18.11.2013
Mittendrin statt nur dabei! Die Arbeiterklasse in den ägyptischen Aufständen 2011 und 1919
Saad Zaghlouls Erbe ragt bis ins moderne Ägypten. Hier eine Statue des Vordenkers der 1919er-Revolution in Alexandria. Foto: Dan Lundberg / Flickr (CC BY-SA)
Saad Zaghlouls Erbe ragt bis ins moderne Ägypten. Hier eine Statue des Vordenkers der 1919er-Revolution in Alexandria. Foto: Dan Lundberg / Flickr (CC BY-SA)

Als die Menschen 2011 auf den Tahrir-Platz strömten, forderten sie das Ende der Mubarak-Despotie, aber auch „Brot, Freiheit und Würde“. Die Arbeiterbewegung spielte eine tragende Rolle, doch nun scheinen ihre Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit im Sande zu verlaufen. Wiederholt sich die Verdrängung des Sozialen aus der Revolution von 1919? Ein Gastbeitrag von Dominik Reich.

„Was für eine sonderbare Mischung von Leuten, die Unabhängigkeit fordern, und solchen, die nach Brot verlangen!“, beschrieb ein Ägypter 1919 sein Erstaunen über die Protestbewegung. Seine Beobachtungen wären 2011 kaum anders gewesen, als die Demonstranten einerseits den Sturz des Regimes und andererseits „Brot, Lohn und soziale Gerechtigkeit“ forderten. 1919 strömte die ägyptische Bevölkerung gegen das britische Kolonialregime und für ein unabhängiges Ägypten auf die Straßen, insbesondere die Arbeiter und Bauern jedoch auch für eine Verbesserung ihrer sozio-ökonomischen Lebenswirklichkeit. Rund 92 Jahre später erwehrte man sich eines autoritären Regimes – doch Forderungen nach Lohn und Brot sind im Kern die alten.

Obwohl ihre Beteiligung eine wichtige Rolle während der Revolution von 1919 spielte, sind ebendiese Forderungen der Arbeiterklasse in der modernen ägyptischen Geschichtsschreibung beinahe vollständig in Vergessenheit geraten. Aber dazu später mehr. Die Mobilisierung der Arbeiterklasse und deren Rolle 1919 und 2011 haben ähnliche Ursachen und damals wie heute stehen die Zeichen auf Sturm, dass die Arbeiterklasse der Früchte ihres Kampfes beraubt wird. So drängt sich ein Vergleich der Revolutionen auf.

Zaġlūls Verhaftung bringt das Fass zum Überlaufen

Nachdem mit Ende des Ersten Weltkriegs die Frage nach dem Nachkriegsstatus Ägyptens verstärkt in den Vordergrund der politischen Diskussion rückte, gipfelte der Machtkampf mit den britischen Kolonialherren am 8. März 1919 in der Festnahme Saʿd Zaġlūls und einiger seiner Mitstreiter. Der Begründer der nationalistischen Wafd-Partei und Vorkämpfer der ägyptischen Unabhängigkeit wurde nach Malta ins Exil verbannt.

Als das bekannt wurde, eskalierte die ohnehin angespannte Situation in Alexandria und Kairo. Binnen einer Woche weiteten sich die Proteste auf die ländlichen Regionen und Dörfer aus, obwohl sich die nationalistische Bewegung vor allem auf die urbanen Zentren konzentrierte. Es folgten zwei Monate der Demonstrationen und Streiks, begleitet von Plünderungen und Gewalt, die erst nach Freilassung Zaġlūls am 7. April langsam nachließen.

Politisierung durch Ausbeutung und Lebensmittelknappheit

Die schnelle Ausbreitung der Proteststimmung auf weite Teile der ägyptischen Gesellschaft hatte weniger politische als wirtschaftliche Ursachen. Die schlechte Situation weiter Teile der Bevölkerung, Ergebnis der britischen Herrschaft und der Kriegswirtschaft, führte vor allem zu einer Politisierung des ländlichen Raumes und der urbanen Arbeiterklasse. Bauern und Arbeiter litten unter der Inflation, den steigenden Lebenshaltungskosten und den Engpässen in der Lebensmittelversorgung. Auch die feudalen Gesellschaftsstrukturen blieben nicht unberührt. Die Ausbeutung der ägyptischen Wirtschaft als Zulieferer von Agrargütern (Baumwolle) vor allem durch die Briten führte zwangsläufig zu einem Konflikt zwischen Exportwirtschaft und traditioneller Bewirtschaftung des Landes, in der die Bauern für den eigenen Bedarf produzierten.

Aber damit nicht genug. Im Ersten Weltkrieg dienten Schätzungen zufolge zwischen 0.5 und 1.5 Millionen der etwa 3.2 Millionen männlichen Ägypter zumeist unfreiwillig in britischen Arbeitskorps. Tiere, Wagen und ähnliches wurden als Militärgüter ohne Kompensation konfisziert, die gesamte landwirtschaftliche Produktion ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der ägyptischen Bevölkerung auf den Bedarf des britischen Militärs ausgerichtet.

Angst vor Lebensmittelknappheit und Hunger grassierte unter den ärmeren Bevölkerungsschichten, als immer mehr Lebensmittel exportiert wurden und die hohe Inflation die Preise in die Höhe trieb. Der Wunsch nach Unabhängigkeit wuchs – auch nach ökonomischer. Diese war durch die unter Muhammed Ali einsetzende Modernisierung, Zentralisierung, Einbindung in kapitalistische Produktions- und Wirtschaftsprozesse des Weltmarktes sowie die Exportorientierung verloren gegangen.

Die Geburt eines Klassenbewusstseins

Bereits im Anfangsstadium der ägyptischen Revolution 1919 schloss sich eine kleine, aber wachsende urbane Arbeiterklasse über Streiks den Demonstrationen an. Die Arbeiter forderten vor allem bessere Arbeits- und Lebensbedingungen. Sie litten nicht nur ebenfalls unter den steigenden Lebenshaltungskosten, sondern auch unter den prekären Bedingungen in den Fabriken sowie der schlechten Behandlung durch die ausländischen Arbeitgeber. Diese waren zumeist Briten, sodass sich der Aufstand der Arbeiter naturgemäß gegen die britische Fremdherrschaft richtete. Für die urbanen Arbeiter war die Klassenteilung, die mit einer ethnischen Teilung am Arbeitsplatz einherging, Lebenswirklichkeit.

Ihre Rufe nach Unabhängigkeit waren der Ausdruck ihres Wunsches nach einem Ende der britischen Unterdrückung und damit implizit der Hoffnung auf verbesserte Lebens- und Arbeitsbedingungen und die Auflösung der Klassenteilung. Auch wenn sich ihre Forderungen nicht erfüllten, war das Bewusstsein einer eigenen Klasse geboren.

Sozio-ökonomische Forderungen fallen nationalistischen Eliten zum Opfer

Dass eine sozio-ökonomische Revolution ausblieb, ist dem fehlenden Willen der nationalistischen Bewegung zu ernsthaften umfassenden Veränderungen jenseits der politischen Forderung nach der Unabhängigkeit Ägyptens geschuldet. Sie gruben den revolutionären Dynamiken durch eine Zusammenarbeit mit den Briten zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung das Wasser ab. Unter den Nationalisten fanden sich auch vielfach ägyptische Großgrundbesitzer, die nicht daran interessiert waren, Besitzverhältnisse und Gesellschaftsstruktur zu ändern, sondern auf einen ägyptischen elitendominierten Kapitalsektor hinarbeiteten.

Dennoch verdankt die Nationalbewegung Arbeitern und Bauern viel. Die Demonstrationen hätten sich ohne deren Zutun wohl nach einigen Tagen erschöpf. Der Druck auf die Briten wäre ausgeblieben.

Die breite Bevölkerung ist dem Diktat neoliberaler Wirtschaftspolitik ausgeliefert

Die sozio-ökonomische Frage war auch bis zu Beginn der Unruhen 2011 nicht geklärt und drängte sich mehr auf denn je. In jenem Jahr lebten laut Weltbank mehr als 25% der Bevölkerung Ägyptens unter der nationalen Armutsgrenze, betroffen davon vor allem die Landbevölkerung aus Bauern und Arbeitern. Die Kluft zwischen Arm und Reich hatte ungekannte Ausmaße erreicht, Arbeitslosigkeit und Inflation regierten das Land. Kurz gesagt: Die meisten Ägypter lebten am Rande des Existenzminimums.

Schuld an dieser Misere war auch die neoliberale Wirtschaftspolitik und Selbstbereicherung korrupter Eliten. Mit der Öffnungspolitik (ʾInfitāḥ) unter Sadat ab 1974 begann Ägypten mit der wirtschaftlichen Liberalisierung und Privatisierung, die in Kürzungen öffentlicher Ausgaben und den Brotunruhen von 1977 mündeten.

In den 90ern folgten schließlich nach einem Fast-Zusammenbruch der ägyptischen Wirtschaft die von Internationalem Währungsfond und der Weltbank diktierten Strukturanpassungsmaßnahmen. Also das volle Programm: Privatisierung von Staatsunternehmen, Freigabe des Wechselkurses, Deregulierung und Subventionsabbau. Diese führten zu einer massiven Teuerung der Lebenshaltungskosten, Inflation und wachsender Arbeitslosigkeit bei gleichzeitigem Anstieg der Produktionskosten, stagnierenden Löhnen und der Vereinfachung von Kündigungen.

Während einkommensschwache Schichten und Arbeiter zu Opfern der Liberalisierung, Deregulierung und Misswirtschaft wurden, bereicherte sich eine kleine Gruppe von Großunternehmern mit besten Beziehungen zum Mubarak-Regime, indem sie das Tempo der Privatisierung ab 2004 erhöhten und staatlichen Unternehmen weit unter Wert einkauften. Die wirtschaftliche Vormachtstellung dieser Unternehmerelite war, neben der des Militärs, 2011 so groß, dass Schätzungen einer Studie der SWP von Stephan Roll zufolge, Ende 2010 rund 21 Familien Nettovermögenswerte von jeweils über 100 Millionen US-Dollar besaßen und elf Familienunternehmen 30 Prozent der Kapitalisierung an der ägyptischen Börse kontrollierten.

Die Arbeiterbewegung zwischen Brotunruhen und Mindestlohn

In der ägyptischen Geschichte des 20. Jahrhunderts spielte die Arbeiterklasse, nachdem das Bewusstsein ihrer selbst erwacht war, immer wieder eine mobilisierende Rolle und brachte mit Streiks und Kampagnen die Notwendigkeit sozio-ökonomischer Veränderungen in die Öffentlichkeit ein. Die Arbeiter waren an den Brotunruhen der 70er Jahre beteiligt und waren auch in den 90ern Jahren mit zahlreichen Aktionen gegen die Auswirkungen der Strukturanpassungsprogramme aktiv.

In gleichem Atemzug mit der beschleunigten Privatisierung seit 2004 nahmen auch die Arbeiteraktivitäten zu, die sich zu den größten Arbeiterprotesten der ägyptischen Geschichte entwickelten. 2006 besetzten Arbeiter im Nildelta in Mahalla al-Kubra, dem Zentrum der ägyptischen Textilindustrie, eine Fabrik und streikten aus Protest gegen Lohnsenkungen und für unabhängige Gewerkschaften.

Die Arbeiterbewegung gewann zunehmend an Dynamik und organisierte sich überregional, sodass sich Streiks und Proteste nach und nach über das gesamte Land ausbreiteten. Mehr und mehr machten auch Arbeiter und Angestellte aus der Provinz mit Sitzstreiks vor dem Kairoer Parlament auf ihre Lage aufmerksam. Unabhängige Gewerkschaften wurden gegründet und Forderungen wie die nach einem Mindestlohn, einer Bindung der Löhne an das Preisniveau und einer Rücknahme der Privatisierung erreichten eine nationale Dimension. Die Forderungen blieben in der Ägide Mubarak jedoch weitestgehend unerfüllt, die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung besserte sich kaum.

Mitte der 2000er mobilisiert die organisierte Arbeiterschaft Tausende

So waren die Arbeiter auch bei den Protesten 2011 auf dem Tahrir-Platz vertreten und trugen wie bereits 1919 maßgeblich mit zur Mobilisierung der Bevölkerung bei. Gerade die gezielten Streiks der Arbeiterbewegung, die über jahrzehntelange Erfahrung im Arbeitskampf verfügte, kurz vor Rücktritt Mubaraks, hielten den Druck auf das Regime aufrecht.

Denn nicht zuletzt legten die Streikwellen der Arbeiterklasse die strategische Infrastruktur von der Metro bis zum Krankenhaus lahm und konnten damit ein weithin sichtbares und im Alltagsleben der Ägypter spürbares Zeichen setzen und zusätzliche Demonstranten mobilisieren. Wie wichtig diese Phase für die Arbeiter war, zeigt die Gründung eines Dachverbandes der unabhängigen Gewerkschaften – der Egyptian Federation of Independant Trade Unisons (EFTU), der eine ernste Konkurrenz zum staatlichen Gewerkschaftsverband darstellt.

Bereits kurz nach dem Rücktritt Mubaraks versuchte das Militär mit einem rigiden Anti-Streik-Gesetz der Arbeiterbewegung Herr zu werden. Diese schien damit nicht nur vom Regime, sondern auch dem Militär als ernsthafte Bedrohung wahrgenommen zu werden.

Ohne Lobby auf verlorenem Posten

Ungehindert dessen kommt es auch mehr als zweieinhalb Jahre nach der Revolution zu regelmäßigen Streiks und Sitzprotesten der Arbeiterschaft. Denn an der wirtschaftlichen Lage der meisten Ägypter hat sich nach wie vor nichts verbessert. Es gelang bisher nicht, die soziale Ungerechtigkeit, die hohe Inflation (etwa 10 Prozent) oder die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Der Internationale Währungsfond bietet nun seine Kredite an, um die ägyptische Wirtschaft, die seit den Umbrüchen vor allem von den Golfstaaten gestützt wird, zu unterstützen. Noch steht die Neuaufnahme der Verhandlungen nach dem Sturz Mursis aus, weiß das Militär doch, das die Kreditvergabe immer mit massiven Einschneidungen bei Sozialausgaben und Subventionen verbunden ist. Kürzungen zu diesem Zeitpunkt mögen aus neoliberaler Perspektive nötig sein, werden aber die Ärmsten zuerst treffen.

Kaum eine der Forderungen der Arbeiter und Gewerkschaften konnte bis jetzt durchgesetzt werden. Die Gründe dafür sind vielfältig. So fand die unabhängige Arbeiterbewegung unter den post-revolutionären politischen Kräften kaum Rückhalt und eine entsprechende Interessensvertretung. Wohl, weil unter den politischen Kräften selbst Großunternehmer und wirtschaftliche Eliten waren, die sich bedroht sahen, aber auch, weil keine kaum eine politische Kraft eine wirkliche Vision für die wirtschaftliche Zukunft des Landes hat. Es drängt sich die Frage auf, ob der Wille zu wirklichen Veränderungen überhaupt da war oder dem Gerangel diverser Eliten um politischen Macht und dem konterrevolutionären Militär, dem bestimmenden Faktor im System, zum Opfer viel?

Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder

Es scheint fast, als ob sich Geschichte wiederholt. Haben diverse politische Gruppierungen erst einmal ihr Ziel erreicht, werden die Arbeiterklasse und ihre Forderungen nach sozio-ökonomischen Veränderungen vergessen oder einfach ignoriert. Bei beiden Revolutionen spielte die Arbeiterklasse eine entscheidende Rolle bei der Mobilisierung und trugen mit ihren Protesten und Streikaktionen zum Ausgang der Ereignisse bei, gerieten jedoch in der postrevolutionären Phase mit der Erfüllung ihrer Forderungen ins Hintertreffen.

Die Nationalisten um die Wafd-Partei schrieben Geschichte und verpassten der Revolution von 1919 das bis heute gültige Etikett „nationalistisch“. Die bestehende sozio-ökonomische Ordnung über Bord zu werfen – und den Kapitalismus gleich hinterher – war für die politischen Eliten eher Schreckgespenst als Programm.

Auch im post-revolutionären Ägypten des 21. Jahrhunderts hat sich die Lage nicht verbessert. Die ökonomische Macht konzentriert sich in den Händen einiger weniger aus der Mubarak-Zeit und die wirtschaftliche Misere der vielen in Armut lebenden Ägypter hält an. Die Arbeiterbewegung scheint auch unter den neuen politischen Kräften in Ägypten keine Freunde zu haben, die deren Forderungen vertreten.

Ob es wohl Ironie des Schicksals war, dass die Demonstrierenden 2011, darunter auch Tausende von Arbeitern, unter den Augen einer 16 Meter hohen Statue Zaġlūls über die Nilbrücke zum Tahrir-Platz zogen? Er vergaß die Rufe der Arbeiter und Bauern nach tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen ebenso, wie die politischen Kräfte 2011. Wie die neue Regierung nach Mursi die Armut bekämpfen und mit Fragen der Sozialpolitik umgehen wird, ist bislang kaum abzusehen. Die Menschen aber brauchen Wandel, und dass sie die Macht haben, das System zumindest immer wieder zu erschüttern, das haben sie in den letzten drei Jahren wohl bewiesen.

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