13.01.2014
Wegschauen macht mitschuldig: Deutschland und die Syrienkrise
Assad-Portraits in Damaskus. Eine syrische Übergangsregierung muss ohne den aktuellen Machthaber auskommen, sagt Ilyas Saliba. Bild: James Gordon (CC BY 2.0)
Assad-Portraits in Damaskus. Eine syrische Übergangsregierung muss ohne den aktuellen Machthaber auskommen, sagt Ilyas Saliba. Bild: James Gordon (CC BY 2.0)

Die Bundesrepublik muss ihrer internationalen Verantwortung gerecht werden und sich im Zuge der Syrien-Konferenz in Genf aktiv für eine friedliche Beilegung des syrischen Bürgerkrieges engagieren. Dabei ist die neue Bundesregierung eigentlich in einer guten Position, um eine diplomatische Mittlerrolle zwischen den Konfliktparteien und den internationalen Akteuren zu übernehmen. Ein persönlicher Appell von Ilyas Saliba

Viel zu lange hatte ich den Syrien-Konflikt verdrängt, ich wollte mich nicht mit der desaströsen Lage in Syrien befassen. Ich wohne in Deutschland, bin hier geboren und schreibe meine Doktorarbeit über die Umwälzungen in der arabischen Welt. Als Politikwissenschaftler und Sohn eines Syrers habe ich den syrischen Bürgerkrieg und das Leiden der Bevölkerung lediglich aus den Medien und durch unregelmäßigen E-Mail-Kontakt mit meiner dort lebenden Familie erfahren.

Die Ohnmacht gegenüber den eskalierenden Entwicklungen trieb mich in die Lethargie. Aus Angst traute ich mich kaum mehr, meine Familie nach ihrem Wohlbefinden zu fragen. Dieser selbstsüchtige Schutzwall aus Ignoranz und Teilnahmslosigkeit wurde durch die Ankunft meiner Cousine aus Syrien niedergerissen.

Syrien ist nun endgültig bei mir angekommen. Die Erzählungen von Entführungen und Vergewaltigungen durch Milizionäre, von tagtäglicher und willkürlicher Gewalt gegen Zivilisten konnte ich nicht mehr verdrängen. Sie rüttelten mich aus meinem Dornröschenschlaf. Der Krieg in Syrien findet so längst auch vor unserer Haustür statt.

Mittlerweile habe ich beschlossen, die Augen nicht mehr zu verschließen. Stattdessen will ich mich damit beschäftigen, wie ein Ende der Gewalt erreicht werden kann, vor allem in Hinblick auf die Rolle der Bundesrepublik – die eigentlich in einer guten Position ist, dazu beizutragen das Leid zu beenden.

Wenn der Krieg plötzlich vor der eigenen Haustür steht

Es geht ein geflügeltes Wort um: „Der Weg des Glücks beginnt am Flughafen“. Viele, die es sich leisten können oder Angehörige im Ausland haben (und Hunderttausende mehr, denen es an beidem mangelt), verlassen Syrien.

Während sich das Verhandlungsschauspiel auf der großen Bühne zwischen Diplomaten, Militärs und Regierungsoberhäuptern entfaltet, eskaliert die andauernde Tragödie für die namenlosen Flüchtlinge. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) bezeichnete die Situation unlängst als die schwerste Flüchtlingskrise seit dem Genozid in Ruanda 1994.

Vier Millionen Syrerinnen und Syrer sind innerhalb ihres eigenen Landes auf der Flucht. In den Anrainerstaaten Libanon, Jordanien, Türkei und dem Irak befinden sich laut offiziellen Zahlen des UNHCR bereits insgesamt mindestens zwei Millionen weitere Flüchtlinge. Im Libanon und in Jordanien stellen die syrischen Flüchtlinge damit bereits einen beträchtlichen Teil der Gesamtbevölkerung dar.

Für die im Land Gebliebenen werden die alltäglichen Lebensumstände immer verheerender. Preise für Lebensmittel, Kleidung und Waren des täglichen Gebrauchs haben sich im vergangenen Jahr verfünffacht. Parallel ist die Währungsabwertung enorm und verschärft die Ausweglosigkeit weiter. Die Inflation macht es selbst für viele syrische Familien außerhalb der Kampfgebiete fast unmöglich, ihren täglichen Bedarf an Nahrungsmitteln zu decken. Für Lebensmittel und Basisprodukte muss in vielen Regionen des Landes stundenlang angestanden werden.

Das Spielfeld der syrischen Tragödie

Angesichts der kritischen Situation vor Ort eröffnet der Beitritt Syriens zum Chemiewaffensperrvertrag neue Möglichkeiten für diplomatische Gespräche, die letztendlich einen Waffenstillstand zum Ziel haben müssen. Denn die Vernichtung der Chemiewaffen, wenn auch ein diplomatischer Erfolg, verbessert die Situation der Syrer nicht. Daher muss die zweite Syrienkonferenz im Januar 2014 das Ziel verfolgen, einen Friedensprozess in Gang zu setzten. Hierzu muss man die entscheidenden Spieler an einen Tisch bekommen. Dazu gehören Vertreter des Assad-Regimes, Anführer der wichtigsten Oppositionsbewegungen und der bedeutenden regionalen und internationalen Akteure.

Die Komplexität des Konfliktes lässt Beobachter und Experten buchstäblich kapitulieren. Auch deshalb gerät eine Debatte um die Lösung des Konfliktes in der Medienberichterstattung zunehmend in den Hintergrund. Die militärisch organisierte Opposition ist zersplittert in verschiedenste Gruppierungen: Es gibt säkulare Rebellen und islamistische Gruppen, die sich als selbsterklärte Freiheitskämpfer inzwischen gegenseitig attackieren. Daneben agieren nicht minder aggressiv örtliche Milizen, die versuchen, die unübersichtliche Situation des Bürgerkrieges für sich zu nutzen.

Das Regime um Präsident Assad und die daran gebundene ökonomische, politische und militärische Elite rekrutieren sich größtenteils aus der Gruppe der alawitischen Minderheit, zu welcher auch der Assad-Clan gehört, obwohl dessen Mitglieder nur 15 Prozent der Gesamtbevölkerung darstellen. Diese Unterstützung basiert einerseits auf einem seit über 40 Jahren existierenden System aus Patronage und Ethnisierung, andererseits auf einem kompromisslosen Vorgehen gegen Abweichler und Widersacher.

Auf dem geostrategischen Spielfeld versuchen außerdem die regionalen Nachbarstaaten – allen voran Iran, Saudi-Arabien und die Türkei –, aber auch die Großmächte USA und Russland auf die Entwicklungen Einfluss zu nehmen, um ihrerseits eigene Interessen zu sichern. Die Hisbollah aus dem Libanon und Iran unterstützen das Assad-Regime. Dazu kommt die Unterstützung Russlands durch Waffenlieferung und eine Blockadehaltung im UN-Sicherheitsrat. Russland werden vor allem eigene militärische Interessen in der Region nachgesagt, insbesondere profitable Waffenlieferungen an das Assad-Regime und der Fortbestand der einzigen russischen Militärbasis im Mittelmeer in Tartus. Allerdings ist zu erwähnen: Russland wie China sehen sich nach wie vor mit der Libyen-Resolution vom Westen getäuscht. Und beide wollen ein Aufweichen des Souveränitätsprinzips im Völkerrecht unbedingt vermeiden.

An der Seite der Oppositionellen stehen dagegen die Türkei und einige der Golfstaaten, insbesondere Saudi Arabien und Katar. Die USA, Frankreich und Großbritannien mischen ebenfalls auf dem Spielfeld mit und unterstützen ihrerseits unterschiedliche Gruppierungen innerhalb der Opposition.

Im Verständnis der Europäer stellt der Syrienkonflikt eine Bedrohung dar. Ein langfristig instabiles Syrien wird auch destabilisierende Wirkung über die Landesgrenzen hinaus entfalten. Das könnte zu einer direkten Bedrohung für Europa werden. So führt das Andauern der Kampfhandlungen zu anwachsenden Flüchtlingsströmen. Spätestens durch die vieldebattierte Flüchtlingsfrage sind die Ausläufer des Syrienkrieges daher nicht mehr nur an der Peripherie Europas, sondern auch hierzulande zu spüren.

Wegschauen macht mitschuldig: Die Bundesrepublik in der Pflicht

Angesichts dieser Tragödie sollte die Bundesrepublik endlich ihren Einfluss dazu nutzen, die Verhandlungen um die Chemiewaffen-Vernichtung in einen breiteren Dialog einzubetten, der über die technische und logistische Herausforderung der Abrüstung hinausgeht. Um das Leid der Millionen Syrer und Syrerinnen wirklich zu mindern, muss das erklärte Ziel jeglicher Verhandlungen in Genf ein sofortiger Waffenstillstand sowie Zugang zu humanitärer Hilfe sein.

Die Bundesregierung kann hier als Mittler zwischen Russland, China und den anderen Vetomächten des UN-Sicherheitsrates eine entscheidende Rolle einnehmen. Einerseits genießt Deutschland unter Russen und Chinesen hohes Ansehen als neutraler und unabhängiger Akteur, was nicht zuletzt der umstrittenen deutschen Enthaltung bei der Libyenresolution zu verdanken ist.

Assad selbst hat die Bundesregierung in einem Spiegel-Interview vom Oktober 2013 als Vermittler ins Gespräch gebracht. Obwohl der damalige Außenminister Westerwelle diese Forderung entschieden ablehnte, könnte das Regime eine deutsche diplomatische Initiative aufgrund von Assads Äußerungen kaum ablehnen.

Andererseits ist die Bundesrepublik traditionell eng an die wesentlichen westlichen Akteure wie Großbritannien, Frankreich und die USA gebunden. Darüber hinaus sind die Beziehungen Deutschlands zu den Golfkönigreichen und der Türkei, insbesondere durch die gesteigerte wirtschaftliche Kooperation in den Merkel-Jahren, deutlich intensiver geworden.

Die neue Große Koalition verfügt nach der Bundestagswahl über ein starkes Mandat. Zudem gibt es eine breite nicht-militärische Grundhaltung, sodass die Kanzlerin oder Außenminister Frank-Walter Steinmeier ohne wahltaktische Überlegungen mit mehr politischem Kapital agieren können.

Die Bundesrepublik ist daher in einer guten Position für eine Mittlerrolle zwischen den internationalen Akteuren. Allein aus humanitär-moralischen Gründen ist dabei ein stärkeres Engagement Berlins in Bezug auf den syrischen Bürgerkrieg überfällig. Ähnlich wie es mir persönlich im Umgang mit dem syrischen Bürgerkrieg ergangen ist, scheinen jedoch auch die deutschen Verantwortungsträger in eine Lethargie verfallen zu sein.

Wege aus der Syrienkrise

Stattdessen sollte sich die Bundesregierung – und allen voran Außenminister Steinmeier – dafür einsetzten, dass alle relevanten Akteure möglichst ohne Vorbedingungen in Genf über denkbare Auswege aus der Syrienkrise sprechen. Insbesondere die diplomatische Vorarbeit durch Gespräche mit zentralen Parteien auf den verschiedenen Seiten ist entscheidend für den Erfolg der Genf-2-Konferenz. So können die Erwartungen aller Beteiligten durch Vorgespräche und kleine Runden klar abgesteckt werden.

Das Ziel eines deutschen diplomatischen Engagements für die Syrienkrise im Hinblick auf Genf 2 muss ein umgehender Waffenstillstand sein. Dafür müssen geopolitische Interessenkonflikte zwar berücksichtigt werden, diese dürfen allerdings eine als Mittler auftretende Bundesrepublik nicht daran hindern, unvoreingenommen mit allen Parteien zu sprechen, um auf dieses Ziel hin zu wirken. Die Bundesregierung kann im Umgang mit problematischen, aber unentbehrlichen Akteuren wie dem Assad-Regime und deren Unterstützer in Iran, im Libanon und in Russland eine glaubwürdige Rolle als Mittler einnehmen.

Darauf fußend sollte das internationale Engagement auf eine nachhaltige Entmilitarisierung des Konfliktes durch Entwaffnungsinitiativen abzielen. Parallel zu den diplomatischen Bemühungen zur Konfliktdeeskalierung müssen zudem intensivere humanitäre Anstrengungen insbesondere im Hinblick auf die Flüchtlinge unternommen werden. Nur wenn die Lage in Syrien sich nachhaltig für die Bürger verbessert und gleichzeitig ein Arrangement gefunden und umgesetzt wird, um politische Macht zu teilen, kann der Bürgerkrieg beendet werden.

Im Blickfeld der folgenden Verhandlungen sollte daher eine Übergangsregierung stehen. Dass Assad in dieser eine Rolle spielt, scheint nahezu ausgeschlossen. Nichtsdestotrotz sollten die Verhandlungen auch eine Beteiligung gemäßigter Kräfte des Assad-Regimes ermöglichen, um eine inklusive politische Übergangslösung zu garantieren.

Es ist an der Zeit, endlich zu handeln – und zwar gerade auch gegen die bekanntermaßen zur Vorsicht neigenden Instinkte der Bundeskanzlerin. Die Bundesregierung sollte endlich die angemessene internationale Verantwortung wahrnehmen und ihre Position nutzen, um in Genf durch eine pragmatische und lösungsorientierte Außenpolitik das Fundament für einen politischen Friedensprozess zu legen. Einhundert Jahre nach Ausbruch des ersten Weltkrieges wäre dies auch eine symbolische Geste für die Verpflichtung und das Selbstverständnis Deutschlands auf der politischen Weltbühne.

Dieser Verpflichtung kann jeder nachgehen. Durch das Unterstützen von Verwandten oder Flüchtlingen und durch das Einfordern einer aktiveren Rolle der Bundesrepublik. Nicht wegsehen: Diese persönliche Erkenntnis kann man ebenso auf die internationale Politik übertragen. Die erste außenpolitische Bewährungsprobe für die Große Koalition ist auf den 22. Januar datiert, den Beginn der Syrien-Konferenz in Genf. Ob Deutschland sich wie bisher in der zweiten Reihe damit begnügt, die Ergebnisse der Konferenz zu kommentieren, oder eine aktive Rolle als Mittler einnimmt, bleibt abzuwarten.

 

Ilyas Saliba, in Hamburg geborener Deutsch-Syrer, arbeitet an seinem Promotionsvorhaben zur Stabilität autokratischer Regime während des Arabischen Frühlings am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

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