorbei an Bethlehem in eine Hügellandschaft voller Weinreben und Siedlungen. Nach rund einer Stunde, kurz hinter der Provinzhauptstadt Hebron, werden die Straßen leer. Und mit einem Mal, hinter einer Biegung, öffnet sich die Landschaft, und der Blick fällt auf schier endlose, ausgedörrte Bergketten. Nach Osten hin fallen sie jäh ab zum Toten Meer, hinter dem sich an klaren Morgenden die Steilhänge der jordanischen Hochebene am Horizont auftürmen. Mittags schon verschwimmen die Konturen im Staub der Halbwüste.

Auf den zweiten Blick ist diese Weite kleinteiliger, als ihre Kargheit erwarten lässt: Wege durchziehen die Täler, es lassen sich Ansiedlungen ausmachen. Masafer Yatta, dieser entlegene Landstrich am südlichen Ende des Westjordanlands, birgt manche solcher unvermittelten Widersprüche. Um diese öde, auf den ersten Blick menschenleere Gegend tobt seit Jahren ein heftiger Streit.

Die Lebensweise hat Generationen überdauert

Im Arabischen lässt sich ‚Masafer’ als ‚Ort des Reisens’ herleiten. Masafer Yatta bezeichnet die Umgebung der Kleinstadt Yatta. Rund 1.300 Menschen leben dort, in der äußersten ländlichen Peripherie Palästinas. Die Umwelt ist harsch, doch bieten die felsigen Hänge eine Vielzahl natürlicher Höhlen, in denen seit Generationen Hirten mit ihren Tieren Schutz finden. Einzelne Familien haben sich in und um die Höhlen angesiedelt und diese über Jahrzehnte hinweg wohnlich ausgebaut; sie dienen ihnen als Schlafstätte, Küche und Wohnräume zugleich. In den kleineren Höhlen und in Bretterverschlägen kommen die Ziegen und Schafe unter, von deren Milch und Fleischerzeugnissen die meisten hier ihren Lebensunterhalt bestreiten.

Traditionell leben die Menschen in der Gegend halbnomadisch: Als – noch unter den Osmanen – das Land knapp wurde in Yatta, zogen ärmere Familien mit ihrem Vieh in die Masafer. Von Herbst bis Frühjahr wanderten sie mit den Schaf- und Ziegenherden, in der größten Sommerhitze zogen sie sich nach Yatta zurück.

Diese Lebensweise hat im Grunde überdauert. Die politischen Entwicklungen in der Region aber haben auch Masafer Yatta eingeholt. Der Staat der Moderne bedarf fester Grenzen und eindeutiger Besitzverhältnisse, und er fordert: Sesshaftigkeit. Und Israel, das das Westjordanland seit 1967 besetzt hält, hat eigene Pläne für das Land hier.

Die Hirten leben in einer Feuerzone

Masafer Yatta ist Grenzgebiet, es liegt am untersten südöstlichen Abschnitt der Grünen Linie – der seit dem Waffenstillstand von 1949 geltenden Demarkation zwischen dem Westjordanland und Israel. Hier in der Wüste ist die Grenze nicht befestigt, man schätzt die Bedrohung durch »Eindringlinge« wohl gering ein. Der Landstrich ist Teil der C-Gebiete des Westjordanlandes und vereint in sich einige der wohl drastischsten Aspekte israelischer Kontrolle in diesen Zonen (siehe Infoblatt). Weite Teile von Masafer Yatta wurden Ende der 1970er Jahre als »Feuerzone 918« zu militärischem Sperrgebiet erklärt. Seither ringen die Menschen hier um ihr Recht auf Land, Sicherheit und Lebensunterhalt.

Mahmud Awad lebt mit seiner Familie um die Höhlen von Tuba, zu denen erst seit wenigen Monaten eine holprige Schotterpiste führt. Er ist 35, hat sein ganzes Leben in der Sperrzone verbracht – wie schon seine Eltern und Großeltern. »Schlimm war 1999«, sagt Awad. »Da hat die Armee die Feuerzone geräumt, alle Menschen vertrieben und Zelte zerstört.«

Etwa 700 Bewohner waren damals betroffen. Einige taten sich zusammen und klagten vor Gericht. 2000 erließ Israels Oberster Gerichtshof eine einstweilige Verfügung und erlaubte einigen der Kläger, vorübergehend zurückzukehren. Seither sind Armee und Bewohner in ein schleppendes Gerichtsverfahren verwickelt.

Der Fall ist verworren, im Kern aber geht es um die Frage, wer zuerst da war: Armee oder Anwohner. Die israelische Armee argumentiert, dass die Palästinenser illegal in dem Gebiet leben. Auf Anfrage erklärte ihr Pressesprecher: »Das Areal wird seit vielen Jahren für militärische Trainings genutzt, und erst vor kurzer Zeit haben Menschen versucht, sich dort illegal anzusiedeln.« Die saisonal geprägte Lebensweise lasse darauf schließen, dass die Menschen keine festen Bewohner seien. Nach Militärrecht darf die Armee ständige Bewohner eines Gebiets nicht dauerhaft für militärische Belange umsiedeln.

Die Bewohner widersprechen: Ihre Familien lebten seit Generationen in Masafer Yatta, und Landnutzung sei kein Maßstab für Besitztum. Tatsächlich können die meisten Besitztitel vorweisen, teils aus osmanischer oder britischer Zeit. Unterstützt werden die Kläger von israelischen Menschenrechtsorganisationen. Das Völkerrecht verbietet die Umsiedlung von Zivilisten innerhalb von oder aus besetztem Gebiet. Nur im Falle akuter Kampfhandlungen dürfen sie zeitweise evakuiert werden. Die gezielte Zerstörung ihres Eigentums ist verboten.

Über ein Jahrzehnt dauert das Verfahren an

Erst 2012 nahm das Gericht das Verfahren um die Feuerzone 918 wieder auf. In den zwölf Jahren seit der ersten Verhandlung war es zu einer Reihe weiterer Klagen und einstweiliger Verfügungen gekommen, die militärische Aktionen vorübergehend unterbanden, jedoch keine langfristige Rechtssicherheit schufen. Solche Verschleppungen sind üblich, wenn es um die besetzten Gebiete geht: Die gesetzliche Grundlage ist ein komplexes Stückwerk aus historischen Bestimmungen – Landnutzungsrechten aus osmanischer Zeit zum Beispiel – und militärischen Erlassen, die sich über die Jahrzehnte der Besatzung zu einem juristischen Flickenteppich zusammengesetzt haben.

Die eklektische Jurisdiktion hat sich dabei zumeist zugunsten der Besatzer entwickelt. Den Anliegen palästinensischer Kläger stehen – wie im Fall von Masafer Yatta – oft die Interessen mächtiger Akteure wie der Armee oder einflussreicher Siedlerorganisationen gegenüber. In einer Rechtsordnung, die nicht nur unter den Bedingungen der Besatzung entstanden ist, sondern diese zum Teil zu rechtfertigen hat, scheuen sich Richter oft vor Entscheidungen. Jedes Urteil könnte einen Präzedenzfall schaffen.

Im Fall von Masafer Yatta ordnete Israels Oberster Gerichtshof im Oktober 2013 an, ein Schlichtungsverfahren einzuleiten. Die Verhandlungen zwischen Vertretern der Kläger und des Militärs begannen im November, bislang sind sie nicht abgeschlossen.

Teil II der Reportage und Teil III der Reportage sind ebenfalls abrufbar. Der vollständige Text samt Fotostrecke wurden zuerst in der Märzausgabe der Zeitschrift Zenith veröffentlicht.

Der Fotograf Eduardo Soteras Jalil, geb. 1975 in Argentinien, hat rund eineinhalb Jahre in Masafer Yatta gelebt. In dieser Zeit ist eine einzigartige Bildreportage zum Leben in der Region entstanden. Zur Zeit tourt die Ausstellung "Masafer - Life in the Interstice" Palästina. Mehr Informationen unter eduardosoteras.com.

 

 

 

Lea ist seit 2011 bei Alsharq. Sie hat Internationale Politik und Geschichte in Bremen und London (SOAS) studiert und arbeitet seitdem als Journalistin. Mehrere Jahre hat sie in Israel und Palästina gelebt und dort auch Alsharq-Reisen geleitet. Lea ist heute Redakteurin bei der Wochenzeitung Die Zeit.