Heute vor 70 Jahren erlangte der Libanon seine staatliche Unabhängigkeit. Doch der ausländische Einfluss im Land hörte nie auf, im Gegenteil. Das Land ist nurmehr ein Spielball geopolitischer Interessen. Daran ist die besondere Geschichte des Landes schuld - und das Versagen der politischen und religiösen Elite.
Es ist nur eine Randnotiz, besonders in diesen Tagen, aber eine mit Symbolkraft: Zum 70. Unabhängigkeitstag ließ sich das libanesische Finanzministerium nicht lumpen und druckte einen neuen Geldschein. 50.000 neue 50.000-Pfund-Noten (eine davon entspricht knapp 25 Euro) mit dem französischen Schriftzug: „70 ans d’indépendance“, 70 Jahre Unabhängigkeit. Besonders für Sammler sollte das Stück attraktiv sein. Das ist gelungen, wenn auch ungewollt: Als die Scheine geliefert wurden, stand dort: „70 ans d’indépendence“ – die Unabhängigkeit hatte einen Tippfehler. Die Sammler freut’s, der Schaden ist gering, denn die Scheine sollen trotzdem in Umlauf gehen.
Die libanesische Unabhängigkeit ist auch 70 Jahre nach dem 22. November 1943 ähnlich fehlerbehaftet wie das Wort auf dem Geldschein. Nur mischen jetzt nicht mehr bloß die damalige Mandatsmacht Frankreich, sondern auch alle regionalen Akteure sowie Europa und die USA mit und lähmen die Politik seit Monaten, wenn nicht Jahren; das Land ist nach wie vor eins der „Schlachtfelder des Nahen Ostens“. Jüngstes trauriges Beispiel dafür ist der al-Qaida-Anschlag auf die iranische Botschaft in Beirut vom vergangenen Dienstag, bei dem 23 Menschen starben.
Der Libanon, sagte Reporterlegende Robert Fisk einmal, ist wie ein Rolls Royce mit viereckigen Rädern – es gibt vieles, das begeistert, aber er läuft nicht besonders rund. Dabei gelten zumindest aus heutiger Perspektive die ersten Jahre noch als die erfolgreichsten: Unter Dominanz der maronitischen Christen in Parlament und Regierung lebten die 18 anerkannten Religionsgemeinschaften im Land durchaus konstruktiv zusammen.
Wenn Minus und Minus nicht Plus ergibt
Entstanden war der moderne Libanon zu Beginn der 20er-Jahre aus den Trümmern des Osmanischen Reichs, auf die Initiative von Frankreich. Doch er hatte einen entscheidenden Geburtsfehler: Er war ein künstlicher Staat, dessen Bevölkerung sowohl in religiöser als auch nationaler Hinsicht keine gemeinsame Identität hatte. Um von Frankreich unabhängig zu werden, schlossen die großen religiösen Gemeinschaften im Jahr 1943 einen Kompromiss, der unter dem Namen „National Pact“ den Libanon bis heute prägt: Die Christen erkannten an, dass der Libanon ein arabisches und kein westliches Land ist, alle anderen erkannten an, dass der Libanon ein eigener Staat ist und nicht etwa Teil von „Groß-Syrien“. Aber Minus und Minusergibt in der Politik nicht immer Plus – zwei „nein“ ergaben kein „ja“.
Außerdem kam es zu einem noch größeren Fehler: Man begann beispielsweise, politische Ämter und Parlamentsmandate anhand von Konfessionen zu vergeben. Mit dem Versuch, alle gesellschaftlichen Gruppen an der Entscheidungsfindung zu beteiligen, zementierte der Staat die konfessionellen Unterschiede, statt sie zu überwinden. Für den Einzelnen war entscheidender, Maronit oder Sunnit zu sein als Libanese. Aus Furcht vor den anderen Gemeinschaften suchten und suchen die politischen Akteure immer wieder die Hilfe von außen – und das Ausland hilft viel zu gerne, aber eben nur der jeweiligen Konfession und den eigenen Interessen. So verlor das Land nach und nach seine politische Unabhängigkeit.
Durch das Prinzip der Konsensdemokratie, die vergleichsweise hohe politische und wirtschaftliche Stabilität, den dominierenden Bankensektor und die (mit Ausnahme des israelisch-arabischen Kriegs von 1948-49) außenpolitische Neutralität galt der Libanon als die mittlerweile sprichwörtliche „Schweiz des Nahen Ostens“. Allerdings zeichnete sich bereits mit der Suez-Krise im Jahr 1956 und der innerlibanesischen Krise im Jahr 1958 ab, dass das Experiment zum Scheitern verurteilt war. Zu unterschiedlich waren die Vorstellungen dessen, was „der Libanon“ eigentlich für die einzelnen Bürger sein sollte – Brücke zum Westen oder Teil der „arabischen Nation“.
Der Konfessionalismus erklärt im Bürgerkrieg seinen Bankrott – und überlebt
Als der Staat de facto die Bewaffnung der palästinensischen Flüchtlinge im Land akzeptierte, gab er auch noch sein Gewaltmonopol und damit seine militärische Unabhängigkeit auf; ein Zustand, der bis heute anhält. Erst gestern erklärte Präsident Michel Sleiman, der Libanon sei nicht unabhängig, da es neben der Armee weitere bewaffnete Kräfte gibt. Ihm geht es um die Hisbollah, die im Libanon nahezu grenzenlos schalten und walten kann, was sie in der Vergangenheit auch demonstriert hat, doch sie ist nicht das einzige Problem: Seit 1976 sind ausländische Truppen im Land stationiert – zunächst syrische, später auch israelische (1978 bis 2000) und mit der immer noch präsenten UNIFIL-Mission der Vereinten Nationen, an der auch die Bundeswehr beteiligt ist, internationale.
Mit dem Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 erklärte der Konfessionalismus endgültig seinen Bankrott: Hauptsächlich entlang konfessioneller Linien kämpften Libanesen 15 Jahre lang gegen Libanesen – und Palästinenser, Israelis, Syrer und die internationalen Truppen. Doch die Chance, danach die Konsequenzen zu ziehen und einen Neuanfang zu wagen, verstrich ungenutzt. Das auf entsetzliche Art gescheiterte Sektensystem wurde einmal kurz aufgehübscht und durfte weitermachen.
Im Abkommen von Taif von 1989 wurde zwar beschlossen, dass irgendwann in der Zukunft die Bevölkerung unabhängig von der Religion der Kandidaten abstimmt, doch bis dahin sollte provisorisch das religiöse Proporzsystem bestehen bleiben. Nichts hält bekanntlich länger als ein Provisorium. Die so entscheidende Debatte über ein Wahlgesetz nahm zum Teil groteske Züge an, bevor die politischen Eliten sie bis auf weiteres verschoben. Nicht einmal das Personal änderte sich: Kriegsverbrecherhelden wie Walid Joumblatt, Michel Aoun, Nabih Berri und Samir Geagea stehen heute noch großen Parteien vor, Berri ist sogar Parlamentspräsident. Am Ende wurde in Taif nur die politische Elite miteinander versöhnt, nicht aber die Bevölkerung. Selbst nach dem Krieg aufgewachsene Jugendliche in Beirut teilen die Stadt heute noch in „unser Gebiet“ und „deren Gebiet“ ein, je nach konfessioneller Zugehörigkeit.
Die Einmischung aus dem Ausland geht weiter
Im folgenden Wiederaufbau ging die ausländische Einmischung genauso weiter, wenn sie nicht sogar größer wurde. Nicht nur, dass das Land immer noch syrisch (und bis 2000 im Süden auch israelisch) besetzt war und die größte militärische Macht Hisbollah unter direktem Einfluss des Iran stand, auch wirtschaftlich nahmen allen voran die Golfstaaten, aber auch Europa und die USA den Libanon ins Visier. Aus diesen Regionen stammen beispielsweise die meisten Investoren von Solidere, der Gesellschaft, die mit dem Wiederaufbau Beiruts betraut wurde (und nebenbei eng mit der Politik, besonders dem Hariri-Clan, verstrickt ist). Dort lebt übrigens auch ein großer Teil der enormen libanesischen Diaspora: Geschätzte 12 Millionen Libanesen leben außerhalb der Landesgrenzen, also fast drei Mal so viele wie innerhalb. Man stelle sich vor, außerhalb von Deutschland lebten 240 Millionen Deutsche, die auf ihre Weise versuchen, die Geschicke in ihrem Heimatland zu beeinflussen.
Als am 14. März 2005 ein Viertel aller Libanesen auf dem Märtyrerplatz in Beirut erfolgreich den Abzug der syrischen Truppen forderten, waren sich viele westlichen Medien sicher: Mit dieser „Zedernrevolution“ holt sich der Libanon endlich seine Unabhängigkeit. Die Syrer sind weg, die Wunden des Bürgerkriegs verheilt (wobei fraglich ist, wie verheilen soll, was nie aufgearbeitet wurde) und das Land ist vereint im gemeinsamen Wunsch, Syrien loszuwerden. Genau hier lag der Denkfehler: Eine Woche zuvor, am 8. März, demonstrierten ebenfalls mehrere hunderttausend Libanesen für den Verbleib Syriens im Land. Nach diesem Monat war das Land so gespalten wie seit dem Bürgerkrieg nicht mehr.
Ein ständiger Unruheherd bleibt auch der Konflikt mit dem südlichen Nachbarn Israel, mit dem der Libanon seit 1948 offiziell im Kriegszustand ist. Auch wenn die Grenze momentan - von kleineren Zwischenfällen abgesehen - ruhig ist: Der Sommerkrieg zwischen Israel und Hizbollah von 2006, dem mehr als 1000 libanesische Zivilisten zum Opfer fielen, hat in der Bevölkerung Spuren hinterlassen. Auch heute noch verletzt Israel mehrmals täglich den libanesischen Luftraum, fliegt gelegentlich auch Vergeltungsschläge für aus dem Libanon abgeschossene Raketen. Lange sicherte sich die Hisbollah ihre Legitimität in der libanesischen Bevölkerung mit dem überzeichneten Bild als "einzige Kraft des Widerstands gegen Israel".
Es geht darum, den Totalschaden zu verhindern
Endgültig in einer Sackgasse angelangt ist der Libanon, seit der Krieg in Syrien schlimmer wird. Geschätzt eine Million Flüchtlinge sind mittlerweile aus dem großen Nachbarstaat herübergeschwappt – zusätzlich zu den 400.000 Palästinensern, die ohnehin schon im Land leben, ist das mehr, als ein 4-Millionen-Staat bewältigen kann. Dazu kämpfen sowohl Anhänger der Hisbollah als auch libanesische Salafisten im syrischen Bürgerkrieg mit. Vier große Anschläge in Beirut und Tripoli mit insgesamt knapp 100 Toten und zahllosen Verwundeten allein seit Juli, dazu die Gefechte in Saida im Juni sind Vorboten auf eine dramatische Zeit, wenn das Gemetzel in Syrien nicht bald zu Ende geht (wonach es nicht aussieht).
„Ich weiß nicht, ob diese Krise die Chance auf eine dauerhafte politische Lösung beschleunigt oder das Chaos verstärkt“, sagt Fadi Daou, Präsident der libanesischen Adyan-Stiftung, gegenüber Alsharq. Die Stiftung setzt sich dafür ein, durch Bildungsprogramme den Konfessionalismus zu überwinden und ein neues Gesellschaftsmodell zu etablieren. Daou fügt hinzu: „Immerhin bringt diese Krise vor allem viele junge Menschen dazu, kritischer über Politik nachzudenken und mehr Verantwortung zu übernehmen. Dies ist ein kleiner Hoffnungsschimmer, den ich sehe.“ Andererseits tragen sich auch immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene mit dem Gedanken, das Land zu verlassen, wenn sie es nicht schon getan haben.
70 Jahre nach seiner offiziellen Unabhängigkeit ist der Libanon ein Spielball von geopolitischen Interessen, politisch gelähmt und gesellschaftlich vor einer gigantischen Zerreißprobe. Die Räder des Rolls Royce sind immer noch viereckig, aber das ist das kleinste Problem – jetzt geht es darum, einen Totalschaden abzuwenden. Es kann gelingen, denn die Geschichte des Landes hat eines gezeigt: Dass es meistens irgendwie weiter ging. Einem Land, in dem falsch beschriebene Banknoten ein offizielles Zahlungsmittel sind, ist alles zuzutrauen.